G. T. Selzer

Volle Deckung


Скачать книгу

Nach ein paar Augenblicken sah man seinen Kopf wieder aus der Menge auf der Treppe auftauchen, seinem Kollegen zunicken und wieder kehrtmachen.

      Diesen winzigen Moment der Unaufmerksamkeit genügte den beiden Obdachlosen, ihre Habe und ihre Beine in die Hand zu nehmen und einen bewundernswürdigen Sprint in Richtung Zeil hinzulegen.

      Sie bogen in die Kino-Passage ein und waren verschwunden.

      Oben an der südlichen Rolltreppe zur B-Ebene flatterte ein rot-weißes Absperrband mit POLIZEI-Aufdruck im Wind, am unteren Ende, in der Ebene selber, war die Treppe ebenso gesperrt. Die Schaulustigen jetzt, gegen zehn Uhr vormittags, auf Abstand halten zu wollen, war ein Ding der Unmöglichkeit. Nicht, dass es eine Seltenheit gewesen wäre, dass eine oder mehrere Rolltreppen zur Ebene geschlossen oder außer Betrieb waren. Auch an den Anblick von etlichen Einsatzwagen und grün Uniformierten – ja, von ganzen Hundertschaften war man in der City gewöhnt. Doch diesmal standen sie nicht drohend da, mit Helmen, Schilden und Wasserwerfern bewaffnet und in undurchdringlicher Formation ungerührt gerade aus starrend. Obwohl Hauptkommissar Paul Langer sich sehnlichst wünschte, dass es heute so wäre.

      Mit sicherem Instinkt hatten die Passanten schon oben erkannt, dass ihnen hier etwas Besonderes geboten wurde. Einige Schutzpolizisten versuchten ihr Möglichstes, konnten jedoch nicht verhindern, dass das Team der Kriminalpolizei auf Schritt und Tritt beobachtet und kommentiert wurde. Die Kecksten unter den Zuschauern mussten immer wieder hinter das Absperrband zurückgedrängt werden. Blitzlichter flackerten auf. Ein ganzer Bus Japaner, die auf dem Weg zum Goethehaus um die Ecke waren, gaben der Live Performance des einundzwanzigsten Jahrhunderts eindeutig den Vorzug.

      „Himmel Herrgott – treib das Volk da weg, Schmidtbauer!“ brüllte Langer mit gefährlich rotem Kopf zur Treppe hoch und hinter sich in die B-Ebene hinein. Der kleine dicke Kommissar ruderte mit den Armen, stürmte die Treppe halb hoch, wurde von einem Mann im weißen Overall sanft zurückgehalten – alles in allem gab er keine gute Figur ab.

      Einige im Publikum kicherten. Wahnsinn, was für eine Vorstellung! Damit hatte keiner gerechnet, als er heute Morgen aus dem Haus ging.

      Besser als Fernsehen.

      Wie aufs Stichwort tippte einer aus der Menge seinem unbekannten Vordermann auf den Oberarm. „Drehen die hier?“ – Der zuckte die Schultern, stieg noch ein wenig mehr auf die Zehenspitzen und versuchte, hinunter in die B-Ebene zu spähen. „Keine Ahnung. Aber ich glaub, die sind echt.“ Er drehte sich um. „Keine Kamera.“

      „Allmählich sollte der Chef ja nun wirklich dran gewöhnt sein“, murmelte derweil ein modisch gekleideter, schlaksiger Kripobeamter in der unteren Ebene. Er nahm den jungen Obermeister Schmidtbauer beiseite, als der sich mit hochrotem Kopf wieder der Menge zuwenden wollte.

      „Hör mal, Jens. Hol Verstärkung und lass dir von jedem, der nicht sofort verschwindet, die Personalien geben. Mit Ausweiskontrolle und allen Schikanen.“ Er betonte das letzte Wort und zwinkerte dem jungen Kriminalobermeister zu.

      „Aber ...“

      „Mach einfach. Der Chef platzt gleich wie ein Luftballon.“

      Unten vor dem Eingang zu den Schließfächern hatte Dr. Eilers inzwischen die erste Untersuchung der Leiche, die einmal das Peterche war, abgeschlossen. Er stand auf.

      „Schlag auf den Kopf. Schädeltrauma, Gehirnblutung. Grob geschätzt zwischen ein und vier Uhr heute Nacht.“ Er packte seinen Sachen zusammen, wollte verschwinden, kam dann aber der Frage Langers zuvor:

      „Ich mach's gleich heute Nachmittag.“

      Mürrisch beobachtete Langer, wie der Körper in einen Plastiksack und auf eine Bahre gelegt wurde. Jetzt kam der unangenehmste Teil: Die Träger mussten ihre Last über die Treppe nach oben zum wartenden Leichenwagen bringen. Doch wider Erwarten machte die Menge ihnen Platz. Noch mehr Kameras klickten. Für einen kurzen Moment war Stille.

      Der schlaksige Beamte, Oberkommissar Korp, bekam seinen Vorgesetzten zu fassen, als dieser nach einem weiteren Blick auf das kriminaltechnische Team sich eben suchend nach ihm umdrehte. Der visuelle Gegensatz zwischen dem immer leicht schmuddelig wirkenden dicken Langer und dem schlanken, eleganten Korp hätte kaum größer sein können. Und der charakterliche auch nicht.

      „Keine Chance, Chef. Die Kollegen von der Streife sagen, dass sie die beiden Penn... – äh, Nichtsesshaften noch festgehalten hatten, doch dann sind sie, ich meine die – äh – Stadtstreicher, so plötzlich verschwunden, dass ...“

      „Wär' auch zu schön gewesen. Haben sie eine Beschreibung abgegeben?“

      „Na ja, wie Penner halt.“ Auf Langers Blick hin zuckte Korp die Schultern. „Mittelgroß, dreckig, eingemummt in undefinierbare Klamotten, Bart, zerlottert. Nichts Auffälliges.“

      „Gut, dass wir es mit geschulten Polizisten zu tun haben.“ Langer seufzte und schüttelte unwillig den Kopf. „Schmidtbauer soll sich in den Obdachlosenheimen und Suppenküchen umhören. Da wird doch jetzt überall drüber geredet. Wär' doch gelacht, wenn wir die beiden nicht zu fassen bekämen.“

      „Viel verspreche ich mir nicht davon, Sie etwa? Die werden's ja nicht selber getan haben, so blöd können die doch nicht sein, und nachher selber nach der Polizei schreien. Das hat jedenfalls diese Zeugin ausgesagt. Und andere Informationen kriegen wir aus denen nicht raus.“

      Langer schnaubte. „Und deshalb lassen wir's am besten gleich sein, oder was?“

      Natürlich nicht, dachte Korp. Im Stillen jedoch hatte er gehofft, dass dieser Kelch in Form einer Vernehmung von ungewaschenen Mitmenschen, die im Verhörraum oder gar in seinem Büro eine deutliche Geruchsspur hinterlassen würden, an ihm vorüberginge. Er sah an seinem neuen Designer-Dreiteiler herab und schnippte ein imaginäres Staubkorn weg.

      Und es kam genau so, wie er befürchtet hatte. Schmidtbauer hatte überraschend schnell Erfolg gehabt und die beiden Clochards gegen Mittag an der Konstabler Wache aufgespürt. Sie hatten sich nicht geweigert, sondern nur resigniert mit den Schultern gezuckt und waren in den Dienstwagen gestiegen.

      Schmidtbauer kurbelte die Seitenfenster herunter, ließ die gute Frankfurter Luft in den Wagen und atmete tief durch. Amüsiert registrierte er, dass die beiden die Fahrt durch die halbe Stadt zu genießen schienen. Immer wieder reckten sie die Köpfe, als versuchten sie, die Blicke von Kameraden da draußen auf sich zu ziehen. Bedenken wegen ihres guten Rufs schienen sie nicht zu haben.

      Jetzt allerdings hockten sie wie zwei Häufchen Elend in Korps Büro. Auch hier waren die Fenster weit offen. Schmidtbauer hatte seinen Chef fragend angeschaut und, als Korp ihm ein Zeichen gab, erleichtert das Zimmer wieder verlassen.

      Korp blätterte in der Akte Peter Landgraf, die, wiewohl im Augenblick nur aus drei Blättern bestehend, offensichtlich seine ganze Aufmerksamkeit beanspruchte. Endlich sah er auf.

      „Also: Karl Pinneberg und Manfred Becker. Das sind Sie?“

      Manne und Pinnekarl nickten stumm und unisono.

      Korp nahm mit spitzen Fingern die beiden abgegriffenen Personalausweise, auf denen ihm die bürgerlichen Gesichter der Herren Becker und Pinneberg entgegenblickten. Mit viel Fantasie konnte er sie den vor ihm Sitzenden zuordnen. Auf der Rückseite war der Vermerk auf dem Klebestreifen „Ohne festen Wohnsitz“ kaum noch zu lesen.

      „Nun erzählt mal ganz genau – wie war das denn, als ihr euren Kumpel gefunden habt?“, fragte er jovial.

      Nach einem kurzen Blickwechsel ergriff der Pinnekarl das Wort. „Also, heut morge bin ich früher uffgewacht, von dem sein Mordsgeflenn“, er stieß Manne mit dem Ellebogen in die Seite.

      „Eine Sauerei war das – eine Riesensauerei! Da habense mir doch den letzten Rotwein geklaut über Nacht, den wollte ich ...“

      Er erntete einen neuerlichen Stoß. „Erzähl ich odder du?“

      Manne sackte wieder in sich zusammen, schob die Hände unter die Oberschenkel und starrte vor sich hin, während Karl sich immer mehr in seine Rolle des