Cordula Hamann

Der Traumapfel


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Landkarte, unerforscht, unerreichbar und kaum jemals betreten: Die Tafelberge der Gran Sabana in Venezuela, an deren Fuß nur wenige indianische Menschen lebten.

      Dieses Buch ließ sie nie wieder los und eines Tages, nachdem sie es zum elften Male aus der Bibliothek ausgeliehen hat, schenkte es ihr die nette Bibliothekarin. Sie trug das Buch in ihrer Registratur als „von unbekannter Hand nicht wiederherstellbar beschädigt“ ein und forderte ein neues an.

      Beatrice drückt sich gemütlich in ihren Sitz. Das Flugzeug ist voll, aber nicht so, dass nicht einige Sitze frei geblieben sind; neben ihr sind sogar beide Plätze unbesetzt. Soweit sie es überblicken kann, ist sie die Einzige, die dieses Glück hat. Oder verdankte sie es der netten Angestellten des Reisebüros? Beatrice hat einen Kurierdienst beauftragt, dieser Mitarbeiterin übermorgen einen kurzen Dankesbrief zusammen mit einem 100 Dollar-Schein zuzustellen, denn das Reisebüro hat alles für sie organisiert. Beinahe wäre dabei der Zeitplan geplatzt, den sie sich ausgedacht hat. Die Flüge nach Caracas und der Weiterflug nach Ciudad Bolívar waren nicht das Problem. Aber von Ciudad Bolívar gelangt man nur noch mit kleinen sogenannten Buschflugzeugen weiter ins Landesinnere. Die Piloten fliegen stets mit drei bis maximal fünf Touristen. Leider lag für morgen keine weitere Anmeldung vor und der Pilot wollte mit nur einem Passagier nicht fliegen. Die nette Frau vom Reisebüro war erfahren genug zu erkennen, dass Beatrice zwar nicht wohlhabend aber finanziell gut gesichert ist, und bot kurzerhand dem Piloten über die Reiseagentur in Puerto La Cruz den dreifachen Preis. Sie erhielt die Zusage. So kann Beatrice nun sicher sein, dass sie an ihrem Geburtstag da sein wird, wo sie sein will.

      Die Stewardess schreitet langsam den Gang entlang und bietet den Passagieren Gläser mit Orangensaft und Mineralwasser zur Erfrischung an. Beatrice nimmt dankend ein Glas Orangensaft, greift in die Jacke ihres Blazers und holt die Pillendose heraus. Die Tabletten sind klein und rund und es bereitet ihr keine Probleme, sie zu schlucken. Sie lehnt sich zurück und schließt die Augen. Jetzt, da sie in diesem Flugzeug sitzt, das sie direkt nach Caracas bringen wird, weichen alle Zweifel und Unruhe von ihr ab. Obwohl sie weiß, dass das weitaus Schwierigere noch vor ihr liegt, fühlt sie eine tiefe Zufriedenheit. Etwas wehmütig denkt sie daran, dass alles leichter sein würde, hätte sie früher diese Reise unternommen. Dann wäre sie noch nicht herzkrank gewesen und jung genug, um einen Teil ihrer Träume zu verwirklichen. Über 40 Jahre lang schob sie alles, aber auch alles, was mit ihrem Leben vor Tom zu tun hat, rigoros beiseite. Sie verbot sich, irgendwelche Nachrichten und Berichte über Venezuela zu lesen oder nur anzuschauen. Lange 40 Jahre lang, bis sie der Arzt an ihrem Krankenbett aus dieser Lethargie herausgerissen und sie damit daran erinnert hat, dass der Mensch sterblich ist.

      „Sehr geehrte Reisende, wir fliegen auf ein Gebiet mit einigen kleinen Turbulenzen zu. Wir bitten Sie, sich zu Ihrer eigenen Sicherheit anzuschnallen und das Rauchen einzustellen. Wir danken für Ihr Verständnis.“ Die Durchsage reißt Beatrice aus ihren Gedanken. Sie vergewissert sich, dass sie noch immer angeschnallt ist und wartet die folgende Ansage in spanischer Sprache ab, bevor sie wieder ihre Augen schließt. Sie versucht, die Gedanken dort aufzunehmen, wo sie soeben unsanft unterbrochen wurden. Aber es gelingt ihr nicht. Sie ist schläfrig geworden und kann die Gedanken nicht mehr ordnen. Sie kreisen um das „Warum nicht früher?“ wie Wellen, die aus der Oberfläche des Meeresspiegels sich langsam aufbauen. Und wenn sie ihre größte Höhe erreicht haben, an der man meint, sie fassen zu können, verlieren sie ihre Form und lösen sich in den sie umspülenden Wassermassen auf. Als wollten sie damit die Erinnerung an sie auszulöschen. Was Beatrice empfindet, bevor sie endgültig einschläft, ist das angenehme Gefühl der Gewohnheit und Sicherheit, das sich während der Ehe mit Tom ihrer ebenso bemächtigte wie jetzt der Schlaf.

      Das Essen war nicht schlecht, jedenfalls für die Angebote in einem Flugzeug. Jetzt läuft über den Köpfen der Passagiere der obligatorische Spielfilm auf den kleinen, ausschwenkbaren Monitoren. Sie hat sich keine Kopfhörer geben lassen. Viel lieber will sie die wirren Gedanken ihres Schlafes, der eher einem Halbschlaf geglichen hat, wieder aufnehmen.

      Warum habe ich ihn sterben lassen? Weshalb habe ich ihn nicht verlassen oder, einfacher noch: Ich hätte fahren können. Und als er tot war, warum habe ich nicht dann die Reise begonnen? Nein, sie kann sich nicht verzeihen, was sie getan hat und sie kann es auch nicht verstehen. Ist sie ein schlechter Mensch? Egoistisch darauf bedacht, die eigenen Lebensträume über das Leben eines Menschen zu stellen? Auch, um das herauszufinden, hat sie sich aufgemacht, in dieses Flugzeug zu steigen. Es ist ihre letzte Chance, sich selbst zu begreifen, wenn sie sich schon niemals verzeihen kann.

      Kapitel 4

      Nachdem Ellen die Auffahrt zu ihrem Haus hochgefahren ist und der Wagen stillsteht, hopst Sandra so schnell es geht aus dem Auto, nimmt ihren Teddy und den Rucksack und stampfte auf das Haus zu. Ellen und Simon bringen die Tüten in die Küche und achten wenig darauf, dass Sandra gleich in ihrem Zimmer verschwindet.

      Dort setzt Sandra den Teddy auf das Kopfkissen, wo er immer sitzt, damit er alles sehen kann. Sie nimmt den Apfel aus dem Rucksack und legt ihn auf ihren kleinen Schreibtisch, den sie erst nach langem Drängen bekommen hat. Weil sie noch nicht wie ihr großer Bruder in die Schule gehen darf. Sie setzt sich und verschränkt die Arme auf der Schreibtischplatte. Den Kopf legt sie so, dass sie den Apfel anschauen kann. Er wird Oma gefallen. Hoffentlich sind alle Träume noch drinnen. Er hat keine angeschlagenen Stellen. Die Träume müssen eigentlich noch alle darin sein. Sie lächelt bei der Erinnerung an den Nachmittag, an dem Simon aus der Schule gekommen ist und Oma die Geschichte aus dem Religionsunterricht erzählt hat. Die Geschichte von Adam und Eva im Paradies. Und dass Gott gesagt habe, wenn sie von dem Apfel äßen, würden sie wissen, dass sie nackt sind und sie müssten dann aus dem Paradies heraus. Simon hat das mit dem Apfel nicht verstanden. Die Oma hat ein wenig herumgedruckst, Simon lange angeschaut und dann erklärt: „Weißt du, das ist so: Gott hat in den Äpfeln des Baumes der Erkenntnis die Träume der Menschen eingeschlossen, und wenn ein Mensch davon abbeißt, erweckt er die Träume zum Leben. Sie begleiten ihn und er muss deshalb aus dem Paradies, weil der Platz dort viel zu klein ist, um alle Träume zu leben. So viele Träume sind in einem Apfel.“

      Simon hat zwar anfangs zugehört, aber dann ist er ungeduldig geworden, weil seine Lieblingssendung im Fernsehen angefangen hat.

      Nur sie hat ehrfürchtig ihrer Oma gelauscht. Sie ist so ganz anders als die Omas ihrer Freundinnen. Sie weiß alles und ist nie genervt, wie Mama es manchmal ist, und sie hat immer Funken in den Augen. Aber Oma hat sie wohl gar nicht wahrgenommen und beim Verlassen der Küche leise gemurmelt: „Anstatt Tom zu heiraten, hätte ich mal auch besser in den Apfel gebissen. So bleiben meine Träume ungeträumt.“

      Sandra hat versucht, mit Simon über die Apfelgeschichte zu sprechen, aber er hat gar nicht richtig zugehört. Er versteht oft gar nichts, obwohl er doch schon so viele Jahre älter ist. Manchmal findet sich Sandra viel erwachsener als ihn und es macht sie traurig, dass Oma offenbar immer lieber mit Simon zusammen ist als mit ihr.

      Einmal hat sie Mama gefragt, weshalb Oma sie nicht so lieb hat wie Simon. Aber Mama hat ihr erklärt, das stimme nicht und ihr Eindruck läge bestimmt nur daran, dass sie einfach noch ein wenig zu klein sei, um sich über wichtige Sachen zu unterhalten. Sandra findet das gar nicht. Und wenn sie der Oma den Apfel zum Geburtstag schenkt, wird sich alles ändern. Sie wird Oma ihre Träume wiederbringen und dann wird sich Oma viel besser mit ihr unterhalten können als mit Simon.

      Nachdem Ellen alle Einkäufe in den Schränken und im Kühlschrank verstaut hat, setzt sie den Wasserkessel auf den Herd und ruft nach oben: „Beatrice, wir sind zurück. Möchtest du auch einen Kaffee?“ Es kommt keine Antwort. Sie ruft noch einmal: „Beatrice, bist du da?“ Aber scheinbar ist sie noch zu einer Bekannten gegangen.

      Ellen nimmt ihre Kaffeetasse und geht ins Wohnzimmer. Sie setzt sich auf den Sessel, lehnt sich zurück und legt die Füße auf den Tisch. Simon hat gleich nach dem Einkaufen gefragt, ob er zu Pit, seinem besten Freund, gehen darf und Sandra ist noch immer oben in ihrem Zimmer. Sie ist gerne einmal allein. Im Gegensatz zu ihrem Bruder, der ständig jemanden um sich herum braucht und fast mehr bei seinen Freunden ist als zu Hause. Oder er bringt eine Horde von fünf, sechs Jungs hierher.

      Ellen