Manfred Lafrentz

Der Weg des Vagabunden


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sich in Studien zu vergraben, von denen er sich die Heilung seiner Gattin erhoffte. Wir waren seine Diener und versorgten dieses Haus, aber wir bekamen ihn immer seltener zu Gesicht. Wir sorgten uns, doch blieb er unzugänglich. Manchmal öffnete er tagelang die Tür seines Studierzimmers nicht. Dann aber starb seine Gemahlin. Lord Sylvan war untröstlich, klagte sich selbst an, weil er versagt hätte, und zog sich wie rasend in sein Studierzimmer zurück.

      Am nächsten Morgen – es mag einen Mond her sein – sprang die Tür auf, und ein Ungeheuer kam heraus, wütete unter uns und fraß uns alle auf. Unsere Seelen aber spie es wieder aus, und seitdem sind wir an dieses Haus gebunden und können die Welt nicht verlassen und dahin gehen, wohin wir gehören.

      Das Ungeheuer aber war Lord Sylvan. Wir wissen nicht, wie es zur Verwandlung kam, seine Studien haben ihn wohl auf unglückselige Abwege geführt. Vielleicht hat er versucht, seine Gemahlin aus dem Totenreich zurückzuholen, und ist zum Opfer seines Frevels geworden. Ihr Leichnam war verschwunden. Vielleicht hat er auch ihn gefressen.

      Seitdem hält er sich nicht weit von hier im Wald versteckt, und wann immer jemand sein Haus betritt, eilt er herbei, und es geht den Unglücklichen wie uns. Schon vier oder fünf haben unsere Zahl vermehrt. Auch Euch wird dieses Schicksal jetzt ereilen. Bald werdet Ihr mit uns klagend durch diese Räume wehen!“

      Ich erschrak, als ich dies hörte. „Wir müssen fort!“, schrie ich.

      Der Zauberer nickte und schaute verwirrt um sich.

      „Zu spät!“, rief die Geisterstimme mit hohlem Klang. Viele flackernde Formen umdrängten uns jetzt. „Er ist schon fast hier!“

      Die Worte wurden leiser und gingen in dem allgemeinen Gewimmer unter, das uns in den Ohren klingelte, während mir Eiseskälte in die Knochen fuhr.

      „Was machen wir jetzt?“, rief ich verzagt, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Die trügerische Idylle der Schönheit, die uns umgab, der lichtdurchflutete Raum, nun ward er zum Albtraum, zu einer tödlichen Falle.

      Der Zauberer sah sich hastig um und deutete auf eine Wendeltreppe in einer Ecke des Raumes. „Lasst uns nach oben gehen und sehen, was draußen vor sich geht!“ Er rannte mitten durch die flackernden Lichtgebilde der Geister, und mir blieb nichts übrig, als ihm zu folgen.

      Wir hasteten die Treppe hinauf und kamen zu einer geborstenen Tür. Ich nahm an, es war diejenige, die Lord Sylvan zerstört hatte, und tatsächlich, als wir über die Schwelle liefen, kamen wir in ein rundes Turmzimmer, dessen Wände ringsum mit dicken Folianten vollgestellt waren. Auf Tischen standen unzählige Schalen und Behältnisse, manche mit Korken verschlossen, andere offen und leer, einige lagen zerbrochen auf dem Boden. Herabgebrannte Kerzenstummel waren überall in der Kammer verteilt, manche sogar mit Totenschädeln als Untersetzer. Über allem lag eine undefinierbare muffige Mischung aus Gerüchen.

      „Da!“, rief der Zauberer und zeigte auf eine schmale Tür zwischen den Bücherregalen. Er sprang zu ihr hin und riss sie auf. Wir stolperten hinaus und erreichten einen Ausguck, einen schmalen Gang, der um den Turm herumlief und von einer hüfthohen Mauer umgeben war. Von dort, wo wir nun standen, dem höchsten zugänglichen Punkt des Gebäudes, hatten wir einen uneingeschränkten Ausblick auf die Ebene, die uns umgab.

      „Da kommt er“, sagte der Zauberer und wies mit einem zittrigen Finger zum Horizont.

      Ich konnte nichts erkennen und hoffte, dass mein Gefährte einer Täuschung unterlag, aber dann entdeckte ich einen dunklen Fleck im Grün der Ebene, der sich beängstigend schnell näherte. Bald konnte ich eine seltsame Gestalt ausmachen, deren massiger Körper Ähnlichkeit mit dem eines Stieres hatte, jedoch war der Kopf riesig. Aus dem weit aufgerissenen Maul ragten fürchterliche Hauer von der Größe meiner Hand. Je näher das Monstrum kam, desto deutlicher konnte ich die wild rollenden Augen erkennen und die grenzenlose Wut und Mordlust, die uns aus ihnen entgegensprühte.

      „Wir sind des Todes!“, schrie ich, und alle Glieder schlotterten mir bei dieser Aussicht. „Ich will nicht gefressen werden und in diesem verfluchten Haus herumspuken!“

      „Nun ja“, sagte der Zauberer düster, „auch ich hatte nicht vor, meine Tage in der Welt so zu beenden.“

      „Tut was! Benutzt Magie!“

      „Das ist nicht so einfach, mein Freund. Meine Magie dient dazu, verborgene Dinge hervorzubringen.“

      „Dann bringt ein Hindernis hervor, das dieses Ungeheuer nicht überwinden kann!“

      „Ich will es versuchen.“ Er hob seinen Holzstab und begann vor sich hin zu murmeln.

      Auf der Ebene erhoben sich vor dem heranstürmenden Monstrum plötzlich Erdwälle, gespickt mit Felsbrocken und halb vermoderten Knochen. Wutschnaubend übersprang es sie und wurde nicht einmal langsamer dabei.

      „Ist das alles?“, rief ich verzweifelt.

      „Leider ja“, sagte der Zauberer kläglich. „Hier ist einfach nicht so viel verborgen, das ich hervorbringen könnte.“ Seine Stimme nahm einen quengeligen Ton an. „Außerdem bin ich auch nicht für solche Situationen ausgebildet worden. Ich habe …“

      „Warum seid dann ausgerechnet Ihr hierhergeschickt geworden?“, schrie ich aufgebracht.

      „Es hatte gerade kein anderer Zauberer Zeit!“, schrie er zurück.

      „Ihr seid ein nichtsnutziger alter …“ Ich bezwang meine Erregung. In unserer Lage waren Beleidigungen nicht hilfreich.

      Während mein Blick wie gebannt auf dem immer näher kommenden Ungeheuer hing, rasten meine Gedanken. Die Worte der Geister kamen mir in den Sinn. Dieses Untier war Lord Sylvan, und er hatte versucht, seine verstorbene Gemahlin wieder zum Leben zu erwecken.

      Gemahlin! Gemahlin!

      Eine Idee traf mich wie ein Blitz, und ohne lange zu überlegen rannte ich zurück ins Haus. Der Zauberer rief mir etwas hinterher, aber ich achtete nicht darauf und flog stattdessen die Wendeltreppe hinunter in den großen, herrlich ausgestatteten Raum. Ich riss das Bildnis der Frau, das dort hing, von der Wand und rannte augenblicklich die Treppe wieder hoch und hinaus auf den Ausguck. Den Zauberer, der mir im Weg stand, schubste ich ohne viel Federlesens beiseite und hielt das Gemälde mit beiden Händen hoch über meinen Kopf.

      Das Ungeheuer war inzwischen vor dem Haus angekommen. Ich wedelte mit dem Bild in der Luft herum, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Das Monstrum blieb abrupt stehen und starrte das Bild an. Dann geschah etwas Seltsames. Dieses schreckenerregende Untier fing an, herzzerreißend zu heulen. Es klang so klagend und trauervoll, dass mir fast selbst die Tränen gekommen wären. Während ich mit zitternden Armen weiterhin das Gemälde hochhielt, beobachtete ich, wie das Ungeheuer immer weiter in sich zusammensank, bis es einem Häuflein Unglück glich. So hockte es eine Weile im Gras und dann schlich es davon. Jawohl! Es schlich davon wie ein geprügelter Hund und verschwand in die Richtung, aus der es gekommen war, vermutlich, um sich im Wald gründlich auszuweinen.

      Erleichtert ließ ich die Arme sinken und stellte das Bild ab. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Dem sicheren Tod von der Schippe gesprungen! Meine Knie zitterten so heftig, dass ich mich auf den Boden des Ausgucks sinken ließ und mich mit dem Rücken an die Wand lehnen musste.

      Der Zauberer setzte sich neben mich. An seinem bleichen Gesicht konnte ich die gleiche Erschütterung ablesen, die auch mich erfasst hatte. Eine Weile lang saßen wir nur da und schwiegen.

      Schließlich ergriff der Zauberer das Wort.

      „Das war sehr geistesgegenwärtig von Euch!“, sagte er. „Alle Achtung!“

      Ich war zu erledigt, um mich von seinem Kompliment beeindrucken zu lassen, und winkte nur ab.

      „Nein, nein“, versicherte er. „Ihr seid ein kluger Bursche, klüger als Ihr ausseht, wenn ich das bemerken darf, und habt instinktiv und schnell das Richtige erfasst.“

      „Das habe ich wohl“, sagte ich, etwas gekränkt wegen seiner Bemerkung über mein Aussehen.

      „Dieser Lord Sylvan muss in seiner