G. T. Selzer

Volle Deckung


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gesetzt hatte.

      „Voll bescheuert! Dabei hab ich das doch kapiert, aber dann ...“ Anna zuckte hilflos mit den Schultern.

      Nachdenklich blätterte Thea in dem Heft. Dreien und Vieren. Das Kind war eindeutig nicht zur Mathematikerin geboren. Doris und Otto unterrichteten beide Physik und Chemie. Konrad, der älteste, studierte Medizin, sein jüngerer Bruder Harry, hatte gerade sein Studium der Informatik aufgenommen und Danny im letzten Jahr den Mathematik-Wettbewerb der Schule gewonnen. Anna war ganz entschieden aus der Art geschlagen. Sie schrieb schöne Aufsätze, und hatte ein ausgesprochenes Talent, so fand Thea, mit Farben umzugehen – auch wenn das der Kunstlehrer nicht immer honorierte.

      „Wir machen jetzt folgendes: Wir essen Pizza, dann rechnest du das alles noch mal nach …“

      „... alles?

      „Na ja, das meiste. Du hast es doch kapiert, oder? Dann dauert es sicher nicht so lange. Was ist mit den Hausaufgaben?“

      „Nur den blöden Aufsatz in Deutsch. Englisch habe ich schon in der Schule gemacht.“

      „Was ist das für ein Aufsatz?“

      „Wir sollen über das Buch schreiben, das wir zuletzt gelesen haben.“

      „Und das ist blöd?“

      „Na ja, ich hab doch mindestens drei Bücher angefangen! Eins auf dem Nachttisch, eins im Ranzen für den Bus und ...“

      „Dann nimm das spannendste.“

      „Sind sie doch alle! Sonst würde ich sie doch nicht lesen!“ Ihre Augen blitzten schon wieder. „Ich nehm’ das!“ sagte sie dann nach kurzem Überlegen und wühlte wieder im Ranzen.

      „Gut. Und danach fahren wir in den Taunus. Ich muss da noch jemanden besuchen.“

      „Die Verrückte?“

      Thea sah sie streng an. „Sie ist nicht verrückt, nur ein bisschen verwirrt. Weil sie schon so viele schlimme Sachen erlebt hat.“

      „Aber sie wohnt doch in diesem Haus für Verrückte!“

      Thea reagierte nicht darauf und sagte stattdessen: „Vielleicht reicht die Zeit ja noch für ein Eis.“

      „Oh, cool!“

      Die Rechnerei war eine Qual und ging zwar nicht fehlerlos, aber doch bei weitem besser als in der Arbeit. Der ‘blöde’ Aufsatz dagegen war ruck zuck fertig. Carlos Pizza schmeckte vorzüglich wie immer.

      Gegen halb fünf hatten sie die Stadt hinter sich gelassen und fuhren über kühle, schattige Waldwege zu Professor Sandmanns Klinik.

      „Ach, Frau Dettner, guten Tag. Schön, dass Sie wieder mal vorbeischauen. Warten Sie bitte hier, sie kommt gleich herunter. Sie freut sich schon den ganzen Tag auf Ihren Besuch.“ Schwester Mathildes grimmige Züge lockerten etwas auf, wurden aber gleich wieder streng, als sie Anna sah. „Was ist denn das?“

      Anna war in eine lebhafte, wenn auch recht einseitige Konversation mit zwei älteren Damen vertieft, die vor der Tür in der Sonne saßen.

      „Und das ist meine Tante“, sagte sie gerade, während sie auf Thea zeigte. „Aber eigentlich ist sie ja gar nicht meine Tante. Aber irgendwie doch. Sie kennt meine Mama schon ewig lange, schon vor meiner Geburt. Und dann haben wir noch Tessy. Einen Berner Sennenhund. So groß.“ Ihre rechte Hand schnellte hoch bis etwa in Höhe ihrer linken Schulter. Die beiden Damen nickten freundlich und lächelten stumm.

      Schwester Mathilde warf der kleinen Gruppe einen Blick zu. „Passen Sie auf, dass das Kind nicht auf die Stationen geht. Das ist verboten!“ sagte sie gereizt.

      In diesem Augenblick kam Bianca von Hellgarten die breite Treppe herunter und winkte ihnen zu. Thea begrüßte sie und trat mit ihr ins Sonnenlicht.

      „Anna, komm, wir gehen in den Park. Das ist Anna“, stellte sie das Kind vor. „Anna, das hier ist Frau von Hellgarten.“

      „Hallo, guten Tag. – Und tschüss!“ Das Mädchen wandte sich noch einmal zu den beiden Damen auf der Bank um. „Und wenn ich wieder komme, erzähle ich Ihnen von ...“

      „Nun komm schon!“

      Langsam gingen sie am Springbrunnen vorbei, der am Ende der Auffahrt sein Wasser in die Luft schoss, und wandten sich den Anlagen zu. Thea hatte Bianca vor drei Jahren im Sanatorium von Professor Sandmann kennen gelernt. Damals hatte sie hier ihre Tante besucht, die im Zimmer neben Frau von Hellgarten wohnte. Fräulein Erika Strielitz – sie gehörte zu den Frauen, die noch Wert auf diese Anrede legten – war 17 Jahre älter als ihr Vater gewesen und für Thea so eine Art Großmutterersatz. In jüngeren Jahren eine durchaus emanzipierte Geschäftsfrau, war sie durch geschickte Grundstücksspekulationen in Frankfurt zu viel Geld gekommen. Den größten Teil ihres Vermögens hatte sie diversen wohltätigen Einrichtungen vermacht, nicht ohne Thea schon zu Lebzeiten mit einer ordentlichen Schenkung zu bedenken, mit der diese ihren Kiosk-Laden finanziert hatte. In ihren letzten Monaten hatte die Demenz eingesetzt. Die Krankheit verlief rapide, doch sie war immerhin 90 Jahre alt geworden und bis ins hohe Alter geistig sehr rege. Zum Schluss allerdings hatte sie Thea nicht mehr wahrgenommen.

      Bei diesen Visiten hatte Thea Frau von Hellgarten kennengelernt und die Besuche bei ihr nach dem Tod der Tante vor vier Monaten fortgesetzt.

      Sie schätzte Bianca von Hellgarten etwa auf Mitte 60. Selbst nach Jahren des Klinikaufenthalts strahlte die Frau noch die elegante Nonchalance aus, wie sie einigen Menschen eigen ist und von anderen nicht erlernt werden kann. Sie redete sehr viel und war nach Meinung der Ärzte manisch-depressiv, was immer das heißen mochte. Thea hatte keine nennenswerten Gemütsschwankungen bei der Patientin feststellen können. Nicht, dass ihr Bianca als ausgesprochen ausgeglichener Charakter vorgekommen wäre, aber unter manisch-depressiv hatte sie sich immer etwas anderes vorgestellt. Bianca war etwas schusselig, wiederholte sich oft und überraschte dann wieder mit Erinnerungen an Einzelheiten, die Thea ihr Wochen vorher erzählt hatte.

      Das wasserfallartige Gerede – belangloses Zeug aus dem Klinikalltag, wenig über die Vergangenheit – war gewohnheitsbedürftig, doch war Biancas Freude, Thea zu sehen, immer so überwältigend und ehrlich, waren ihre Augen beim Abschied stets so ängstlich und hoffnungsvoll, dass Thea es nicht über das Herz brachte, die Besuche einzustellen. Und es war nach einem hektischen Arbeitstag unendlich beruhigend, in diesem Park spazieren zu gehen und durch die Wiesen zu wandern.

      Thea atmete tief ein, während Anna vorauseilte und Frau von Hellgarten ununterbrochen redete. Obschon zu jeder Jahreszeit herrlich, war der Park jetzt im Mai ein Traum. In den weiten, sanft abfallenden Rasenflächen hatte man Wege angelegt, an denen in Abständen Parkbänke zum Verweilen einluden. Uralte Bäume wechselten ab mit blühenden Sträuchern, die Farben der Blumenrabatten schienen um die Wette zu leuchten. Zu keiner Zeit des Jahres lag ein solcher Duft in der Luft wie jetzt.

      Plötzlich war es still. Thea spürte, wie die Frau neben ihr sie fragend anschaute.

      „Äh – wie bitte?“ Sie hatte nicht zugehört.

      „Ich fragte, wie geht es Ihren Eltern? Alles in Ordnung?“

      Thea seufzte leise. Wie viele Male hatte sie diese Frage schon beantwortet? Frau von Hellgarten kannte Theas Familie, abgesehen von Tante Erika, nicht; es war nicht mehr als eine Höflichkeitsfloskel, die sie jedes Mal in ihr einseitiges Gespräch einfließen ließ.

      „Meine Eltern sind tot“, sagte Thea geduldig. „Mein Vater starb, als ich zwölf war. Meine Mutter vor sechs Jahren.“

      Bianca nickte nur. „Und das Geschäft läuft gut?“

      Also, das weiß sie noch, dachte Thea. Merkwürdig, wie der menschliche Verstand arbeitet.

      Sie hatten den Park einmal umrundet und standen wieder am Springbrunnen, in dessen Nähe Theas Toyota geparkt war. Anna hatte unterdessen ihre Untersuchungen von Flora und Fauna des Parks beendet und gesellte sich wieder zu ihnen.

      Es war spät geworden. Auf dem Nachhauseweg musste