Peter Urban

Der Fluch von Azincourt Gesamtausgabe


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abzuwenden und der Versuchung zu widerstehen, einen Hauch aus dem großen Wind der Zeit zu spüren. Diese seltsame und unheimliche Gabe war Macht und Fluch zugleich. Nachdem Maeliennyd noch ein paar Schlucke Tee hinuntergewürgt hatte, hob sie die Hand und bedeutete dem alten Mann, den Becher zur Seite zu stellen. Dann erwiderte sie mit schwacher Stimme. „Es war nicht mein eigener Wille, Aodrén.“

      Die haselnussbraunen Augen des alten Mannes wanderten prüfend über ihr bleiches, vom Schmerz gezeichnetes Gesicht. Erst als er wirklich überzeugt war, dass die Herzogin von Cornouailles wahr gesprochen hatte, nickte er und nahm ihre zierliche, feingliedrige, eiskalte Hand in die Seine: „Mein liebes Kind“, seufzte er, „es ist bereits zu spät, um noch irgendetwas aufzuhalten. Ich sehe nur einen einzigen Ausweg. Und wenn Du den Mut hast und mir vertraust, dann können wir gemeinsam versuchen, die ganze Sache zu beschleunigen. Du hast das Kleine ein bisschen länger als achtundzwanzig Wochen unter dem Herzen getragen. Obwohl Deine Zeit noch nicht gekommen ist, ist es doch schon ein vollständiger, winzig kleiner Mensch. Als ich einst an der Schule zu Salerno studierte, da brachten sie uns ein solches zu früh geborenes Kind. Die unglücklichen Eltern hatten es in einem Körbchen auf dem Marktplatz liegen lassen. Es war wohl, um die Kosten für ein Grab zu sparen. Die Gelegenheit mehr über den menschlichen Leib zu erfahren war günstig. Wir zögerten natürlich nicht, heimlich den kleinen Leichnam zu öffnen und hineinzusehen. Alles war dort vorhanden, genauso, wie bei einem Wesen, das zur richtigen Zeit geboren wird.“

      „Aber ein solches winziges Geschöpf kann doch unmöglich am Leben bleiben, Aodrén“, erwiderte die Herzogin verzweifelt, „selbst wenn es vollständig ist. Wie soll denn ein so kleines Herzchen schon schlagen können.“

      „Genauso, wie es jetzt schlägt, meine Liebe“, erwiderte der weise Mann mit leisem Spott und legte vorsichtig seine Hand über Maeliennyds Leib. „Natürlich ist das Geschöpf arg zerbrechlich und man muss es mit allergrößter Vorsicht handhaben, bis es außerhalb des Mutterleibes zu seiner richtigen Größe heranwächst und genug eigene Lebenskraft besitzt. Es wird vielleicht auch niemals genauso stark und so kräftig sein, wie ein normal geborenes Kind. Aber Du weißt, dass meine Schutzzauber mächtig sind. Alle Deine anderen Kinder sind gesund herangewachsen und nicht ein einziges ist jemals ernsthaft krank gewesen oder gar gestorben. Warum sollten die höheren Mächte mich für dieses sechste Kind von Cornouailles nicht genauso erhören, wie für die Fünf anderen. Wenn sie es waren, die Dir das kalte Feuer geschickt und dadurch bestimmt haben, dass das Kind zu Bealltainn auf die Welt kommen soll, dann werden sie auch ihre schützende Hand über es halten. Es ist ihr Wille, dass Dir im Zeichen des Lichtes dieses letzte Kind geboren werden soll.“

      Die Herzogin seufzte und zwang sich dazu aufrecht zu sitzen, obwohl die Schwäche ihrer Glieder ihr schwer zu schaffen machte. Der heiße Kräutertee in dem sie deutlich Wermut, Engelwurz und Rosmarin schmeckte, hatte ihren Magen endlich beruhigt. Das Gefühl der Übelkeit war fort. Sie spürte jetzt nur noch einen dumpfen Druck, wie von einem Gürtel, der zu fest geschnürt worden war. Dieses Unwohlsein war erträglich. Auch die Schmerzen in ihrem Kopf, den sie sich beim Fall angeschlagen hatte, wurden zunehmend schwächer.

      „Es war…“, sie hielt kurz inne, um tief durchzuatmen und sich Mut zu machen. Sie fühlte, dass es wichtig war jetzt in Worte zu fassen, was sie zuvor so erschreckt und verstört hatte. „Es war…seltsam, Aodrén. Nein, nicht seltsam, eher unverständlich, fast wie ein Rätsel, das die Aes Sidhe mir zu lösen gaben.“ Maeliennyd griff mit der Hand nach dem Becher und trank noch einen Schluck Kräutertee. Das Gebräu schmeckte widerlich, aber es tat ihr gut und der Rosmarin belebte ihre Sinne. „Sie zeigten mir die Nacht der Sommersonnwende im letzten Jahr: Wie mein Gemahl mich zuerst, wie ein närrischer Jüngling mit einem Kranz aus Ähren und dunkelblauen Kornblumen geschmückt und dann zu einer kleinen, gut versteckten Waldlichtung an einer Biegung der Laïta geführt hatte. Wir waren dort ohne irgendwelche tieferen Gedanken einfach wie ein frischverliebtes Paar zusammen gewesen und hatten in diesem vertrauten Augenblick im fahlen Licht des neuen Mondes absolut nichts getan, dass irgendwie die Macht der Sidhe beschworen hätte. Und trotzdem empfing ich in eben dieser Nacht ein Kind der Sonnwendfeuer.“

      Aodrén lauschte interessiert, während seine Hand immer noch auf dem Leib der Herzogin ruhte, um jederzeit auch nur die kleinste Veränderung ihres Zustandes oder die nächste Wehe fühlen zu können. Bereits als er die letzten Überreste des noch glühenden Holzscheites bemerkt hatte, war ihm ein ähnlicher Gedanke gekommen. Er hatte sich so zusammengereimt, dass das Kind unter Umständen vielleicht doch eine Chance hatte zu leben. Jetzt war er sich seiner Sache sicher. Die Magie der weißen Dame von Concarneau war stark und ihre Visionen betrogen sie nie. „Weiter“, ermutigte er Maeliennyd Mut sich zurückzuerinnern. Er wusste, dass der Herzog von Cornouailles in diesem Augenblick trotz seiner Angst um seine Gemahlin und seiner Verzweiflung bereits auf dem Weg hinunter zum großen Steinring im Wald am Ufer der Laïta war. Es war Ambrosius‘ Pflicht, den Segen über das Land zu sprechen und gemeinsam mit den anderen Drouiz die beiden ersten der Bealltainn-Feuer zu entzünden. Sobald sie brannten und die Drouiz ihre Gesänge anstimmten, wurde der Schleier zwischen der weißen Welt der Aes Sidhe und der Welt der Menschen für einige wenige Stunden dünn und durchlässig. Die Korred und die Elben überwanden ihre übliche Scheu, mischten sich unter die Feiernden und schenkten den Menschen Glück und überschäumende Energie. In guten Jahren, wenn die Feuer mächtig brannten, sahen vom Glück begünstigte gar Hu-Gadarn auf seinem Schimmel übers Land reiten. Die Magie der Feuer von Bealltainn war stark. Sie schenkte Leben, nicht den Tod. Für gewöhnlich war es eine besondere Gunst der Aes Sidhe, wenn einer Frau gewährt wurde, in diesem Augenblick ein Kind zur Welt zu bringen.

      Maeliennyd Glyn Dwyr nickte Aodrén zu und überwand sich dazu das ganze Bild der Vision noch einmal vor ihrem inneren Auge aufleben zu lassen. Sie wusste, dass sie nicht das kleinste Detail vergessen durfte, denn möglicherweise verbargen sich dort Hinweise auf das Schicksal ihres ungeborenen Kindes. Und vielleicht verstand es ja der weise Mann, was sie in ihrem Schmerz und in ihrer Verzweiflung nicht begriffen hatte. „Dann wurde alles wieder dunkel“, fuhr sie fort, „und ich bekam fürchterliche Schmerzen. Es war unerträglich und trotzdem konnte ich weder schreien, noch mich bewegen. Und ich konnte die Augen nicht abwenden: Die Flammen des kalten Feuer wuchsen höher und höher. Ich erkannte deutlich eine große, in den Felsen gehauene Halle. Dort saß vom Schatten halb verhüllt eine dunkle Königin auf einem Thron aus Elfenbein. Neben ihr stand eine hochgewachsene Gestalt in einem schmucklosen, schwarzen Gewand. Auf der Brust trug diese Gestalt an einer schweren Kette aus Gold ein prachtvolles Schmuckstück in der Form eines Raben. Und um das Gelenk der Hand, die auf der Lehne des Elfenbeinthrons ruhte schloss sich der Reif von Eluned...derselbe Reif, den mein Vater der Cadwalladr meinem Gemahl am Tag unserer Vermählung anvertraut hat. Ich habe die dunkle Faith erkannt, Aodrén. Es war die Némain Sidhe selbst, der schwarze Rabe, die Königin der Spukgeister, die Herrin der Krieger, das Ende und die Wiedergeburt, Krieg und Frieden, Tod und Leben. Doch sie war nicht schrecklich und furchteinflößend, sondern schön und bleich und auf ihrem Antlitz lag ein wohlmeinendes Lächeln.“

      Die Herzogin schien ihre Schwäche vergessen zu haben. Dem dumpfen Schmerz, der dem beklommenen Gefühl in ihrem Leib inzwischen wieder Platz gemacht hatte, schenkte sie keine Beachtung. „ Aodrén“, sagte sie so laut und deutlich, als ob sie einen heiligen Eid schwören wollte, „dort saß nicht die schreckliche Alte, sondern die Herrin des Sees. Die Morrigù selbst hat mir diese Vision geschickt und es war so ganz anders, als alle anderen Visionen, die ich je hatte. Die Némain Sidhe hat mich in eine ferne Zukunft blicken lassen, um mir etwas Bestimmtes zu zeigen. Doch was? “

      Der alte Mann schwieg und strich Maeliennyd Glyn Dwyr in langsamen, sanften Bewegungen über den Leib, während sie weitersprach. Er hoffte ihr Zuversicht und Vertrauen einzuflößen und vielleicht auch die Wehen wieder in Gang zu bringen. Das kleine Wesen in ihr musste sich endlich weiter in Richtung auf den Ausgang zuzubewegen, wenn es leben wollte. Bereits als Chaulliac die Herzogin untersucht hatte, war dem alten Drouiz aufgefallen, wie weit geöffnet der Muttermund war. Frauen empfanden die Wehen immer sehr unterschiedlich. Jede von ihnen kam ganz individuell mit den Schmerzen klar. Die Tatsache, dass Maeliennyd Glyn Dwyr in ihrem erregten Zustand nur wenig zu spüren glaubte, bedeutete noch lange nicht, dass die Eröffnungswehen erst