Dieter Aurass

Frankfurter Kreuzigung


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in der christlichen Kirche dargestellt wird. Das ist aber geschichtlich absolut falsch. Stattdessen waren Nägel durch seine Handwurzeln oberhalb des Handgelenkes zwischen Elle und Speiche, sowie nochmals durch den Oberarm geschlagen worden.«

      »Das ist leicht erklärbar, da die geschichtlich inkorrekte Darstellung einer Nagelung durch die Handfläche das Körpergewicht eines Mannes niemals ausgehalten hätte. Zumal bei der Kanzel keine Möglichkeit bestand, auch noch durch die Fußgelenke zu nageln, weil die Füße über den unteren Rand hinaushingen.«

      »Genau«, beeilte Sonja sich, weiter zu erklären, »aber es gab keine Spuren, dass der Täter zuerst fälschlicherweise versucht hätte, die Nägel durch die Handfläche zu treiben.«

      Sie ließ ihm eine Sekunde Zeit und sah auch direkt das Verstehen in seinem Gesichtsausdruck.

      »Aber natürlich, daraus lassen sich Rückschlüsse auf den Täter ziehen. Entweder er hat eine anatomische oder medizinische Ausbildung, oder er ist geschichtlich so weit informiert, dass er deshalb weiß, wie eine Hinrichtung durch Kreuzigung mit Nägeln tatsächlich in der Antike abgelaufen ist. Ich habe einfach vorausgesetzt, dass jeder ...«

      »... soviel weiß wie du, was natürlich nicht der Fall ist«, beschloss Sonja seine Schlussfolgerungen, wobei sie sich ein leichtes Grinsen nicht verkneifen konnte.

      Gregor schien es nicht zu beachten oder aber nicht deuten zu wollen. »Danke, dass du mich darauf aufmerksam gemacht hast. Dabei gibt es allerdings noch einen Punkt, der mir bisher nicht ganz klar ist. Ist es überhaupt möglich, dass ein Mensch alleine das zustande bringt? Ich erinnere mich an die Probleme beim Abhängen des Leichnams. Wie viel Leute mögen erforderlich gewesen sein, um den Mann dort zu platzieren?«

      »Da wiederum kann ich dir weiterhelfen«, verkündete Sonja nicht ohne Stolz. »Ich habe unmissverständliche Spuren dafür gefunden, dass vor seinem Tod ein Seil um seine Brust gespannt gewesen sein muss, das unter seinen Achseln nach hinten-oben führte. An diesem Seil muss er nach den Abdrücken in der Haut hochgezogen worden sein und dort gehangen haben, bis die Nägel in Unter- und Oberarmen eingeschlagen waren. Die Spurensicherung müsste mit höchster Sicherheit Spuren dieses Seiles am oberen Rand der Kanzel gefunden haben.«

      »Das bedeutet, dass es sich doch ohne Weiteres um einen Einzeltäter oder -täterin gehandelt haben kann.«

      Sonja nickte zustimmend. »So sehe ich das auch.«

      Gregor sah sie mit einem Blick an, der ihr Bewunderung oder zumindest Anerkennung signalisierte, soweit er zu solchen Gefühlen überhaupt fähig war.

      Er drückte sie kurz an sich und gab ihr einen leichten Kuss. »Danke, du hast mir sehr weitergeholfen.« Dann drehte er sich um und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum.

      Sonja seufzte. Sie blickte dem vor ihr auf dem Tisch liegenden Leichnam ins Gesicht und zog einen Mundwinkel nach oben. Dann sprach sie den Toten an, als könne er sie hören: »Tja, so ist er nun mal. Damit werde ich wohl leben müssen.«

      Kapitel 6

      Alle saßen an ihren angestammten Plätzen in der Einsatzzentrale der MK II im Polizeipräsidium Frankfurt. Der mit modernster Medien- und Computertechnik ausgestattete Raum wies gegenüber einer Medienwand eine U-förmige Ansammlung von Tischen auf, an deren unterem Ende Gregor saß, während sich die restliche Mannschaft auf die beiden Seitenteile des U verteilte.

      Schmuddel flegelte sich wie üblich auf seinem Stuhl, seinen Notepad auf dem Schoß, und fernsteuerte von diesem Platz aus die aufwendige Computeranlage, die auf die Medienwand das projizierte, was er aus den Computerdateien auswählte.

      »Was haben wir? Wo stehen wir in diesem Fall?«, begann Gregor die Besprechung. »Aber bevor wir unsere Informationen austauschen, möchte ich einige Vorbemerkungen zu dem Fall machen.« Alle lauschten ihm aufmerksam, aber Gregor bemerkte, dass Schmuddel und Jenny Informationen hatten, die sie dringend loszuwerden gedachten. Die Ungeduld war beiden ins Gesicht geschrieben. Er hatte sich angewöhnt, seine Beobachtungen mit den anderen zu teilen, wenn er nicht vorher sicher war, dass es vermutlich peinlich für diejenigen waren, die er outete. Leider gab es immer wieder Situationen, in denen er sich nicht vorstellen konnte, warum jemandem etwas peinlich sein sollte. »Ich sehe, dass ihr dringend etwas loswerden wollt, Jenny, Schmuddel, seid bitte so gut und geduldet euch noch einen Moment.«

      Beide nickten und sahen aus, als wären sie bei einem Streich erwischt worden.

      »Wir haben einen sehr ungewöhnlichen Mord«, fuhr er ungerührt fort, »Schmuddel, bitte die Tatortfotos vom ersten Angriff.« Er wartete solange, bis die gruseligen Bilder in allen Details auf der Medienwand erschienen waren. Ihm entging das schwere Schlucken der sensiblen Jutta Beltermann nicht, aber sie war ein Profi und wusste, dass ihretwegen nicht auf die Bilder verzichten werden konnte.

      »Die Ausführung der Tat lässt ein paar Schlüsse auf den Täter oder die Täterin zu.« Er schilderte Sonjas Feststellungen zu der Art, wie der Pfarrer an die Kanzel genagelt worden war. »Kreuzigungen gab es bereits mehr als tausend Jahre vor Christus bei den Phöniziern, Assyrern, Persern und Griechen, zu Beginn durch Fesseln an einen Pfahl, später bei den Römern auch mit dem Festnageln an einem Pfahl mit Querbalken. Dabei unterschied man zwischen dem ›Crux commissa‹, dem Kreuz in T-Form und dem ›Crux immissa‹, dabei handelt es sich um das Kreuz wie die Katholiken es kennen. Es war ein sehr langsamer Tod, der auch noch künstlich hinausgezögert wurde, indem ...«

      »Gregor«, unterbrach Mutti ihn mit einem flehenden Ton, »ist dieser Geschichtsunterricht wirklich erforderlich für die weiteren Ermittlungen?«

      Gregor blickte sie überrascht an und überlegte einen kurzen Moment. »Nein, grundsätzlich nicht. Gut, verschieben wir das auf ein anderes Mal. Was auf jeden Fall aus der Art des Annagelns geschlossen werden kann, ist, dass der Täter entweder anatomische Kenntnisse oder sehr gute Geschichtskenntnisse hat. Mein allererster Gedanke im Zusammenhang mit diesem Mord war die Befürchtung, wir hätten es vielleicht mit dem Beginn einer Serie von religiös motivierten Taten zu tun.«

      Er unterbrach seine Ausführungen und schaute einen nach dem anderen an. »Was fällt euch im Zusammenhang mit Priestern an möglichen Motiven ein?«

      »Rache im Zusammenhang mit Kindesmissbrauch?«, warf Mutti sofort ein.

      »Eifersucht eines homophilen Geliebten«, sagte Schmuddel.

      »Verschmähte Liebe einer Frau oder eines Mannes«, brachte sich Irina in die Diskussion ein.

      »Oder eine Kombination aus allem«, meinte Jenny, die keine neue Idee zu haben schien. »Sollte es sich um eine Beziehungstat oder die Tat von jemandem, der das Opfer gut kannte, handeln, dann kommen alle üblichen Motive in Frage: Hass, Eifersucht, Neid, Liebe, Geldgier.« Langsam schien sie sich für das Thema zu erwärmen. »Vielleicht hat er jemanden erpresst, und die Art der Ausführung der Tat soll uns in eine falsche Richtung leiten.«

      Gregor nickte zustimmend. »Ich bin absolut eurer Meinung. Es gibt eine Vielzahl von möglichen Motiven. Aber die Frage ist, haben wir auch Verdächtige? Ich habe gestern zumindest einen Herrn kennengelernt, der nicht wirklich erschüttert oder enttäuscht darüber war, dass Pfarrer Dr. Bock tot ist.

      Nun hielt Schmuddel es nicht mehr aus. »Da hätten wir schon was mehr zu bieten«, verkündete er stolz. »Die Vernehmung der Pfarrgemeindesekretärin hat einige Leute mehr ergeben, die den Pfarrer wohl nicht sehr mochten.« Er unterbrach sich und Gregor bemerkte zu seiner Überraschung, dass er sich überwinden musste, um den nächsten Satz zu sagen.

      »Inklusive der Sekretärin selbst, die wohl auch nicht gerade gut mit dem Herrn Pfarrer auskam. Also, nicht dass ich glaube, sie könnte was damit zu tun haben ... nur so ... äh ... grundsätzlich, meine ich.«

      Das klingt so gar nicht nach Schmuddel, fand Gregor. Hat er irgendein persönliches Interesse an dieser Frau?

      Schmuddel fing sich schnell wieder und setzte seinen Bericht fort. »Ich habe mir mal von allen möglichen Verdächtigen die verfügbaren Fotos aus dem Internet besorgt, damit ihr euch ein