Peter Urban

Der Fluch von Azincourt Gesamtausgabe


Скачать книгу

die Übersetzung der Handschrift des Abraham Eleazar könne vielleicht irgendwann einmal in berufenere Hände fallen, als in die der Ritter des Tempelordens?“

      Chaulliac hob die Schultern. Diesen Gedanken hatte er in jener Nacht im Haus von Nicolas Flamel auch gehabt. Doch obwohl ihn die Miniatur in gewisser Weise ansprach, wusste er sie genauso wenig zu deuten, wie Ambrosius Arzhur von Cornouailles. Er schüttelte vorsichtshalber den Kopf. Im Gegensatz zu den Weiße Brüdern aus dem Velay, die schon seit den Tagen der römischen Herrschaft um des Überlebens Willen gezwungen waren, neue Ideen aufzunehmen und von allen Seiten her zu betrachten, waren die Weiße Brüder von Brocéliande ausgesprochen stur, dickschädelig und nicht im Entferntesten bereit, auch nur ein Jota vom Weg der alten Lehre abzuweichen. Sie waren es gewesen die von Anfang an ihre ganze Energie und sehr viel Einfallsreichtum darauf verwandt hatten, die neue christliche Kirche zu unterwandern, um sie von innen heraus auszuhöhlen und zu spalten. Selbst in den Zeiten der grausamsten Verfolgung waren die Weiße Brüder von Brocéliande lieber in den Tod gegangen, als sich wie Weiden im Wind zu biegen und zu leben. Die Weiße Brüder das Velay hatten in Gwenc’hlan Rûn-ar-Goff, der das Rabenmal der Herrin der Spukgeister auf der Brust getragen hatte lediglich einen Druiden gesehen, der um der Macht Willen mit der Finsternis paktierte. Für die Weiße Brüder von Brocéliande und für Ambrosius de Cornouailles war Gwenc'hlan ein Held; eine Legende zu deren Ehren man zahllose Verse verfasst hatte und immer noch verfasste, eine Gestalt, von der jedes Kind in Cornouailles oder in der Bretagne in der Spinnstube der Frauen hörte... Gwenc’hlan Rûn-ar-Goff, der die Bretagne und Cornouailles vor König Dagobert gerettet und die Merowinger mit seinem gewaltigen Fluch belegt hatte. Noch heute brauchte es nicht viel mehr, als Augen, um zu sehen, wozu Gwenc’hlans Fluch am Ende geführt hatte. Seinen Freund Ambrosius von Cornouailles konnte Chaulliac im besten Fall als einen genauso gefährlicher Fanatiker einstufen, wie den Heiligen Augustinus oder den Dominikanerprokurator Bernhard Guy. Der Okzitanier war bereit, sein Hab und Gut und seinen guten Ruf als Wissenschaftler und Arzt darauf zu verwetten, dass der Herzog von Cornouailles bereit, willens und fähig war, wie der legendäre Gwenc’hlan mit den Dämonen der Finsternis zu paktieren, wenn er darin ein Mittel sah, die römische Kirche zu zerstören und wieder die Herrschaft der Druiden über ganz Frankreich heraufzubeschwören. Ambrosius war ein außergewöhnlich geschickter Politiker und Diplomat. Er hatte fast unerschöpfliche Schatztruhen, eine gewaltige Flotte, unzählige zutiefst ergebene Vasallen, die nicht nur in Cornouailles und in der Bretagne Lehen besaßen, sondern auch auf der anderen Seite der Grenze im Kernland Frankreichs. Er hatte dafür gesorgt, dass der jüngste Bruder des bretonischen Herzogs Yann, Arzhur de Richemont, an seinem Hof aufwuchs und er schien sogar in der Lage, den unheimlichen Wächtern von Barc’h Hé Lan seinen Willen aufzuzwingen. Guy de Chaulliac senkte die Augen und sagte ruhig. „Wir wer wahrscheinlich niemals herausfinden, warum Bernard de Clairvaux in seiner Übersetzung diese seltsamen Veränderungen vorgenommen und die Miniatur eingefügt hat, Ambrosius. De Molay wusste es auch nicht. Er schreibt in seinem Testament nur, dass es Bernard und seinen Helfern gelungen war den ursprünglichen Text von Abraham Eleazar vollständig zu entschlüsseln. Auf dieser Grundlage hatten sie einen Lapis Philosophorum erschaffen, den König Phillip auch als solchen erkannte, als die Templer ihm einmal vor dem aufgebrachten Volk im Pariser Ordenshaus Unterschlupf gewährten. Dies habe dann wiederum zu der berühmten Katastrophe geführt, die am 13.Oktober des Jahres 1307 ihren Anfang nahm. Aber mir scheint, Du hast recht und wir sind endlich am Ziel unserer Suche angelangt. Jetzt müssen wir nur noch einen Weg finden und den braven Meister Flamel dazu überreden, uns diese Handschrift anzuvertrauen…“

      Die Augen des Herzogs von Cornouailles funkelten böse, „…oder wir räumen Meister Flamel aus dem Weg und nehmen das Manuskript einfach.“

      Chaulliac zwang sich zur Ruhe. Er war nicht davon überzeugt, dass es eine gute Idee war, Flamel sein Buch zu stehlen oder es durch Gewalt in ihren Besitz zu bringen. „Das wäre zu gefährlich, Ambrosius. Lasse gut sein. Ein Mord und ein Diebstahl würden viel zu viel Aufsehen erregen und möglicherweise wieder Männer auf die Spur des Ordens führen...oder schlimmer noch, auf die Spur der weißen Bruderschaft. Flamel...er weiß ganz genau, wie gefährlich sein Grimoarium ist; er erzählte mir, wie es ihm gelang, alles zu entschlüsseln...und warum er schließlich seine alchimistischen Arbeiten einstellte und das ganze Gold einfach verschenkte. Ich habe das Gefühl, das da noch mehr ist, als nur dieser komische Fluch. Flamel erwähnte kurz den Kerl, der für de Cramoisi gearbeitet hatte und wirklich die Untersuchung gegen ihn leitete...ein gewisser Jean de Craon. Vielleicht wäre es vernünftiger, erst einmal genau herauszufinden, wer dieser de Craon ist, welche Rolle er damals wirklich gespielt hat, warum er unserem Freund in der Rue de Marivaux solche Angst einjagte und wer am Ende wirklich dafür gesorgt hat, das der Notarius dieser königlichen Untersuchungskommission unbeschadet entrinnen konnte...und um welchen Preis.“

      Die Augen des Herzogs von Cornouailles bohrten sich tief in die Augen des Okzitaniers. Mehrere Minuten lang schwiegen beide Männer sich an. Es war ein stummer Kampf, Wille gegen Wille, Überzeugung gegen Überzeugung. Chaulliac bemühte sich, weder Furcht noch Zweifel durchscheinen zu lassen, während er Ambrosius‘ Blick standhielt. Am Ende schien es so, als ob der Mann aus dem Süden den Sieg über den Herzog von Cornouailles davontrug. „Gut“, sagte Ambrosius kurz angebunden, “ wir werden vorerst das tun, was Du vorschlägst.“ Und mit einem leisen Hauch von Bitterkeit fügte er hinzu. „Ich werde morgen einen Kurier mit einer Nachricht für Stephan von Paléc nach Prag schicken. Damit hätten wir vorläufig unsere Pflichten dem Orden gegenüber erfüllt.“

      Chaulliac atmete auf. Alles deutete darauf hin, dass er die erste Schlacht gewonnen hatte. Nun musste sich noch zeigen, ob er auch klug genug war, dafür zu sorgen, dass der ganze Krieg gewonnen wurde, bevor irgendein Mann, der tiefer in die Geheimnisse der Welt und der Zeit eingeweiht war, als Bernard de Clairvaux oder der Notarius Flamel die Übersetzung des Manuskriptes von Abraham Eleazar in die Hände bekam.

      X

      Bran’wen klopfte nicht an, sondern riss einfach die Tür auf: Als sie den unmenschlichen Schrei gehört hatte, war sie von ihrem Lager hochgefahren und losgerannt. Sie hatte vor lauter Angst keine Gedanken daran verschwendet, wie unschicklich sie aussah: Lediglich mit ihrem Untergewand bekleidet, ohne eine Haube über den Haaren und barfüßig stand die alte Frau im Gemach ihrer Herrin. Sie war unfähig sich zu bewegen oder auch nur ein Wort über die Lippen zu bringen. Mit furchtgeweiteten Augen starrte sie auf den dunklen, feuchten Fleck auf dem hellen Gewand. Die Herzogin von Cornouailles lag in einer seltsam unnatürlich anmutenden Haltung vor dem erkalteten Kamin. Auf den ersten Blick wirkte es so, als ob ein geheimnisvoller Angreifer ihr einen üblen Stoß versetzt hatte. Die Augen von Maeliennyd Glyn Dwyr waren geschlossen. Ihr Atem ging mühselig und stoßweise. Sie musste sich im Fall böse den Kopf angeschlagen haben, denn ihre schwarzen, zu einem schweren Zopf geflochtenen Haare wirkten an der einen Seite ganz klebrig und verfilzt. Der Lehnstuhl, auf dem sie zuvor wohl gesessen hatte, war achtlos umgestoßen worden und ebenso der kleine Tisch, auf dem die alte Frau noch wenige Stunden zuvor eine Glasschale mit Süßigkeiten und Obst für ihre Herrin hergerichtet hatte. Wie kleine Edelsteine funkelten die Splitter der zerbrochenen Schale im Licht der untergehenden Sonne, die durch die weit geöffneten Fenster fiel.

      Erst als ein schwaches Wimmern, wie von einem verängstigten Kindes über die Lippen der bewusstlosen Frau auf dem Boden schlich, löste sich Bran’wens Erstarrung und sie Riss in einer Geste der Hilflosigkeit die Hände hoch. Dabei schrie sie mit aller Kraft. Ihr panischer Schrei glich dem eines schwer verletzten Tieres in Todesangst. So undeutlich der Schrei gewesen war, der die alte Frau erst wenige Augenblicke zuvor in ihrer Kammer aus dem Schlaf gerissen hatte, so deutlich waren die Worte die sie jetzt in ihrer grenzenlosen Verzweiflung herausschrie.

      Obwohl sich an diesem Festtag wegen der Vorbereitungen für das große Bankett nur einige wenige Dienstleute innerhalb der Mauern des Palas aufhielten, dauerte es nicht lange, bis sich eine kleine Menschentraube hinter Bran’wen bildete. Die beiden blutjungen Mägde, zu deren Aufgabe es für gewöhnlich gehörte, dem Bäcker von Carnöet zur Hand zu gehen, hatten den Schrei der alten Frau ebenfalls gehört, obwohl sie unten im Innenhof zugange gewesen waren. Trotzdem waren sie sozusagen die Ersten, die es wagten sich hinter der händeringenden, verzweifelten Bran’wen in