der Leiche.
»Was hast du vor?«, fragte Nummer eins nach Beendigung seines Telefonats.
»Ich will doch mal sehen, was das für eine Verletzung ist, woraus der arme Herr Pfarrer«, er warf einen kurzen Seitenblick auf Friedrich Engel, »so stark geblutet hat.«
Das wiederum interessierte den Küster allerdings auch, was ihn veranlasste, noch ein wenig näher heranzutreten, während der Sanitäter den unteren Rand der blutdurchtränkten Soutane anfasste.
»Pass nur auf, oder die Heinis von der Kripo lynchen dich, weil du einen Tatort versaut hast«, rief sein Kollege.
»Ja, ja ... ich pass schon auf.« Vorsichtig und darauf bedacht, nicht in die Blutlache zu treten, zog er das blutdurchtränkte Kleidungsstück zu sich heran und hob es langsam hoch. Das Erste, was sichtbar wurde, waren die nackten Füße des Pfarrers, die vollkommen rotgefärbt vom Blut waren.
Wieso hat er denn keine Schuhe an?, fragte sich Engel und sah mit Erschrecken, als der Sanitäter die Kleidung noch höher hielt, dass Pfarrer Bock auch keine Hose anhatte. Er konnte nun die rot gefärbten Beine bis kurz übers Knie sehen. Der Sanitäter hob weiter an und beugte sich ein wenig nach vorne, um leichter unter die Soutane schauen zu können.
Im nächsten Moment ließ er mit einem erschrockenen »Ach du heilige Scheiße!« den Saum los und machte einen Satz rückwärts weg von der Leiche.
»Was ist los?«, fragte sein Kollege neugierig. »Was hast du entdeckt?«
Der neugierige Sanitäter atmete mehrfach stoßartig ein und aus und Engel war nun wirklich gespannt, was er berichten würde.
»Dem haben sie ... der hat keinen ... äh«, sein Blick fiel auf Engel, der aufmerksam lauschend direkt neben seinem Kollegen stand. »Ach was ... das möchtest du wirklich nicht wissen ... und Sie schon gar nicht!«, fuhr er den Küster an. »Sehen Sie zu, dass sie hier rauskommen, und warten Sie draußen auf die Polizei. Die werden sich noch mehr mit Ihnen beschäftigen als Ihnen lieb ist. Und bis dahin seien Sie froh, wenn Sie nichts wissen.«
Das regte den Widerspruchsgeist in Engel an. Er war zeit seines nun einundsechzig Jahre währenden Lebens nicht der Typ gewesen, der sich von irgendjemandem Vorschriften hatte machen lassen. Erst recht nicht, wenn er der Meinung war, Anspruch auf etwas zu haben. Inzwischen hatte er sich auch von seinem ersten Schreck soweit erholt, dass er wieder zu seinem streitbaren Selbst gefunden hatte.
»Na hören Sie mal«, protestierte er, »ich hab ihn schließlich gefunden, da kann ich ja wohl verlangen ...«
Noch während er sprach, hatte er sich langsam der Pfütze genähert und nun ebenfalls an den Rocksaum der Soutane gefasst. Er zog ihn schnell nach oben und warf einen Blick darunter.
Als er drei Minuten später auch den letzten Rest seines ausgiebigen Frühstücks hinter die erste Bankreihe erbrochen hatte, klopfte ihm einer der Sanitäter leicht auf den Rücken. »Sehen Sie, das haben Sie davon. Die Kripo wird hellauf begeistert sein, dass sie hierhin gekotzt und damit den Tatort verunreinigt haben. Herzlichen Glückwunsch.«
Das war allerdings Friedrich Engels kleinstes Problem. Er machte sich keine Gedanken, was die Polizei dazu sagen würde, dass er so neugierig gewesen war. Sein ganzes Denken kreiste nur um die Frage, ob er den schrecklichen Anblick dieses Lochs, an dem sich sicherlich einmal die Genitalien seine Chefs befunden hatten, jemals wieder würde vergessen können oder er nun sein restliches Leben lang von Albträumen geplagt werden würde.
Tag 1 (Montag) - Kapitel 1
So hatte Klaus Braake seinen Chef bisher noch nie gesehen. Gregor Mandelbaum, der Leiter der Mordkommission II des Polizeipräsidiums Frankfurt am Main, wirkte so unsicher und verstört, dass er sich nicht erklären konnte, was dafür die Ursache sein könnte.
Der einundvierzigjährige Computerspezialist der Mordkommission, war sich unschlüssig, wie er sich diesbezüglich verhalten sollte. Er blickte sich in dem weiten Rund der Kirche um, die inzwischen von hektischer Betriebsamkeit erfüllt war. Uniformierte Beamte, die kreuz und quer Absperrband aufzogen, die Kollegen von der Spurensicherung, die in ihren weißen Einwegoveralls immer wie Maler und Lackierer aussahen und eifrig dabei waren, irgendwelche kleinste Teile vom Boden aufzuklauben, der Fotograf, der alles von allen Seiten in Bildern festhielt, und natürlich seine Kolleginnen und der Chef der MK. Jeder wusste normalerweise, was er zu tun hatte, lediglich Gregor stand diesmal ziemlich hilflos und ohne etwas zu tun, in der Mitte des Raumes.
Als die Haupteingangstür sich öffnete, fiel ein Sonnenstrahl durch die Öffnung und Gregors Gesichtszüge entspannten sich sichtlich erleichtert nach einem kurzen Blick dorthin. Braake ahnte, wer da gerade gekommen war, noch bevor ein Blick zur Tür seine Vermutung bestätigte. Es handelte sich um die Rechtsmedizinerin Dr. Sonja Savoyen, die Lebensgefährtin seines Chefs.
Schmuddel, wie fast alle den auf Reinlichkeit und saubere Kleidung keinen Wert legenden Computerfreak nannten, winkte der attraktiven jungen Frau kurz zu. Sie winkte zurück und eilte dann auf direktem Weg zu Gregor Mandelbaum. Dem war die Erleichterung anzusehen und Schmuddel hatte den Verdacht, dass seine Verstörung mit seiner Erbkrankheit zu tun hatte.
Er arbeitete nun seit fast zwei Jahren mit dem erst 30 Jahre alten Leiter der MK II zusammen und kannte inzwischen seine Lebensgeschichte im Detail. Gregor litt unter einer leichten Form des Asperger-Syndroms, einer erblich bedingten Entwicklungsstörung. Diese äußerte sich dadurch, dass er nicht wie normale Menschen Emotionen zum Ausdruck brachte oder automatisch auf Emotionen seiner Mitmenschen reagierte. Er handelte und dachte weitestgehend logisch und nüchtern. Dazu kam die erschreckende und oft schonungslose Offenheit und Wahrheitsliebe eines Logikers, der nichts beschönigte oder verniedlichte. Auf seine Umwelt wirkte er deshalb meist arrogant, besserwisserisch und oft verletzend.
Schmuddel hatte schon oft am eigenen Leib erfahren müssen, wie seine manchmal gedankenlos geäußerten Bemerkungen von Gregor verbessert, richtiggestellt und im Detail erläutert worden waren.
Er hatte sich inzwischen den beiden genähert und war nun in der Lage, ihre leise geführte Unterhaltung mitzuhören.
»Ich weiß einfach zu wenig über den katholischen Glauben, die Regeln in dieser Kirche und die Abhängigkeiten in der Hierarchie der Kirche und deren Auswirkungen«, hörte er Gregor gerade sagen.
»Mach dir darüber keine Gedanken«, erwiderte Sonja, die ihm die Hand wie beruhigend auf den Arm gelegt hatte. »Das ist auch nur ein Verein wie jeder andere, mit ganz speziellen Regeln, Sitten und Gebräuchen. Du bist nicht der Einzige, der sich diesbezüglich nicht wirklich gut auskennt.«
»Aber ich habe überhaupt keine Grundlage für die Auswahl des richtigen Verhaltens in dieser Umgebung. Ein solches Wissensdefizit kann ich durch nichts ausgleichen. Ich muss mir unbedingt die entsprechenden Informationen anlesen, bevor ich hier auch nur eine einzige fundierte Entscheidung treffen kann.«
In diesem Moment fiel es Schmuddel wie Schuppen aus seinen fettigen Haaren. Natürlich! Gregor war ja Jude, da lag es nahe, dass er keine detaillierten Informationen über die katholische Kirche hatte.
Ihm wurde gleich darauf bewusst, dass er ebenfalls nicht über große Kenntnisse verfügte, was die unterschiedlichen Glaubensrichtungen der christlichen Kirchen anging. Allerdings war es ihm sowieso grundsätzlich egal, wie man sich in welcher Umgebung richtig verhielt. Es hatte ihn auch noch nie gekümmert, was andere von seinem Äußeren oder seinem Verhalten hielten. Ich bin, wer ich bin - das war schon immer seine Devise gewesen. Seine Fähigkeiten und Wissen über die Informationstechnologie und die Gewinnung von Erkenntnissen aus Computersystemen machten ihn aus. Dafür wurde er geachtet, und wenn nicht, dann von den Meisten zumindest geduldet. Man brauchte ihn und deshalb konnte er sich manches herausnehmen, wobei andere Menschen in der Arbeitswelt erhebliche Schwierigkeiten bekommen hätten.
Da hat er sich aber ganz schön was vorgenommen, wenn er auf die Schnelle den Katholizismus begreifen lernen will, dachte er amüsiert. Dann fiel ihm aber ein, dass Gregor in mehr als nur einer Beziehung ein Wunderkind war. Er hatte mit fünfzehn Abitur gemacht und mit