bevor Gregor sein Befremden über die unlogische Frage zum Ausdruck bringen konnte, setzte sie sofort nach: »Entschuldige, blöde Frage, ich müsste ja wissen, dass dir sowas nichts ausmacht.«
Dennoch ereilte sie die Quittung für ihr eigentlich normales Verhalten sofort.
»Wieso entschuldigst du dich für die Frage? Ich hätte sie dir auch einfach mit JA beantwortet. Natürlich bin ich mir sicher, dass ich das sehen will. Ich muss so viel wie möglich über Zeitpunkt der Verletzung, Entstehungsweise, mögliche Werkzeuge und die unmittelbaren Folgen erfahren, wie ich kann, damit ich daraus ableitbare Rückschlüsse auf einen möglichen Täter ziehen kann.«
Selbst nach über einem Jahr Dauer ihrer Partnerschaft konnte Sonja sich einfach nicht daran gewöhnen, mit Gregor anders zu reden, als mit jedem anderen Menschen, den sie kannte. Die üblichen Floskeln, Redewendungen, rhetorischen Fragen und unnötige – weil unlogische – Erläuterungen waren einfach so tief verwurzelt, dass sie immer wieder vergaß, sie bei Unterhaltungen mit Gregor einfach wegzulassen.
»Okay«, wechselte sie das Thema, »kümmern wir uns um die Leiche und was ich dir bisher dazu sagen kann.« Sie zog das über dem Körper liegende Tuch mit einem Ruck beiseite und gewährte dadurch Gregor den vollständigen Blick auf den Toten. Der Körper war nun entkleidet, und Sonja hatte ihn bereits gewaschen. Dadurch waren die Verletzungen überdeutlich zu sehen und nicht mehr durch Blutreste überdeckt. Es war kein schöner Anblick und Sonja bemerkte, dass sogar Gregor ein wenig überrascht war, aber vermutlich mehr von der Grausamkeit der Verstümmelung, als von der speziellen Region, in der sie stattgefunden hatte. Der Blick wurde automatisch auf den inzwischen gesäuberten Genitalbereich gelenkt, den man allerdings nicht mehr als solchen bezeichnen konnte. Als sie sah, dass Gregor die Region nun aufmerksam und mit zusammengezogenen Brauen betrachtet, begann sie automatisch mit ihren Erläuterungen.
»Ich kann jetzt schon sagen, dass die Verletzung durch ein sehr scharfes Schneidwerkzeug herbeigeführt wurde, allerdings absolut unfachmännisch. Wie man an den Schnittkanten erkennen kann, wurde mit einem längeren Messer oberhalb des Schambeins eingestochen und dann ...«, sie überlegte einen Moment, »... ich würde es mal umgangssprachlich als ›rumgesäbelt‹ bezeichnen wollen. Der Täter oder die Täterin hat danach im Uhrzeigersinn um den Penis und den Hodensack herumgeschnitten.« Sie suchte nach einem passenden Vergleich. »Man könnte es mit dem trichterförmigen Herausschneiden eines Geschwürs vergleichen. Es ist auf jeden Fall eine sehr ungewöhnliche Art der Entmannung, die ich so auch in der Literatur noch nie gesehen habe.«
Gregor hatte den Blick von der Wunde, die einem Loch im Unterkörper glich, abgewandt und sah sie fragend an. »War diese Verletzung die Todesursache?«
Sonja zögerte einen Moment, bevor sie antwortete. »Er ist auf jeden Fall verblutet. Wenn dir das als Todesursache reicht, kann ich es sicher bestätigen. Dabei muss man aber Folgendes beachten: Ersten - zum Verbluten hätte auch alleine die Abtrennung des Penis bei nicht stattfindender Versorgung der Wunde gereicht. Es hätte etwas länger gedauert, aber er wäre ebenfalls auf jeden Fall verblutet. Zweitens - beim Heraustrennen des gesamten Genitalbereichs wurde zusätzlich die ›arteria femoralis‹, also die Oberschenkelarterie verletzt, wobei man nicht feststellen kann, ob das durch Zufall oder absichtlich geschah. Das hat zu einer wesentlich stärkeren Blutung geführt, die das Verbluten so stark beschleunigt hat, dass er nach meiner Schätzung eine Minute nach dieser Verletzung tot war.«
»Wie viel Liter Blut muss man verlieren, bis der Tod eintritt, oder besser gefragt, wie schnell verblutet man?«
»Nun, das ist unterschiedlich und hängt von zahlreichen Faktoren ab. Lass mich ein wenig ausholen. Der Mensch verfügt über 70 - 80 Milliliter Blut pro Kilogramm Körpergewicht. Unser Opfer war kein Leichtgewicht, sondern wog bei einer Körpergröße von einem Meter und achtzig über 105 Kilogramm. Also dürfte er über etwa siebeneinhalb Liter verfügt haben, grob gerechnet. Ab einem Blutverlust von mehr als zwei Litern müsste eine Bewusstlosigkeit eintreten. Das menschliche Herz pumpt im Ruhezustand vier bis fünf Liter pro Minute, was bedeutet, dass er bei dieser Art der Verletzung nach spätestens dreißig Sekunden bewusstlos hätte sein müssen.«
»Mit Ruhezustand meinst du einen normalen Puls?«, stellte Gregor die naheliegende Zwischenfrage.
»Ja genau«, bestätigte Sonja, »und bevor du fragst, bei sportlichen Höchstleistungen oder großer Aufregung und dadurch erhöhtem Puls, kann sich dieser Wert natürlich vervielfachen. Dabei sind wir aber direkt beim nächsten Faktor, den ich derzeit noch gar nicht bewerten kann. Die toxikologische Untersuchung dauert noch an, weshalb noch nicht klar ist, ob der Mann sediert, gänzlich narkotisiert, oder aus anderen Gründen bewusstlos war, als ihm die Verletzungen zugefügt wurden. Davon ist aber abhängig, wie schnell das Herz zu diesem Zeitpunkt schlug, und davon, ...«
»... wie schnell das Blut durch den Kreislauf gepumpt wurde«, ergänzte Gregor ihre Ausführungen und nickte dabei. »Ich verstehe.« Er überlegte einen Moment. »Aber wir können auf jeden Fall davon ausgehen, dass er innerhalb längstens einer halben Minute tot war, unter bestimmten Umständen vielleicht noch früher. Aber das spielt eigentlich nicht die entscheidende Rolle. Ein anderer Punkt interessiert mich noch: Du hast erwähnt, dass es sich nach deinem Kenntnisstand um eine eher ungewöhnliche Art der Entmannung handelt. Wie sähe denn die gewöhnliche Art aus?«
Sonja atmete schwer ein und aus. Sie musste sich selbst gegenüber eingestehen, dass es sich hier um ein Thema handelte, über das sie eher ungern referierte.
Aber wenigstens müssen wir nicht beim Abendessen darüber sprechen, dachte sie erleichtert.
Sie war als Rechtsmedizinerin schon einiges gewöhnt und grundsätzlich nicht leicht zu beeindrucken. Aber dieses spezielle Thema mit einem Mann - nein, ausgerechnet mit ihrem Mann zu besprechen, machte sie dann doch ein wenig befangen. Erst als sie sich in Erinnerung rief, dass Gregor an dem Thema weder etwas Anzügliches noch Befremdliches finden konnte, da er alle ihre Äußerung mit fast kalter Logik und ohne jegliche Hintergedanken betrachten würde, fiel es ihr leichter, darüber zu reden. »Es gibt verschiedene Arten der Entmannung oder auch Kastration. Zum einen das Entfernen der Hoden, dann das Entfernen des Penis und letztendlich beides zusammen. Wird das als Verstümmelung von einem Laien und nicht aus medizinischen Gründen von einem Arzt durchgeführt, wäre die normale - wenn man so was überhaupt als normal bezeichnen kann - Methode, dass man das zu entfernende Teil vom Körper wegzieht und dann mit einem scharfen Werkzeug von unten nach oben oder umgekehrt abschneidet.«
Die meisten Männer hätten an dieser Stelle ihrer Ausführungen wohl ein schmerzverzerrtes Gesicht gemacht. Sie hätten sich zusammengekrümmt, und alleine die Vorstellung, ihr bestes Teil auf eine so schreckliche Weise zu verlieren, hätten ihnen den Schweiß auf die Stirn getrieben. Gregor hingegen dachte völlig anders. Er schien eine Weile völlig entrückt in sich hineinzuhorchen, bis er schließlich feststellte: »Es könnte also durchaus eine Möglichkeit sein, dass der Täter oder die Täterin den Penis unseres Opfers nicht berühren wollte.«
Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Allerdings eine, die Sonja so nicht in den Sinn gekommen wäre. »Ja, tatsächlich, das könnte diese seltsame Art der Herbeiführung der Verletzung erklären.«
»Was kannst du mir sonst noch an Informationen liefern, solange der toxikologische Befund noch nicht vorliegt?«
»Nun ja, wie man’s nimmt. Es gibt da noch etwas, was dir aber sicherlich selbst schon beim Studium der Tatortfotos aufgefallen sein dürfte.«
»Was meinst du?« Gregor wusste offenbar noch nicht, worauf sie hinauswollte.
»Die Art, wie er an die Kanzel genagelt wurde. Dir ist doch sicherlich aufgefallen, dass sie nicht der üblichen Darstellung von Jesus am Kreuz entspricht, oder?«
Gregor hatte die Stirn gerunzelt. »Selbstverständlich, aber ich verstehe immer noch nicht, worauf du hinauswillst.«
Sonja vermutete, dass ihre Feststellungen am Leichnam für Gregor so selbstverständlich und logisch waren, dass er ihre Bedeutung nicht erfassen konnte.
»Du hast es vermutlich schon am Tatort gesehen, aber als ich ankam, war der Leichnam