G. T. Selzer

Volle Deckung


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klar. Die Rede war von ihrem obersten Boss, dem berühmten Professor Sandmann. Einem der Patienten, der sich für einen großen Künstler hielt, war es – keiner wusste bislang, wie – gelungen, in den Tagungsraum der Musterklinik, in der auch Seminare für ausgewähltes, oft internationales Fachpublikum stattfanden, einzudringen und seine Zeichnungen beträchtlich gepfefferten Inhalts mit den Unterlagen des Vortrags von Dr. Sandmann zu vertauschen. Er war der felsenfesten Meinung gewesen, seine Kunst gehöre an die Wand und müsse endlich der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.

      „Und dann ...“ die blonde Frau, die den Wagen gefahren hatte, prustete vor Lachen, „stellt der Prof den Overheadprojektor an. Ist ja ein echter Profi, unser Prof, der greift normalerweise eine Folie nach der anderen, ohne groß darauf zu schauen, und legt sie auf.; er kennt seinen Vortrag in- und auswendig. Labert dabei weiter von den archetypischen Verhaltensmustern während auf der Leinwand die künstlerischen Ergüsse von unserem ‘Pablo’ erscheinen. Besonders das eine mit dem ... ihr wisst schon!“ Eine lautes Gekreische ging durch die Zuhörerinnen, eine hielt sich die Hand vor den lachenden Mund.

      Die Blonde fuhr fort: „Das gelehrte Publikum wird zunehmend unruhig, einige lachen, andere sind empört. Endlich wirft der Prof auch mal einen Blick auf die Folien, die er da dauernd auflegt, dreht sich zur Leinwand um, sieht den Schlamassel, erstarrt – und ist derart aus dem Konzept gebracht, dass er die nächsten fünf Minuten keinen zusammenhängenden Satz mehr herausbringt. Knallrot soll er geworden sein. Die Stein war dabei und hat es mir erzählt!“

      „Eine ungemein archetypische Verhaltensweise!“ Die Kleine mit der Ponyfrisur schien jemanden nachzuahmen.

      Das Gelächter war nun weithin hörbar.

      „Aber zeichnen kann er, der ‘Pablo’!“

      „Oh ja, und so naturalistisch!“

      „Keine abstrakte Kunst!“

      „Im Gegenteil sehr realistisch!“

      Die Mollige mit lustigen schwarzen Locken nahm ihre Brille ab und wischte sich die Lachtränen aus dem Gesicht, die Blonde beobachtete befriedigt die Resonanz auf ihre Geschichte, die anderen beiden kicherten, der junge Mann war ein wenig rot geworden. Robert beschloss den Frontalangriff. Er lachte lauthals mit, und die Gruppe drehten sich verwundert zu ihm hin.

      „Verzeihen Sie bitte, aber ich habe das mitgehört und fand es lustig. Ihr Chef, wie?“

      Sie waren in so guter Laune, dass sie die fremde Einmischung nicht als solche empfanden, sondern nur lachend nickten.

      „Wenn ich mir vorstelle, dass mein Chef ...“ Er schnaubte wieder los, musste dabei seiner Heiterkeit etwas nachhelfen, doch es wirkte durchaus noch echt.

      Eine halbe Stunde später war Robert um eine ganze Menge Anekdoten reicher. Die jungen Leute hatten zwar die nötige Diskretion walten lassen und keine Namen genannt, waren jedoch ansonsten mit Episoden aus dem Klinikleben nicht geizig gewesen. Die Geschichten blieben lustig, obwohl es die Sujets ganz und gar nicht waren. Aber je schwerer das Krankheitsbild eines Patienten, je fester er in seiner eigenen Realität eingesponnen ist, je mehr diese Realität mit der der ach so Normalen kollidierte, umso lächerlicher wirkt er auf diese.

      Robert hatte sich erfolgreich geschlagen und ebenfalls einige Episoden zum Besten gegeben. Dann sah der Junge mit dem Pferdeschwanz – Benjamin Krause, der in der Klinik sein Freiwilliges Soziales Jahr leistete – auf die Uhr.

      „Oh, schon halb vier. Ich muss. Die S-Bahn.“

      Robert sah ebenfalls auf die Uhr. „Ja, ich auch.“ Er stand auf. „War nett mit Ihnen. Tschüss!“ Er winkte den anderen zu. Dann, als sei es ihm gerade eingefallen, wandte er sich noch einmal Benjamin zu: „ Wollen Sie nach Frankfurt?“

      Der junge Mann nickte.

      „Sie können mit mir fahren, wenn Sie wollen. Ich fahre bis Rödelheim.“

      Benjamin zögerte nur kurz, dann nickte er wieder: „Danke, gern.“

      Als sie in Rödelheim ankamen, hatte er, was er haben wollte: einen Namen. Der junge Mann war im Auto aufgetaut und einem Gespräch unter Männern offensichtlich mehr zugetan als den Frotzeleien und Scherzen seiner älteren Kolleginnen, die – wie Robert vermutete – es gewohnt waren, mit ihm Schabernack zu treiben und es riesig spaßig fanden, ihn befangen zu machen. Robert hatte erfahren, dass Bianca von Hellgarten so gut wie keinen Kontakt zur Außenwelt hatte, mit einer Ausnahme: Eine Frau hatte sie öfters besucht, mindestens zwei, drei Mal im Monat.

      „Das nennen Sie öfters?“

      „Ja, das ist relativ häufig. Die meisten Leute sind froh, wenn an Weihnachten oder Ostern an sie gedacht wird. Schließlich zahlen ihre Familien einen ganzen Haufen Geld, dafür wollen sie dann auch gefälligst das Problem vom Halse haben. Einmal war auch ein Mann da, aber der kam nicht mehr.“

      Bianca von Hellgarten war nun seit fast zehn Stunden verschwunden. Die Radiomeldung war am Morgen gewesen. Benjamin spielte den Reporter vor Ort.

      „Die Polizei hat das gesamte angrenzende Waldgebiet durchkämmt. Sie wollen dann später noch mal mit den Hunden kommen. Es ist ziemlich undurchdringlich, kaum Wege oder so. Es war richtig aufregend und auch schwierig, weil die anderen Patienten doch nichts mitkriegen sollten. Einige hätte das sehr aufgeregt. Die Bull… äh – die Polizei musst hinter das Haus fahren, an den Küchentrakt. Fast hätte es noch Krach gegeben mit dem Prof, Behinderung polizeilicher Ermittlungen oder so ‘nen Quatsch.“ Er schwieg nachdenklich. „Und den Hauptweg kann sie nicht runtergegangen sein, da stehen Kameras, und die Videos hat die Polizei alle durchgesehen. Nichts.“ Er zuckte die Schultern. „Hoffentlich wird sie gefunden. Sie ist – irgendwie so hilflos.“

      Thea Dettner hieß die Frau, die Bianca von Hellgarten regelmäßig besuchte. Das wusste der FsJ‘ler aus dem Buch, das beim Empfang auslag und in das jeder Besucher eingetragen wurde.

      „Sie ist immer sehr nett zu mir, bringt mir auch mal was mit, Taschenbücher oder Motorradzeitschriften. Dafür lass ich sie dann auch mal außerhalb der Besuchszeit rein, wenn Schwester Mathilde nichts merkt. Sie hat ein Geschäft oder so und kann deshalb nicht immer. – Frau Dettner, meine ich, nicht Schwester Mathilde.“

      Als Robert Stenger an diesem Abend spät in seine Wohnung zurückkam, blieb er an der Tür zum Wohnraum wie festgenagelt stehen. Die Couch war weg. Die Essecke hatte den Platz gewechselt. Sein Lesesessel war verschwunden, tauchte aber wenig später am Fenster wieder auf.

      „Frau von Hellgarten, um Gottes Willen ...!“

      „Sieht doch gut aus, oder?“ Sie kam ihm strahlend aus der Küche entgegen.

      „Was haben Sie denn gemacht?“ Entgeistert sah er sich in dem Zimmer um.

      „Ich habe den ganzen Nachmittag gearbeitet!“

      „Ja, das sehe ich.“ Mühsam rang er nach Fassung. „Wie haben Sie das bloß geschafft? Die Couch und ...“

      „Na, ja, war nicht einfach.“ Sie kicherte wie ein kleines Mädchen.

      Er dachte daran, was die Nachbarn unter ihm wohl gedacht haben mögen. „Sie sollten sich doch ruhig verhalten!“ sagte er streng. „Oder wollen Sie wieder zurück in die Klinik?“

      Erschrocken legte sie die Hand auf den Mund. Ihr Kopf ging heftig hin und her, ihre Augen waren angstvoll aufgerissen. Leise kopfschüttelnd ging Robert sein Zuhause ab; der Raum hatte sich völlig verändert. Staub gewischt hatte sie offensichtlich nicht; das wäre nötig gewesen. Und aus der Küche drangen merkwürdige Gerüche.

      „Sie kochen doch nicht etwa?“ fragte er misstrauisch.

      „Doch!“ Sie strahlte schon wieder.

      „Können Sie das denn?“

      „Woher soll ich das wissen, ich hab’s doch noch nie versucht!“

      Jetzt sah er, dass sie die Schürze umgebunden hatte, die er von Günther anlässlich seiner Scheidung zum Einstieg ins wieder gewonnene Single-Leben