Cordula Hamann

Der Traumapfel


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Gespräche mit Paul, bei denen er von den Pemón erzählt hat. Von ihrer Kultur, ihrem Glauben, ihren Lebensweisen. Sie verliert sich in der Erinnerung an Pauls übereifrigen Erzählungen, seinem Gesicht, seiner Begeisterung. Nein, sie will ehrlich sein! Beatrice zwingt sich, sich an ihre Gefühle während seiner Erzählungen zu erinnern. Es wäre ihr egal gewesen, wovon Paul berichtete, ob von den Eskimos oder den Tibetanern, wenn sie nur bei ihm war, neben ihm, sich an ihn kuschelnd, um die Träume, die er von einer besseren Welt hatte, zu teilen. Die Pemón interessieren sie nicht wirklich. Nur das Land. Das schon. Begierig hat sie alle Hinweise aus Pauls Erzählungen über die Umgebung und den Zauber der Tafelberge in sich aufgesaugt. Ihr Wunsch, diesen Zauber selbst zu erleben und dabei mit dem Menschen zusammen zu sein, den sie über alles liebte, hätte sie wahrscheinlich auch für das Leben der Würmer begeistert, wenn diese nur dort vorkämen.

      Schluss jetzt! Beatrice dreht abrupt den Wasserhahn zu. Für heute hat sie ihr Pensum von Ehrlichkeit erfüllt! Und sie hat sich schließlich genauso vorgenommen, die Realität der Gegenwart bewusst in sich aufzunehmen. Und diese Realität ist jetzt Caracas, das Hotel und ein hoffentlich gutes Abendessen.

      Abendessen. Das gibt es jetzt auch zu Hause bei den Kindern. Wie sie wohl ihr Verschwinden aufgenommen haben? Was haben sie zu dem Brief gesagt? Sind sie sehr enttäuscht? Wenn sie sich Ellen vorstellt, war sie wohl eher ängstlich. Ellen hat immer dafür gesorgt, dass es ihr an nichts fehlte und sie hat das Empfinden, dass Ellen mehr Angst als sie selbst hat, dass sie, Beatrice, eines Tages sterben musste. Vielleicht will Ellen nicht allein sein? Vielleicht meint sie, Beatrice zu brauchen? Aber sie hat doch Steven und die Kinder. Die armen Kinder. Die werden es bestimmt nicht verstehen, warum Oma einfach weggegangen ist, ohne sich von ihnen zu verabschieden, besonders Simon nicht.

      Während sie sich abtrocknet, sich frische Kleidung aus ihrer Tasche nimmt und sie anzieht, denkt sie beruhigt an den langen Brief, der am Freitag der Familie wenigstens ein bisschen erklären wird, dass ihre Reise nichts mit ihnen zu tun hat. Sie wirft einen letzten Blick in den Spiegel und ist zufrieden. Man sieht ihr die Anstrengungen des Tages nicht mehr an. Zügigen Schrittes verlässt sie ihr Zimmer und geht in das Hotelrestaurant.

      Kapitel 6

      „Liebling, nun mach dir doch nicht solche Sorgen. Du kennst doch meine Mutter fast so gut wie ich. Überlege einmal, wie glücklich sie hier bei uns ist. Wie gut sie sich von Vaters Tod erholt hat. Du glaubst nicht im Ernst, dass sie nicht wiederkommt. Sie wollte sich nur noch eine Reise gönnen, bevor sie so etwas nicht mehr kann. Die Jüngste ist sie schließlich nicht mehr.“ Steven drückt Ellen an sich. Schon beim Lesen des Briefes musste er an Venezuela denken. Mutter hat ihm, als er noch klein war, oft von diesem Land erzählt. Aber er hat es nie verstanden, warum ihr das so wichtig war. Sie schwieg immer, wenn Vater in der Nähe erschien. Dann, später hat sie ganz aufgehört davon zu reden und er selbst vergaß es. Er war nie dort und er kennt auch niemanden, der dort war. Ist sie jetzt in diesem Land? Ist das die große Reise, die Mrs. Crouwn meinte? Ohne es begründen zu können, ist er sich sicher, dass Venezuela irgendetwas mit dem Verschwinden seiner Mutter zu tun hat.

      Ellen hat sich wieder etwas beruhigt. „Was sollen wir den Kindern sagen?“, fragt sie. „Besonders Sandra freut sich so auf den Geburtstag. Ich habe dir noch gar nicht erzählt: Sie hat einen Apfel als Geschenk gekauft. Merkwürdig, oder?“

      „Sie hat ihn mir gezeigt. Der wird bestimmt verdorben sein bis Mutter wieder da ist“, entgegnet er und fügt hinzu: „Wir sagen den Kindern, dass die Oma nur für einen Tag Tante Ella besuchen wollte und sie jetzt da bleiben muss, weil Tante Ella sich das Bein gebrochen hat. Du weißt ja: Die schrullige Tante hat nicht einmal Telefon. Das würde auch erklären, dass die Kinder an ihrem Geburtstag nicht mit Oma telefonieren können.“

      „Ja“, erwidert Ellen. „Das ist eine gute Idee. Und nun lass uns erst einmal essen. Sandra hantiert gerade in der Küche allein mit den Schüsseln. Mich wundert, dass noch nichts heruntergefallen ist.“

      Als Sandra im Bett ist, setzen sich Steven und Ellen mit einem Glas Wein ins Wohnzimmer. Beiden geht ihr Brief nicht aus dem Kopf. Normalerweise ist Beatrice so spät abends auch zu Hause und sitzt bei ihnen.

      „Wo war deine Mutter vor ca. 40 Jahren?“, fragt Ellen. „Wohnte sie bei ihren Eltern?“

      „Warte. Ich bin 36 Jahre alt. Ich weiß, dass sie mit Vater nicht so lange vor meiner Geburt verheiratet war. Ich bin ziemlich bald gekommen. Also müsste sie Vater vor ca. 37 oder 38 Jahren kennengelernt haben.“

      „Und davor?“

      „Ich weiß nur, dass sie wenige Jahre nach dem Schulabschluss von zu Hause wegging. Sie hat in Chapel Hill studiert und wohnte dort in einem Studentenwohnheim. Mit dem Studium hat sie dann aufgehört, als sie Vater kennenlernte und zu ihm nach Asheville zog.“

      „Also war sie vor 40 Jahren nicht mehr zu Hause und auch noch nicht verheiratet. Was kann sie dann mit ihrem eigenen Zuhause gemeint haben? Vielleicht das Studentenzimmer? Vielleicht, weil sie das erste Mal in ihrem Leben selbständig war?“

      „Ich weiß es nicht. Das würde doch bedeuten, dass sie jetzt nach Chapel Hill gefahren wäre. Zum Geburtstag könnte ich das ja noch verstehen, aber was meinte sie mit dem „Rest ihres Lebens“? Das ist doch wirklich blödsinnig. Chapel Hill ist ja ein ganz hübsches Städtchen, aber nach wie vor dreht sich dort alles um die Uni.“

      „Was hat Beatrice eigentlich studiert. Sie hat es mir mal erzählt, aber ich habe es vergessen“, fragt Ellen.

      „Ich weiß gar nicht, wie sich der Studiengang damals nannte. Ich glaube, heute würde er „Lateinamerikanistik“ heißen. Sie wusste unheimlich viel über Lateinamerika.“

      „War sie einmal dort?“

      „Nein, meines Wissens wollte sie es nach dem Studium, aber dann lernte sie ja Vater kennen.“

      Beide schweigen eine Weile.

      „Hat Simon dir von dieser Apfelgeschichte erzählt?“, fragt Steven.

      „Nein, aber Sandra muss ja auch davon wissen, denn es kann ja kein Zufall sein, dass sie Oma ausgerechnet einen Apfel schenken will. Sie war ganz versessen auf diesen Apfel. Ich werde beide morgen fragen“, antwortet Ellen und trinkt ihr Glas aus. „Ich weiß nicht, Steven, aber ich mache mir große Sorgen. Denk doch mal an ihr Herz.“ Ellen beginnt wieder, unruhig zu werden. „Wir müssen doch was machen!“

      „Ihre Tabletten sind nicht in der Küche, sie muss sie mitgenommen haben. Dr. Harrison hat gesagt, dass ihr nichts passiert, solange sie die Tabletten nimmt und das Blut dünn genug ist und die Tabletten gibt es außerdem in jeder Apotheke, egal wo sie jetzt ist. Also mach dir wegen des Herzens keine Sorgen. Viel merkwürdiger finde ich, dass sie uns nicht gesagt hat, dass sie verreisen möchte. Wir hätten es doch verstanden. Auch wenn sie lieber allein leben wollte. Das wäre doch gar kein Problem. Wir würden ihr eine schöne kleine Wohnung hier in der Nähe suchen. Sie könnte uns immer besuchen und ansonsten hätte sie ihr eigenes kleines Reich, ihr eigenes Zuhause, was ihr ja anscheinend so wichtig ist. Ich verstehe das nicht.“ Er versucht, den aufsteigenden Ärger in sich zurückzudrängen. Er hat niemals Dankbarkeit von seiner Mutter erwartet. Für ihn ist es selbstverständlich gewesen, dass sie zu ihnen gezogen ist, nachdem Vater so unerwartet verstorben ist. Aber dass Beatrice ihn jetzt so plötzlich mit einer Situation konfrontiert, die alles durcheinanderbringt, ärgert ihn. Er ist ein Mensch, der allen ungewissen Sachen so lange auf den Grund geht, bis die Zusammenhänge klar vor ihm ausgebreitet sind. Mit logischen und schlüssigen Gedankengängen. So ist er es gewohnt zu arbeiten und damit kann er auch gut leben. Auch im Privaten. „Lass uns jetzt erst einmal schlafen gehen. Morgen sehen wir weiter“, sagt er bestimmt und steht auf.

      „Du willst morgen ins Büro gehen?“, fragt Ellen mit unsicherer Stimme und folgt ihm.

      „Und ob ich das will“, denkt Steven, antwortet aber nicht. Je mehr er über die Situation nachdenkt, umso schlechter gelaunt wird er. Er versteht seine Mutter nicht und hat auch nicht die geringste Lust, über ihre möglichen Gründe nachzugrübeln, die wahrscheinlich nur sie selbst erklären