G. T. Selzer

Volle Deckung


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die Küche zu mehr als zum Kaffee- und Eierkochen zu benutzen.

      Nun kam sie zu neuen Ehren. Bianca von Hellgarten spielte darin die Hausfrau, deren Mann nach des Tages Müh’ nach Hause kam.

      „Was gibt es denn?“ fragte er matt, während er sich in den Sessel sinken ließ. Ohne zu hören, was sie aus der Küche antwortete, schaute er sich um. Der große Schreibtisch war das einzige Stück, das auf seinem Platz geblieben war. Gott sei Dank, sie hatte nichts daran angerührt. Nicht auszudenken, wenn sie hier ‘aufgeräumt’ hätte!

      „Hab ich Ihnen nicht gesagt, dass ich vor meiner Heirat Innenarchitektin war?“ kam es aus der Küche.

      „Nein, das haben Sie nicht.“ Mit neuem Interesse betrachtete er sein ungewohntes Ambiente. Der Sessel stand so tatsächlich besser; man hatte mehr Licht vom Fenster. Auch die kleine Essecke stand jetzt praktisch nahe zur Küche hin. Robert hatte damals mit Günther generalstabsmäßig den Umzug geplant – noch voll Euphorie ob der glimpflich abgelaufenen Scheidung von Nicole. Doch da bei Günther Meinhard – seines Zeichens Steuerberater – auch keine verborgenen Talente zum Inneneinrichter hervorgebrochen waren, war das Ergebnis eher pragmatisch denn ästhetisch ausgefallen. Der Sessel sollte vor dem Fernseher und möglichst nahe am Bücherregal stehen. Gleich daneben kam der Schreibtisch. Die Couch und der dazugehörende Tisch mussten notgedrungen in die andere Ecke verbannt werden; sie wurden ohnehin kaum benutzt. Das ganze hatte etwas provisorisch gewirkt, doch die letzten 15 Jahren gut überstanden. Jetzt schien alles auf seinem richtigen Platz zu stehen, der Raum strahlte eine fremdartige Harmonie aus.

      Als er wenig später vor seinem Teller saß, war ihm zur Gewissheit geworden, was er seit gut dreißig Minuten geahnt hatte: dass sie nämlich eine glückliche Hand beim Einrichten von Wohnungen besaß, ganz sicher aber kein Naturtalent in Sachen Kochkunst war. Die so genannte Suppe, die sie ihm auf den Teller tat, war schlichtweg ungenießbar.

      Während sie auf Pasta und Pizza warteten, die er telefonisch bestellt hatte, und sie die Küche wieder ‘in Ordnung’ brachte, wie sie es nannte, grübelte er nachdenklich vor sich hin. Es war nicht ungefährlich, was er sich da eingebrockt hatte.

      Ein entscheidender Hinweis in der Erzählung des netten FsJ‘lers Benjamin war gewesen, dass die Polizei den Wald am nächsten Tag mit Hunden absuchen wollte. Nachdem er Benjamin am S-Bahnhof Rödelheim abgesetzt hatte, war Robert kurz entschlossen noch einmal zurückgefahren, weil ihm wieder etwas eingefallen war. Bei seiner Suche nach der Klinik am späten Vormittag war er unvermittelt auf eine Stelle im Wald gestoßen, die ihn hatte innehalten lassen, ja für einen Moment völlig gefangen genommen hatte: Eine kleine Lichtung, urplötzlich aus dem Dickicht aufgetaucht, leuchtete hell vor ihm im Sonnenlicht. Umgeben von hohen, schwarzen Fichten wirkte sie wie eine Kathedrale. Tiefe, andächtige Stille herrschte hier, als ob nicht einmal die Vögel es wagen würden, die Versunkenheit des Ortes zu stören.

      Etliche Minuten hatte er nur dagestanden und die Atmosphäre dieses Fleckens in sich aufgenommen, bis er vorne, im Altarraum dieser Kathedrale, eine winzige Hütte wahrgenommen hatte. Er hätte seinen Beruf verfehlt, wenn er sie nicht untersucht hätte.

      Und wirklich – dort hatte er Bianca von Hellgarten gefunden. Völlig verstört, verängstigt, wirres Zeug vor sich her brabbelnd von Polizei, Schwestern und von Pralinen.

      Robert bewunderte die Energie dieser Frau. Sie war nicht in der Lage, Zusammenhängendes von sich zu geben – zumindest nichts, was er auch nur annähernd verstanden hätte – doch sie hatte ganz offensichtlich eine unglaubliche Entschlossenheit an den Tag gelegt, nicht gefunden zu werden. Und dabei folgerichtig und logisch gehandelt. Er war sicher, dass sie die Suchtrupps gesehen, sich versteckt und dann wieder in der Hütte Schutz gesucht hatte, nachdem diese durchsucht worden war. Wunderbarerweise hatte sie sofort Vertrauen zu ihm gehabt – vielleicht lag es daran, dass er weder einen weißen Kittel noch eine Uniform trug, vielleicht auch, weil er nur leise zu ihr gesagt hatte: „Kommen Sie, Bianca, wir gehen nach Hause“ – jedenfalls war sie ihm anstandslos, fast wie ein Kind, zum Wagen und später hinauf in die Wohnung gefolgt. Den ganzen Weg über hatte sie unverständlich vor sich hin geredet.

      Und nun stand sie mit seiner Schürze in seiner Küche, vernichtete die Reste eines ungenießbaren Abendessens, hatte inzwischen seine Wohnung auf den Kopf gestellt und ihn in eine ausweglose Situation gebracht.

      Natürlich hatte er das selber. Er hätte sich in der Klinik melden sollen oder bei der Polizei, doch abgesehen davon, dass sie ihm als Informantin viel zu wichtig gewesen war, hätte er es auch gar nicht fertig gebracht. Die Frau hatte eine panische Angst vor allem, was mit dem Sanatorium zusammenhing. Dieser verfluchte Auftrag! Den ganzen Tag hatte er mit Lizzy im Büro in Verbindung gestanden – doch es gab keine Spur von diesem Hans Meier, oder wie immer er wirklich heißen mochte. Nun hatte er diese Frau am Hals.

      Und bis jetzt hatte er noch keine Informationen aus ihr herausgebracht, die ihm weiterhelfen konnten. Sie redetet zwar den ganzen Tag über – aber er konnte nichts damit anfangen. Es war von einem Jungen die Rede, von dem Sandmann, wieder von Schwestern und Süßigkeiten. Und von Thea.

      Robert musste hier ansetzen. „Erzählen Sie mir von Thea“, sagte er aufs Geratewohl und hoffte, nicht wieder unter einem Wortschwall begraben zu werden.

      „Thea?“ Ihre Augen leuchteten. „Oh, wie geht es ihr? Geht es ihr gut? Wissen Sie, sie war schon lange nicht mehr da. Oder doch? Wann war sie nur das letzte Mal da – ich kann mich nicht mehr erinnern. Haben ihr die Pralinen geschmeckt? Ich weiß doch, dass sie gerne Pralinen isst. Und wissen Sie, ich mach’ mir nicht viel daraus. Und Thea, ach, sie freut sich immer so. Ich glaube, der Junge hat sie mir geschenkt, aber ich bin mir nicht sicher. Wir bekommen oft am Sonntag etwas Süßes, wissen Sie, es ist ja auch ...“

      „Warum sind Sie aus der Klinik weggelaufen, Frau von Hellgarten?“

      Falsche Frage.

      „Klinik? Wieso Klinik?“ Ihre Augen wurden wieder stumpf. „Ich bin doch jetzt zu Hause. Ich geh nicht wieder in die Klinik!“

      „Nein, nein“, sagte er rasch und seufzte. „Sie können hier bleiben. Hier passiert Ihnen nichts. Kommen Sie“, er klopfte neben sich auf die Couch, „setzen Sie sich doch. Erzählen Sie mir von Thea“, wiederholte er.

      Sie setzte sich neben ihn und begann einen neuen Wortschwall, aus dem Robert nun wenigstens erfuhr, wie er weiter verfahren konnte.

       6

      Die Hitze war noch immer unerträglich. Hauptkommissar Matthias Münch von der Kriminaldirektion Hochtaunus schielte auf das runde Thermometer an der Holzwand: 65° Celsius. Wieder wischte er mit seinem Taschentuch über Stirn, Kinn und Nacken. In dem engen Raum musste er gebückt stehen, und schließlich, um die Leiche richtig in Augenschein nehmen zu können, auf dem ebenfalls warm gewordenen Plattenfußboden knien. Zu allem Überfluss hielt einer der Beamten ihm von hinten eine starke Halogenlampe über die Schulter, sonst hätte er in dem Dämmerlicht der Kabine nicht viel erkennen können. Seine Hände unter den dünnen Gummihandschuhen waren klatschnass.

      Es würde ihm auf ewig unbegreiflich bleiben, wie Menschen sich freiwillig in einen kleinen Holzkasten mit 70, 80 und mehr Grad Lufttemperatur begeben konnten, um nichts weiter zu tun als zu schwitzen.

      Der da vor ihm lag – tot – war allerdings nicht freiwillig in der Hitze geblieben. Dr. Gerhard Zanker, 66 Jahre alt, etwas füllig, doch durchtrainiert, mit vollem, eisgrauen Haar, Chef eines Verlagshauses, das unter anderem die führende Frankfurter Neue Zeitung herausbrachte, und Brötchengeber von etwa 400 Arbeitern und Angestellten – Zanker lag nackt auf den Holzboden der Saunakabine seiner Oberurseler Villa. Der ganze Körper war immer noch unnatürlich gerötet.

      Münch erhob sich und winkte dem Polizeiarzt zu. „Sie können ihn jetzt haben, Doktor.“ Tief einatmend trat er in den gekachelten Vorraum. „Wetten, dass ich weiß, was Sie mir morgen erzählen? Tod durch Herzversagen, Todeszeit noch nicht genau festzustellen, weil die Hitze – und so weiter, und so weiter.“ Er schnappte sich eines der Handtücher, die strahlend weiß und ordentlich auf dem Glasregal gestapelt waren, und versuchte, der Feuchtigkeit