G. T. Selzer

Volle Deckung


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die stickig heiße Luft. Mit ratterndem Getöse sauste das Förderband der Weiterverarbeitungsmaschine auf und nieder. Tausende von Zeitungen wurden nacheinander auf das Band gespuckt, gefalzt, rasten weiter durch den Raum, nahmen noch einmal eine Westkurve und landeten schließlich eine nach der anderen auf gleich großen Stapeln. Eine andere Maschine bemächtigte sich ihrer, presste sie zusammen und umgürtete sie mit einer festen Banderole aus Plastikband. Stapel um Stapel fand sein vorläufiges Schicksal am Ende der Halle in der Nähe der Laderampe, wo Lastwagen bereit standen, um die Berge von Papier in die wissensdurstige Welt hinauszubefördern. Es war elf Uhr abends, eine neue Ausgabe der Frankfurter Neuen Zeitung war so gut wie ausgedruckt.

      Der da unter dem Förderband lag, würde sie nicht lesen. Er würde überhaupt keine Zeitung mehr lesen. Ihm machte weder der Lärm noch die Hitze zu schaffen. Er sah, hörte und fühlte nichts mehr.

      „Halten Sie gefälligst die verdammte Maschine an!“ Hauptkommissar Langer brüllte – wenig erfolgreich – durch die Halle. „Man versteht ja sein eigenes Wort nicht!“

      „Wo denken Sie hin? Völlig unmöglich!“ Herbert Steiner schrie zurück, schüttelte den Kopf und gestikulierte wild mit den Händen, als würden dadurch seine Ausführungen den Lärm besser übertönen. „Die Ausgabe muss raus!“

      „Und wie lange ...?“

      „Eine Stunde etwa noch!“

      „Wo können wir uns mal in Ruhe ...?“

      Steiner zeigte in den hinteren Teil der Halle: „Da, im Sozialraum.“

      Er beobachtete, wie der dicke Kommissar einen Mann mit Köfferchen herbeiwinkte – offensichtlich der Polizeiarzt – und dann mit einem jungen, baumlangen Schnösel in Anzug, Weste und Krawatte die Halle in Richtung Aufenthaltsraum verließ. Draußen an der Rampe war gerade ein großer Van vorgefahren, aus dem die Mitarbeiter der Spurensicherung stiegen. Sie hoben weitere Koffer und Gerätschaften aus dem Wagen und blieben im Hintergrund.

      Man müsste den Chef benachrichtigen, dachte er.

      Der Schnösel kam nach einigen Minuten zurück und winkte ihm und José Almeida zu, der neben Herbert getreten war.

      José grinste. „Jetzt kommt Vernehmung – wie im Fernsehen.“

      Sie beobachteten, wie der Schnösel heftiger mit den Armen wedelte und rührten sich nicht von der Stelle. Dann sahen sie ihn näher kommen. „Nun machen Sie schon. Wir haben nicht die ganze Nacht Zeit!“

      „Nur einer von uns“, Steiner verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte bestimmt den Kopf. „Einer muss immer bei der Maschine bleiben!“

      Korp seufzte. „Also schön, Sie!“

      Herbert Steiner folgte ihm in den Aufenthaltsraum. Jäh umfing ihn eine wohltuende Stille, als er die Tür hinter sich schloss. Der Raum war einigermaßen schallgeschützt und entsprach durchaus in allen Punkten den Bestimmungen der Arbeitsstättenverordnung. Schön war er trotzdem nicht. Aber das war auch nicht vorgeschrieben. Eine ganze Wand wurde von einem Fenster zur Halle eingenommen. Ein Tisch stand in der Mitte, um den etwa zehn Stühle gruppiert waren. In der linken Ecke, gleich neben der Tür, eine kleine Kochnische mit Kühlschrank, Kochplatten, Kaffeemaschine, Wasserkocher. An der anderen Wand hing ein Kalender vom Vorjahr mit nicht allzu bekleideten Damen, ein weiterer des laufenden Jahres mit dem großen Logo der Druckerei, in der sie sich befanden. Darunter ein kleiner Bestelltisch mit einem Telefon und einigen Papieren. An der rechten Wand, die wie alle anderen in einer undefinierbaren beige-grau-gelben Farbe gestrichen war, ein kleines Sofa; eine alte Tragbahre lehnte vernachlässigt an der Wand. Ein Aufenthaltsraum, wie er in Millionen Fabriken auf der ganzen Welt nicht anders aussah – mit dem Nötigsten, das arbeitende Männer in ihren Pausen brauchen. Und mit mehr nicht.

      Während er an den Kühlschrank trat und eine Flasche Wasser herausholte, murmelte Steiner: „Dr. Zanker muss benachrichtigt werden. Und Herr Bossek.“

      Der dicke Kommissar sah ihn mürrisch an. Ohnehin nicht von der lebenslustigen Sorte, war die augenblickliche Tages- beziehungsweise Nachtzeit nicht dazu angetan, seine Laune zu heben. „Ihre Chefs? Haben Sie das noch nicht getan?“

      „Nein, ich dachte, erst die Polizei. Außerdem haben wir hier die Nummern von den Herren nicht. Nur die vom Chef vom Dienst, dem Werner Nagel.“

      „Also?“

      Steiner ging wortlos, die Wasserflasche in der Hand, zum Beistelltisch und holte ein Blatt Papier, das in einer Plastikfolie steckte.

      „Rufen Sie ihn an und sagen Sie ihm nur, dass er so schnell wie möglich in die Druckerei kommen soll, sonst nichts!“, schärfte Langer ihm ein.

      Es war ein überraschend kurzes Gespräch. „Er kommt sofort."

      „Und Sie sind?“, fragte Langer endlich.

      „Bin hier Gruppenleiter und sollte gar nicht da sein. Habe nämlich heute gar keine Nachtschicht. Aber um drei heute Nachmittag hat mich der Chef vom Dienst angerufen, dass ich abends um sieben hier arbeiten soll. Martin Klose ist krank geworden.“

      Der Kommissar wedelte ungeduldig mit der Hand. „Ihr Name?“

      „Herbert Steiner. Und Ihrer?“

      Der Langer starrte ihn an und schnappte nach Luft. Dann klappte sein Mund zu. Korp blickte auf, atmete tief ein, sagte aber nichts.

      „Paul Langer, Kriminalhauptkommissar. Das ist Kriminaloberkommissar Johannes Korp.“ Langer sprach betont ruhig, zeigte zu dem Kollegen und hielt Herbert kurz seinen Ausweis unter die Nase. „Ich dachte, das hätte ich schon gesagt.“

      Der Drucker hatte sich den Ausweis geschnappt, bevor Langer ihn wieder einstecken konnte, und ging damit einen Schritt unter die Deckenleuchte. Während er aufreizend langsam seine Brille aus der Brusttasche des Overalls fingerte, auf die Nase setzte und in aller Ruhe den Ausweis studierte, sagte er beiläufig: „Nein, haben Sie nicht. Nur dass Sie von der Mordkommission sind.“

      Korp stöhnte lautlos. Irgendetwas lief hier gerade schief.

      Steiner schien zufrieden mit dem Ergebnis, gab den Ausweis zurück und zeigte auf die Stühle, während er sich setzte.

      „Äh – ja, also“, begann er. „Der Inhaber heißt Zanker, Dr. Gerhard Zanker, der Verleger. Kommt eigentlich selten ins Haus; hat sich ziemlich zurückgezogen. Hat eine Hütte irgendwo am Taunusrand. Dort, wo die ganz armen Leute wohnen, Sie verstehen?“ Er zwinkerte dem Beamten zu. Der reagierte nicht. „Herr Bossek ist der Geschäftsführer.“

      „Kennen Sie den Toten? Haben Sie ihn schon einmal gesehen?“

      Kopfschütteln, während Steiner die Wasserflasche hob und trank.

      „Wer ist normalerweise ab – sagen wir – sieben Uhr abends hier in der Halle?“

      „Die Nachtschicht. Sie beginnt um achtzehn Uhr. Das sind heute José und ich hier in der Endabfertigung am Band. Müller mit seinen drei Aushilfen an der Rampe zum Stapeln und Beladen der Lkws. Ach ja, und natürlich die drei Drucker vorne an der Maschine.“

      „Jeden Abend, auch am Wochenende?“

      „Nein. Samstag abends normalerweise nicht, weil sonntags keine Zeitung erscheint.“

      „Das heißt, am Samstag ist hier keiner?“

      „Genau. Die Halle ist von Samstag vier Uhr morgens bis Sonntag gegen siebzehn Uhr geschlossen. Erst am Sonntag gegen Abend wird geöffnet, wie gesagt, wenn die Montagsausgabe gedruckt wird.“

      „Sie haben den Toten gefunden, richtig?“

      Erneutes Nicken.

      „Jetzt ist es fast elf. Um Viertel nach zehn heute Abend ging Ihr Anruf bei den Kollegen ein. Heißt das, Sie haben hier vier Stunden gearbeitet, ohne den Toten zu sehen?“

      „Hören Sie, der Mann lag unter dem Förderband, wir hatten genug am Ende des Bandes zu tun, weil da eine Komplikation aufgetreten war. Irgendwas hatte sich