G. T. Selzer

Volle Deckung


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halb acht. Deine Familie hat sicher schon Sehnsucht nach dir!“ sagte Thea, und versuchte, das geräuschvolle Schlecken aus dem Fond zu ignorieren. Es hörte für ein paar Sekunden auf, und Thea sah im Rückspiegel, wie sich ein Schatten über das Gesicht des Mädchens legte.

      Sie schüttelte leicht den Kopf. „Ach, komm schon! Deine Mutter weiß doch sowieso schon Bescheid über die Fünf. Und dein Vater sicher auch. So schlimm sind sie doch gar nicht. Du tust ja gerade so, als ob du regelmäßig verprügelt würdest, wenn mal was in der Schule nicht klappt!“

      Anna kicherte bei der Vorstellung, dann seufzte sie tief. „Aber ich ärgere mich doch so!“

      „Ein guter Anfang! Lern' was draus! Doris hat doch gesagt, du musst noch üben!“

      „Na ja, aber …“ Dann, mit neuem Interesse: „Hast du auch schon mal einen Fünfer gehabt?“

      „Na klar.“

      „Und wo?“

      Thea grinste. „In Mathe. Aber“, fügte sie streng hinzu, „nicht in der Fünften! Erst in der Neunten!“

      „Und das ist besser?“

      „Na ja … Also ...“

      „Was ist denn daran besser?“ Die Geräusche schienen lauter zu werden.

      „Kannst du das bitte etwas leiser schlecken?“

      „Bin sowieso fast fertig. Also? – Warum ist ein Fünfer in der Neunten besser als in der Fünften?“

      „Das ist natürlich nicht besser, nur ... – Ach was, lassen wir das!“

      „Aber du hast gesagt ...“

      Thea fühlte fixierende Blicke im Nacken. Sie würde nicht davon kommen.

      „Na ja, weil – weil … Ich dachte nur, vielleicht – dass man sich nicht so früh dran gewöhnt!“

      „Aber wenn man später die Fünfen kriegt, dann hat man doch weniger Zeit, sie wieder wegzukriegen!“

      Es war Zeit zu kapitulieren.

      Das Haus der Tischmanns stand im besseren Viertel von Niederrad in der Nähe des Stadtwaldes. Zwei Beamtengehälter müsste man haben, dachte Thea wieder einmal, als sie den Wagen abstellte und mit Anna auf das große Haus zuging. Und keine Sorgen wegen der Rente.

      Sie klingelte an der Pforte, und noch bevor Doris die Haustür ganz aufmachen konnte, quetschte sich ein schwarz-braun-weißes Etwas zwischen ihr und der Tür hindurch und rannte auf Thea und Anna zu. Thea wich geschickt aus – mit fast 50 Kilogramm Hund war ein Zusammenstoß möglichst zu vermeiden. Anna hingegen warf sich Tessy entgegen und wunderbarerweise landeten beide sanft im Vorgartenrasen.

      „Wir haben Eis gegessen. Und Pizza. Und waren im Taunus!“ rief Anna, atemlos mit Tessy ins Haus stürmend, ihrem Bruder Danny zu, der gerade am Telefon hing und versuchte, seine kleine Schwester abzuwimmeln. Er feierte demnächst seinen fünfzehnten Geburtstag, und da dieses Ereignis akribischer Vorbereitung und minutiöser Planung bedurfte, beschlagnahmte er bereits Tage vorher stundenlang den Anschluss.

      Doris schaute ihrer Tochter nach und dann auf die Freundin. „Na, hast wohl die Dame schön belohnt für ihre Fünf, wie?“

      „Frustrationsabbau!“ korrigierte Thea und betrat den Flur. „Sie hat sich am meisten über sich selber geärgert! Außerdem hatte ich keine Lust zu kochen. Und – sie hat alle Aufgaben nachgerechnet!“

      Sie ging in die Küche, wo Otto gerade eine umfangreiche Platte mit Wurst und Käse zusammenstellte, und fischte nach einer Scheibe Schinken. Doris widmete sich der verhauenen Mathematikarbeit ihrer Tochter. Diese stand daneben und gestikulierte lebhaft, indem sie nachdrücklich auf die Ergebnisse ihrer Rechnerei vom Nachmittag verwies.

      Otto schaute auf. „Hallo, Thea. Na, wie war das Goldstück? Hast du Hunger?“

      „Nein, danke.“

      Doris erschien an der Tür. „Komm setz' dich, wir essen.“

      Thea schielte nach dem Emmentaler, ließ es aber dann sein. „Danke, ich gehe lieber nach Hause. Und macht’s nicht so dramatisch mit ihr.“ Sie nickte in Richtung Wohnzimmer.

      „Na, hör mal, wer sind wir denn!“

      „Tschüs, Kleine! Ciao, Danny!“ Anna kam angerannt, drückte Thea einen Kuss auf die Wange, während Daniel nur lässig vom Telefon herüberwinkte.

      An der Tür drehte Thea sich noch einmal zu Doris um. „Sag mal, wann hast du eigentlich deine erste Fünf gehabt?“

      „In der Sechsten. Im Diktat. Warum?“

      „Ach, nur so.“

       3

      „Es geht um Leben und Tod!“

      Mit diesen Worten wurde die Tür zu Robert Stengers Allerheiligstem aufgerissen, und er sah eine entschlossene Lizzy Hartmann in unziemlichem Gerangel mit einem abgerissenen, schmuddeligen Typen um den Eintritt in sein Büro kämpfen. Ärgerlich sprang er auf.

      „Himmel, Herrgott ... Was soll denn das?!“

      „Sorry, Robert. Der war schneller als ich.“ Lizzy versuchte mit hochrotem Kopf immer noch, den Mann hinter sich ins Vorzimmer zurückzuschieben und gleichzeitig die Tür mit ihrer nicht unbeträchtlichen Leibesfülle zu blockieren. Der Mann schob in Gegenrichtung.

      Sie schob zurück.

      Er hatte keine Chance.

      Amüsiert beobachtete Robert Stenger das Schauspiel; sein Ärger war verflogen. Während er sich wieder setzte, winkte er seiner Assistentin zu. „Ist gut, Lizzy. Lass ihn rein.“

      „Es geht um Leben und Tod!“ Der Mann stürmte geradezu auf den Besuchersessel zu.

      „Ja, das sagten Sie bereits.“

      Robert war es gewohnt, dass seine Klienten dramatisierten. Der da nun vor ihm saß, hatte sich beruhigt in dem Moment, in dem er seinen Willen durchgesetzt hatte. Ob er sich allerdings die Privatdetektei Robert Stenger leisten konnte, war zumindest fraglich. Stengers Dienstleistungen waren nicht billig, seine Klientel üblicherweise entsprechend wohlhabend.

      Als hätte er Roberts Gedanken gelesen, zog der Besucher ein Bündel verdreckter Geldscheine aus seiner schmutzigen Jeans und knallte es auf den Schreibtisch.

      „Reicht das erst mal?“

      Seiner momentanen olfaktorischen Wahrnehmung zum Trotz war Robert schon immer der Meinung gewesen, dass Geld nicht stinkt. Deshalb griff er nach dem schmuddeligen Stapel und blätterte ihn rasch durch. Dreitausend Euro. Mindestens. Sie verschwanden in der Schreibtischschublade. Er zog Stift und Notizblock heran. „Okay. Ihr Name?“

      Der Andere sah ihn an.

      „Na? Was ist?“ Roberts Hand sank mit dem Stift auf den Block.

      „Können wir das nicht auch ohne...?“ Der Mann schob sich mit fahrigen Händen seine Haare aus dem Gesicht.

      Nachdenklich betrachtete Robert ihn. „Hören Sie, ich bin nicht Philip Marlowe. Das hier ist ein ganz normales Unternehmen mit normaler Finanzbuchhaltung. Ich muss Ihnen eine Quittung ausstellen, eine Rechnung schreiben, muss mit dem Finanzamt … Interessiert Sie nicht, oder?“

      „Hans Meier.“

      Na, ganz bestimmt, dachte er. Laut sagte er, während er sich im Sessel zurücklehnte und den Stift endgültig auf die Schreibtischplatte warf: „Also gut. Erzählen Sie, Herr – Meier.“

      Der Mann beugte sich vor und verschränkte seine Arme auf der Schreibtischplatte, wobei ihm die Haare wieder ins Gesicht fielen. „Hören Sie! Sie ist wirklich in großer Gefahr! Sie müssen Sie finden und sofort etwas tun. Am besten verstecken, wo sie keiner findet.“

      „Schön. Und von wem oder was reden wir