Eike Stern

Der Tod des Houke Nowa


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mit Knüppel und Sichel die Gärten durchkämmten und über die zahllosen Katzen von Aschkelon herfielen. In versteckten Schlupfwinkeln der Hafenschuppen und Hinterhöfe vermehrten sich die streunenden Tiere über Jahre ungestört, um in einem barbarischen Befreiungsschlag auf ein erträgliches Minimum reduziert zu werden. Ein scheußliches Bild spukte Houke da im Kopf herum, und seine älteste Schwester vertraute ihm damals etwas an, das ihn für länger erschütterte als der Katzenjammer. Ihm fielen die namenlosen Geschwister ein, die es auszubaden hatten, nach ihm geboren zu sein, und die von daher das Los traf, als Säugling im Rinnstein zu landen. Sollten sie nicht erfroren sein oder verhungert, könnte sich ein barmherziger Nachbar ihrer angenommen haben… Es blieb ein sorgsam gewahrtes Geheimnis zwischen ihm und seiner ältesten Schwester Marissa, und er betrachtete seinen Vater nach dieser Neuigkeit eine Weile mit entsetztem Argwohn. Später sah er ein, alle handhabten das so, um die Vermögen zusammenzuhalten - oder aus Armut. So allmählich würde sein Vater in Erwägung ziehen, ihm könnte etwas zugestoßen sein. Sollte unter den Ausgesetzen ein Junge gewesen sein, dürfte ihn das bitter gereuen. Bei der Vorstellung fühlte sich Houke irgendwie um seine Zukunft betrogen, und die Aussichten auf Erfolg bei einer Flucht stufte er verschwindend gering ein. Obendrein fehlte jede Gelegenheit, so lange keine Möwe Festland ankündigte. Dachte er darüber nach, unter Umständen jämmerlich dabei ertrinken zu können, schnürte sich ihm bedrückend das Herz zusammen. Wenn es aber wirklich Götter gab, was er heimlich bezweifelte, blieb schleierhaft, weshalb sie ihn bestraften und auf dieses verfluchte Schiff verbannten.

      Zur Mannschaft gehörten vierundzwanzig Leute, und er hielt sie alle für Schlächter. So blieb er einsam und für sich, obwohl er nicht allein an Bord war. Es schien niemanden zu geben, dem daran lag, sich mit ihm zu unterhalten. Falls er nichts unternahm, konnte er nachts, wenn alle an Deck schliefen, kein Auge mehr zutun. Die Gefahr, bei Nacht dem Meer übergeben zu werden, würde ihn künftig um den Schlaf bringen. „Mann über Bord“, würde jemand rufen – doch niemand würde ihn retten wollen. War er mit seinen Gedanken allein, sagte er sich, gegen die wüsten Gesellen, die sonst die Mannschaft ausmachten, war Joktan noch harmlos und im Grunde ein armer Tropf wie er. Aber er hatte eiskalt Schnotto umgebracht. Schon am zweiten Abend war Houke dem Verzweifeln nahe und fand wieder keinen Schlaf. Als die Sterne am Nachthimmel funkelten und er allein auf seinem Polster aus Segeltuch hockte, wuchs die Erkenntnis, es gab in dieser Mannschaft niemanden, der dazu im Stande war, sich in seine Lage zu versetzen, geschweige denn befähigt, Mitleid zu empfinden. Doch tat er einem Mann auf diesem Schiff bitter unrecht. Plötzlich baute sich einer der älteren Decksleute bei ihm am Mast auf. „Wer ein so hochmütiges Gesicht zieht“, hielt er Houke vor, „den sollte es nicht wundern, wenn keiner mit ihm reden will.“

      Houke fuhr hoch und wunderte sich, jemand, den er für einen unverbesserlichen Seeräuber hielt, so freundlich schmunzeln zu sehen. Seine Augen waren klar und offen, wie die eines Menschen mit einem eisernen Willen. „Wie heißt du?“, fragte Houke aus trockener Kehle.

      „Pollugs“, entgegnete jener. „Du meinst, es gibt unter den Flaggenlosen nur Mordbuben? Du irrst dich. Fast alle hier wünschten, sie könnten im nächsten Hafen an Land, und die Zeit bei den Schwertfischern hätte es nie gegeben. Das kannst du mir glauben oder nicht."

      Houkes Wangen brannten vor Zorn, und er schwieg bockig. „Du bist ein verhätscheltes Knäblein ohne Grundsätze oder Ehrgefühl“, machte ihm Pollugs klar. „Aber es liegt an dir, ob das so bleibt. Du musst lernen, was du dir zutrauen kannst und dir selber Einhalt gebieten, wenn du spürst, dass du eine Grenze übertrittst, mit der du schwerlich leben kannst. Also, richte keinen hin, nur um Suteman zu gefallen oder damit in der Gunst der Mannschaft zu steigen. Das lohnt sich nicht.“

      Ohne seine Antwort abzuwarten ließ sich der Mann mit dem zerzausten Vollbart bei ihm am Mast nieder und besann sich, wie es war, als er selbst ein allerersts Mal zur See fuhr – nämlich als Blinder Passagier. Auch von Nawbis, einer legendären Piratenstadt vor der Hethiterküste, erfuhr Houke durch ihn, und ausgerechnet hinter dem, den er anfangs für einen hartgesottenen Seeräuber einstufte, verbarg sich ein durch und durch gutmütiger Kerl, von dem man einiges lernen konnte. Er brachte Houke bei, wuchtig ein Enterbeil zu schmettern und zeigte ihm manchen Knoten. Und er genoss Ansehen unter den Schwertfischern, durch ihn wuchs Houke allmählich in die Horde der Freibeuter hinein.

      Die meisten dieser Bruderschaft waren so wie Joktan, bis auf die Kittelschürze und ein paar Ketten oder eine Seidenschärpe nackt, aber Pollugs wies ihm jene, die zum Urgestein der Bruderschaft zählten und ein eitler Wahn ritt. Zum Beispiel Suteman. Sein bis auf die Knöchel fallender Mantel aus schneeweißem Leinen glich dem eines Karwan-Baschis, war über und über bestickt mit Goldschnörkeln und anrüchigen Symbolen. Würde er einem in einem Hafen über den Weg laufen, man hielte ihn für einen Stadtfürsten. Jeris der Hebräer, der genau genommen Jeremias hieß und einem mit der Peitsche einen Strohhalm aus der Hand zu schlagen vermochte, trug ein faltig fallendes Batikgewand, hauchdünn und reich bestückt mit zierlichen Silberschellen, wodurch ihn ein leises Klirren auf jedem Schritt begleitete. Bedun, eine Ausgeburt des Kaukasus, stach durch ein Bärenfell und seinen struppigen braunen Vollbart hervor. Houke mied ihn sorgsam, weil er häufig andere anpöbelte und den geringsten Anlass für eine Schlägerei leidenschaftlich nutzte.

      Auch vor einem verschlagenen Syrer warnte ihn Pollugs ausdrücklich. Hiram trug einen nadeldünnen Ohrring mit dem Ausmaß eines Armreifs; seine ausgemergelten Wangen und der versteckte Husten, mit dem er dann und wann herausplatzte, sorgte für das Gerücht, er müsse Lungenkrank sein. Er mochte vierzig sein, wirkte allerdings weit älter und war Sutemans rechte Hand. Meistens zeigte er sich in seiner nachtblauen Samtjacke, doch er war eitel wie ein Paradiesvogel und putzte sich vielseitig heraus. Auch in dieser Hinsicht hob sich Pollugs von den anderen ab. Seine Kleidung bestand praktisch aus einem rotgefärbten Antilopenlederschurz und einem schlichten Schultergurt, an dem seine Doppelaxt baumelte und ein kurzes Bronzeschwert.

      Die besinnlichen Momente, in denen sich Houke seines zahmen Hamsters erinnerte oder an Alda denken musste, oder sich vorstellte, was er zu seinem Vater sagen würde, wenn er ihm eines Tages wieder unter die Augen treten musste, die wurden nun seltener. Houke fing an, sich an den Alltag auf einem Schiff zu gewöhnen, fügte sich in das ihm abverlangte und orientierte sich an Pollugs. Kräftig gebaut war er schon als Knabe, aber die Einsätze auf der Ruderbank bewirkten, dass er auf einmal die Muskeln in seinen Oberarmen spürte. Mitunter geriet er leider aus dem Takt, und böse Stimmen erhoben sich, dann konnte er nicht beleidigt von der Bank hochspringen. Da galt es, die Zähne zusammen beißen und in den Rhythmus der rudernden Mannschaft zurückfinden. Nach einem rüden Schlag in den Nacken sah er das ein und gab sich Mühe. Und das zählte bei den Leuten. Was unerträglich zunahm, war die heimliche Angst vor der Stunde, in der er beim Entern dabei sein würde.

      3. Kapitel

      Das Gefühl, jeder in der Mannschaft lehne ihn heimlich ab, nagte an Houkes Stolz und verletzte sein Selbstwertgefühl. Ihn störte der Unterton, wenn man mit ihm sprach, und die verächtlichen Blicke, die Joktan ihm dann und wann zuwarf, vertieften es. Sie machten ihn sprachlos, denn sie konfrontierten ihn mit der Angst, für die Leute ein Tölpel zu sein. Instinktiv hielt er sich an Pollugs und vertraute dem an, was ihm zu schaffen machte. „Ich hasse diesen Hundesohn von Sidonier und wünschte, ich hätte mich nie mit ihm abgegeben. Zu Brei möchte ich ihn schlagen.“

      „Lässt du dich zu einer Rauferei hinreißen, verlierst du jegliches Ansehen“, überlegte Pollugs.

      Houke rieb sich die Stirn. „Ja, ja, ich weiß“, murmelte er und hörte hinter sich ein Räuspern. Am Mast lehnte mit verschränkten Armen der junge Armenier, den er inzwischen schätzen gelernt hatte, weil er gute Laune an Deck verbreitete. Seine Mutter gehörte dem Stamm der Hebräer an, der von den Egyptern zum Bau der Pyramiden eingespannt wurde, und floh in jungen Jahren auf abenteuerliche Weise nach Karkemisch, und er ähnelte eher ihr als seinem armenischen Vater. „Suteman und Hiram haben Kurs auf Kreta befohlen“, informierte er Pollugs.

      Der sah Houke aufmerkend an. „Wir haben genügend Elfenbein im Laderaum, einen Thronsaal auszustaffieren. Hasdrubal wird das schon organieren. Ein Palast, wie der jüngst in Knossos in aller