der aggressive Aufrührer nicht gerechnet, denn er sah Gregor verdattert an und erwiderte in normaler Lautstärke: »Äh ... Gmünder ... Rudolf Gmünder ... ich bin de Vorsitzende vom Pfarrgemeinderat.«
Seine kurzfristige Verwirrung, die ihn etwas von seinem hohen Ross heruntergeholt hatte, verschwand so schnell, wie sie gekommen war. Sofort fand er wieder zu seiner cholerischen Art zurück. »Un wer sin Sie, wenn ich fraache derf?«
»Gregor Mandelbaum, Leiter der Mordkommission Frankfurt, angenehm.« Er streckte Gmünder die rechte Hand entgegen, die dieser aber geflissentlich übersah.
»Ich will jetzt sofot wisse, was hier los is! Ei, im Ort erzähle die sich ja die dollste Dinger.«
»Nun, als Vorsitzender des Pfarrgemeinderates haben Sie sicher das Recht zu erfahren, was hier passiert ist. Pfarrer Dr. Bock wurde ermordet. Zumindest liegt der Schluss nahe, da er sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht selbst an die Kanzel genagelt hat.«
Gmünder sah ihn mit aufgerissenen Augen und offenem Mund an. »Äh ... wie ... genachelt?«
Da Gregor seine Reaktion auf das Bild sehen wollte, packte er seinen Notepad aus der Tasche, rief die Tatortfotos auf und suchte eine Aufnahme heraus, auf der Pfarrer Bock noch mit der blutdurchtränkten Soutane an der Kanzel hing. Wortlos hielt er dem Fragesteller das Bild vor die Nase.
Der kniff die Augen zusammen und besah sich die Aufnahme aus nächster Nähe, sehr ruhig und ganz genau.
Ein von Gmünder selbst vermutlich nicht bemerktes Zucken des Mundwinkels, eine hochgezogene Augenbraue und die kurz gekräuselte Oberlippe verrieten Gregor die in diesem Moment in dem Mann vorherrschenden Emotionen: Verachtung, Schadenfreude und eine Portion Zufriedenheit.
»Aha, Sie haben ihn also nicht besonders gemocht«, stellte Gregor sachlich fest.
Gmünder sah ihn fassungslos an. »Wie bitte?«, brauste er auf, »Ei natürlich hab ich de Herr Pfarrer gemocht. Der war doch übberall beliebt.«
Auch ein weniger geübter Leser von Mimik hätte die offensichtliche Lüge erkannt, aber Gregor ließ die Aussage zunächst so stehen.
»Könnten Sie sich vorstellen, wer ihm so etwas hätte antun wollen?«
»Nee, nee, off keine Fall. Also ... mir sin eine sehr friedliche und zufriedene Gemeinde, gell.«
Gregor sah ihm überdeutlich an, dass er im Geist gerade die wohl umfangreiche Liste der Verdächtigen durchging. Und als wollte er seine Behauptung in seinem letzten Satz direkt Lügen strafen, ergänzte Gmünder ungefragt: »Da werd sich de Engel abber freue. Da isser ja dann fein raus.«
»Darf ich fragen, wie Sie das meinen?«
Gmünder tat, als müsse er sich überwinden weiter zu erzählen, obwohl ihm die Befriedigung deutlich im Gesicht stand. »Ja nu ... wisse Se ... de Engel, also, der wo unsere Küster is, der hat sich letzt Woch schwer mitem Pfarrer in die Haar gekrischt. De Herr Pfarrer hat en im Verdacht gehabt, dasser in die Kollekte gelangt hat, wenn Se wisse was ich mein.«
Gregor wusste, was er meinte. Ihm war inzwischen bekannt, dass es sich bei der Kollekte um das während der Messe gesammelte Geld der Besucher handelte.
Gmünder beugte sich näher an Gregor heran, als wolle er ihm etwas Geheimes berichten, das niemand mithören sollte. »Also wisse Se, mer soll ja nix Schlechtes über die Leut rede und über Dode schon grad garnet, aber die beide ... die habe sich bald gekloppt, so is de Herr Pfarrer ausgerast.«
Er nickte bedeutungsschwer mit dem Kopf, als wolle er seine Aussage untermauern. »Also ich würd sowas ja niemand zutraue, aber der Engel ... na ja ... des is schon keine Gude.«
Gregor hatte für den Moment genug gehört. »Vielen Dank Herr Gmünder, ich werde das in unseren Ermittlungen beachten. Sollten wir noch Fragen haben, werden wir auf Sie zukommen.«
Mit diesen Worten drehte er sich um und ließ den verdutzten Mann einfach stehen. Was er gerade gehört hatte, passte so gar nicht mit dem zusammen, was er in der letzten Stunde über den katholischen Glauben gelesen hatte: Vergebung, Mitgefühl, Menschlichkeit, Verständnis. Er fragte sich, wie das mit der Funktion eines Vorsitzenden des Pfarrgemeinderates zusammenpasste.
Selbstverständlich war der grundsätzliche Inhalt der Beschuldigung gegen den Küster etwas, was man weiter betrachten musste. Er musste auf jeden Fall mehr über die beteiligten Personen erfahren. Ihre Vorgeschichte, ihre Verhältnisse und die zwischenmenschlichen Beziehungen, die er immer so schwer verstehen konnte. Aber wie immer würde sein Team ihn dabei unterstützen.
Kapitel 5
Als sich die Tür zum Sektionssaal II des rechtsmedizinischen Instituts der Uni Frankfurt mit einem leisen Zischen öffnete, fuhr Sonja erschrocken auf und drehte sich hastig um.
Seit den Ereignissen im vergangenen Winter, als sich ihr Chef, Professor Bücking, als sehr, sehr kranker Mann herausgestellt hatte, der mehrere unschuldige Frauen getötet hatte, war es ihr noch nicht gelungen, wieder zu ihrem alten, selbstsicheren Ich zurückzufinden. Sie war entführt worden und hatte einen schweren Autounfall mit einigen Verletzungen überlebt. Die Knochenbrüche waren inzwischen ohne Spuren verheilt, aber ihre Selbstsicherheit und ihr unerschütterlicher Optimismus waren noch nicht vollständig wiederhergestellt.
Ihre Verkrampfung löste sich schnell, als sie die unverkennbare Gestalt von Gregor in der Tür sah. Erst jetzt merkte sie, dass sie unwillkürlich die Luft angehalten hatte, die sie nun mit einem erleichterten Stoß wieder ausatmete.
Gregor näherte sich ihr mit elastischen, federnden Schritten. Trotz seiner Körpergröße von 1,90 und seiner hageren Gestalt, hatte er die Beweglichkeit eines trainierten Sportlers. Noch immer hatte er einen Hang zu dunklen Kleidungsstücken, die er aber inzwischen mit weißen Hemden und, wenn erforderlich, dezent gestreiften Krawatten kombinierte, was eine wesentliche Verbesserung zu früher darstellte, als sie ihn kennengelernt hatte. Zu dieser Zeit, vor nun mehr als anderthalb Jahren, hatte er ausschließlich schwarze Klamotten getragen, was ihm im Zusammenhang mit seiner Gestalt den Spitznamen ›der Bestatter‹ eingetragen hatte. Dass er inzwischen meist nur noch ein schwarzes Kleidungsstück trug, dies aber kombiniert mit etwas anderem, farbenfroherem, war überwiegend ihr Verdienst.
Gregor hatte seine Arme um ihre Taille geschlungen und sie kurz an sich gedrückt. »Hallo Schatz, wie geht es dir?«
Selbstverständlich hatte er ihr das kurzfristige Unwohlsein und die nun verblassende Unsicherheit angesehen, und natürlich auch die Erleichterung, dass er es war, der so überraschend in den Raum gekommen war. Sonja wusste, dass er in ihrer Mimik und Körpersprache lesen konnte, wie in einem offenen Buch.
Sie brauchte vor ihm keine Geheimnisse zu haben, er las ihr sowieso jede Emotion direkt vom Gesicht ab. »Ich erschrecke immer noch, wenn sich überraschend die Tür zum Sektionsraum öffnet. Aber ich meine, es wird langsam ein wenig besser.«
Gregor kommentierte dies nicht, denn Allgemeinplätze wie »das wird schon wieder« oder »die Zeit heilt alle Wunden«, waren von ihm nicht zu erwarten. Stattdessen lenkte er das Thema auf den Grund seines Besuchs. »Hast du schon mit der Obduktion unseres Opfers begonnen?«
»Ja, aber ich habe erst die äußere Leichenschau vorgenommen und die erforderlichen Fotografien erstellt. Ich wollte jetzt mit der genaueren Untersuchung der Wunden beginnen.«
Gut. Dann bin ich ja zur richtigen Zeit gekommen.«
Sonja sah ihn fragend an. »Bist du sicher, dass du dir das antun willst? Die Verletzungen sind wirklich grauenhaft.«
Sie bemerkte noch im gleichen Augenblick, was für eine dumme Frage das war. Gregor war aufgrund seiner Prädisposition niemand, den eine grauenerregende Verletzung in irgendeiner Weise abschrecken konnte. Er empfand weder Ekel noch Abscheu. Jeder normale Mann hätte angesichts der Verletzung die Vorstellung durchlebt, wie das wohl wäre, wenn ihm selbst so etwas passierte.
Gregor hingegen würde sich die rein logischen Konsequenzen überlegen,