G. T. Selzer

Volle Deckung


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den anderen zu überzeugen. „Wissen Sie, es ist halt mein erster Unfall. Echt!“

      „Na, das will ich echt hoffen! Noch nicht lange Führerschein, wie?“

      „Nee – erst jetzt, noch kurz vorm Abi!“ Jetzt strahlte er, sein Bärtchen machte sich auf dem Kinn breit.

      „Glückwunsch!“ Robert stieg wieder ein. „Und Entschuldigung für den Schrecken! Bis dann!“ Er winkte ihm noch einmal zu und fuhr vorsichtig an dem weißen Wagen vorbei.

      Erst ein paar Kilometer später ging Robert auf, wie es zu dem Unfall gekommen war. Der Junge musste eben aus einer Seitenstraße in die B 275 eingebogen sein, aber zu langsam beschleunigt haben. Robert wiederum hatte das mit Sicherheit nicht das Tempolimit von 80 km/h eingehalten. Er schätzte, dass die Tachonadel eher in Richtung von 100 Stundenkilometern unterwegs war. Der weiße Golf war so plötzlich vor ihm aufgetaucht, als sei er vom Himmel gefallen. Die Vollbremsung steckte Robert immer noch in den Knochen. Und er war von der Radiomeldung völlig abgelenkt gewesen.

      Die Radiomeldung ...

      Nun, warum sollte er nicht auch mal Glück haben? Gestern der Auftrag – heute im Radio. Er grinste und wurde gleich wieder ernst. Zur Assoziationsreihe „verwirrt“ und „Königstein“ konnte einem nur die Klinik von Prof. Sandmann einfallen. Auf jeden Fall der beste Ansatz, um mit der Suche zu beginnen. Dass es nicht so einfach würde, war ihm klar. Aber immerhin, es war der erste Schritt, Bianca von Hellgarten zu finden.

      Bianca von Hellgarten …

      Riesige Flächen von Gelb, nur an einigen Stellen unterbrochen von kräftigem Grün, umsäumten die Landstraße. Robert ließ die Scheibe herunter, und während er den Duft der Rapsfelder um ihn herum in sich einsog, grübelte er vor sich hin.

      Dieser Hans Meier hatte gestern gesagt, es gehe um Leben und Tod. Hatte er übertrieben? Merkwürdig war er gewesen, ja. Doch ein Wichtigtuer? Nein. Er sah nun nicht so aus, als würde das Geld in seinem Garten auf Bäumen wachsen.

      Eher so, als ob er wirklich Angst um die Frau hätte.

      Und nun war sie verschwunden.

      Kurz entschlossen bremste Robert, wendete auf der Straße und hielt auf die A5 zu. In Rosbach, kurz vor der Auffahrt, hielt er am Straßenrand und rief die Auskunft an.

      Das Sanatorium war ein Haus für bessere Kreise. Etwas anderes war auch nicht zu erwarten bei dieser Adresse. Wer hier seine Absonderlichkeiten pflegte, durfte kein Kassenpatient sein. Die Klinik lag etwa zehn Kilometer außerhalb von Königstein erhöht auf einem kleinen Hang, der in sanftem, anmutigem Gefälle erst in einen gepflegten Rasen, dann in eine über und über mit Blumen bestandene Wiese und schließlich in den nahen Wald überging. Rund um das prachtvolle weiße Haus war kunstvoll ein kleiner Park mit blühenden Sträuchern angelegt, der die ehrwürdigen alten Bäume harmonisch integrierte. Ein Bild der Ruhe und des Friedens.

      Robert Stenger ließ den Wagen am Beginn der malerischen Auffahrt, die sich in leichten Biegungen weiter den Hügel hinauf schlängelte, langsam ausrollen und betrachtete nachdenklich die Idylle. Er wusste, dass dies hauptsächlich eine psychiatrische Klinik war, nur ein kleiner Teil des Anwesens war für eine exklusive Seniorenresidenz reserviert. Das noble Ambiente konnte leicht darüber hinweg täuschen, dass es durchaus nicht nur belanglose Macken waren, die gelangweilte Millionäre hier auskurierten. Die schweren Fälle waren diskret in einem gesonderten Flügel untergebracht, abgeschottet durch schalldichte Türen und lange Flure. Nur in ihren künstlich herbeigeführten ruhigen Zeiten sah man sie im Park in Rollstühlen sitzen, neben kräftig gebauten Pflegern vorsichtige Schritte tun, auf Parkbänken blicklos vor sich hin starren.

      Kein Zaun, keine Mauer versperrte den Patienten den Ausgang aus dieser Abgeschiedenheit; beides war auch unnötig. Der Hügel bot einen weiten Blick über Rasen und Wiesen; jeder, der hier ankam oder wegging, war weithin sichtbar. Und die angrenzenden dichten, unwegsamen Wälder des Taunus bildeten den besten Zaun und die sicherste Mauer. Selbst ein Mensch, der seine fünf Sinne vollständig beisammen hatte, hätte sie kaum unbeschadet durchqueren können. Keiner hatte es auch je versucht.

      Doch war es Bianca von Hellgarten gelungen, von hier spurlos zu verschwinden.

      Robert selber hatte leise vor sich hin fluchend etliche Nebenstraßen und Feldwege ausprobiert, ehe er endlich die kleine, versteckte Abbiegung gefunden hatte, die zur Auffahrt führte. Nirgendwo war ein Hinweisschild auf die Klinik gewesen.

      Uneingeschränkter Herrscher über knapp 80 ausgewählte Patienten, einen Stab von Fachärzten, Schwestern und Pflegern war Professor Dr. Dieter Sandmann, eine Kapazität mit internationalem Ruf, wie es hieß.

      Das Hauptportal war noch kaum in Sicht, als Robert zwei Athleten der Sonderklasse im weißen Pflegerhabit vor die Tür treten sah. Er gab sich gar nicht erst der Illusion hin, dass sie zufällig in diesem Moment frische Luft schnappen wollten. Sie gingen langsam die Treppe hinunter und blieben, seine Ankunft aufmerksam verfolgend und die Arme über den muskulösen Oberkörpern verschränkt, auf der untersten Stufe stehen. Videokameras, dachte Robert. Sie mussten bereits unten im Wald installiert sein. Er hatte zwar davon gehört, dass die Klinik gut bewacht war, doch er hatte nicht mit Fort Knox gerechnet.

      „Stenger. Guten Tag. Professor Sandmann erwartet mich“, sagte er forsch, nachdem er ausgestiegen war. Der eine Gorilla wandte sich ab und ging wortlos die Steinstufen hinauf, der andere blieb stumm stehen und ließ Robert nicht aus den Augen. Beide warteten. Robert versuchte, lässig zu erscheinen. Ihm war es zwar gelungen, die Sekretärin des Klinikleiters an den Apparat zu bekommen – allein das war schon schwierig genug – einen Termin mit ihrem Chef zu vereinbaren, war erwartungsgemäß unmöglich gewesen. Jetzt erwartete er auch nicht, den Professor sprechen zu können, doch hoffte er, in das Haus zu gelangen und mit der Sekretärin zu reden.

      Der Pfleger kam zurück. „Der Herr Professor ist nicht im Hause.“

      „Aber ich habe doch mit Frau Stein gesprochen.“ Das war nicht gelogen.

      Der Pfleger, der mit ihm gewartet hatte, machte einen kleinen Schritt auf ihn zu und deutete mit dem Kopf auffordernd auf den Peugeot.

      „Lassen Sie mich bitte mit Frau Stein sprechen!“

      Jetzt trat auch der erste Pfleger vor. Seine Stimme war leise und drohend. „Verschwinden Sie, und zwar sofort!“

      Seufzend stieg Robert wieder in den Wagen. Er fuhr um Springbrunnen herum und dann langsam wieder die Einfahrt hinunter. Im Rückspiegel sah er, wie einer der Wächter einen kleinen Block aus der Brusttasche zog und sich etwas notierte, während er Roberts Wagen nachsah.

      Robert fuhr bis an den Waldweg zurück und versteckte den Wagen so gut es ging hinter einem Gebüsch. Fast wäre er dabei in den kleinen Graben gefahren, der den Waldweg säumte. Er sah auf die Uhr. Kurz nach halb zwei. Die Frühschicht müsste bald zu Ende sein. Vielleicht hatte er Glück.

      Eine halbe Stunde später sah er einen kleinen knallroten Fiat 500 den Zugangsweg zur Auffahrt herunterrollen. Am Steuer saß eine etwas dreißigjährige blonde Frau in Schwesternkleidung, die drei Begleiterinnen, die das Gefährt fast zum Platzen brachten, waren ebenso gekleidet. Alle vier lachten gerade laut auf, als der Wagen langsam in den Waldweg einbog, wo Robert mit seinem Peugeot stand. Er wartete, bis sie außer Sichtweite waren – es gab ohnehin keinen anderen Weg zur Landstraße – und setzte sich dann hinter sie. An der Abzweigung sah er sie in Richtung Königstein abbiegen.

      In der Nähe eines Eiscafés parkten sie. Als er sah, dass sie auf einen Tisch zusteuerten, stellte er seinen Wagen ebenfalls ab und suchte einen Platz in ihrer Nähe. Inzwischen hatte sich eine der vier als ein junger Mann mit längeren Haaren entpuppt, die zu einem kleinen Pferdeschwanz zusammen gebunden waren. Während Robert auf seinen Cappuccino wartete und angelegentlich die Parkanlage um ihn herum betrachtete, konnte er leicht jedes Wort verstehen, das am Nebentisch gesprochen wurde – zumindest das, was von dem Gelächter und Gekichere noch übrig blieb. Denn es war eine äußerst lustige Truppe. Die Frauen waren um die dreißig, der junge Mann gut zehn Jahre jünger und ganz offensichtlich Hahn im Korb. Sie waren ausgelassen wie eine Herde