Cordula Hamann

Der Traumapfel


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der Tür fällt ihm sofort der Brief auf. Befestigt mit Tesafilm und mit der Aufschrift „für Steven und Ellen“. Das ungute Gefühl, das ihn beim Betreten des Zimmers überfallen hat, kommt so stark wieder, dass es ihm dieses Mal nicht gelingt, es mit einigen wenigen Gedanken wieder verschwinden zu lassen. Was soll das? Wenn es ein Zettel sein würde, kein Problem. Aber ein geschlossener Brief, der so angebracht ist, ihn erst beim Hinausgehen zu entdecken? Er löst den Brief von der Tür. Instinktiv geht er zum Bett, öffnet beim Gehen mit den Fingern den Umschlag und faltet den inliegenden Bogen auseinander. Während er schon die ersten Zeilen liest, setzt er sich auf Beatrice Bett. Der Brief ist nicht lang, nur eine halbe Seite, mit Mutters sauberer Handschrift geschrieben:

       Lieber Steven, liebe Ellen,

       Ihr wundert Euch bestimmt, dass ich heute nicht da bin. Ich hoffe, du Ellen, hast noch nicht zu viel für meinen Geburtstag eingekauft. Denn ich werde dieses Mal meinen Geburtstag woanders feiern. Ihre werdet sicher enttäuscht sein, aber Ihr müsst verstehen, dass dieses, was ich jetzt tue, sehr wichtig für mich ist, ungeheuer wichtig! Und deshalb musste ich gehen. Aber ich danke Euch für die vier Jahre, die ich seit Vaters Tod bei euch leben durfte. Ihr habt alles getan, damit ich mich wohlfühle. Aber es ist trotzdem nicht mein Zuhause, es ist eures. Und davor war es Vaters Zuhause. Es liegt jetzt schon fast 40 Jahre zurück, dass ich mein eigenes Zuhause hatte und deshalb möchte ich an meinem Geburtstag dorthin zurück. Und nicht nur an meinem Geburtstag, sondern wahrscheinlich für den Rest meines Lebens.

       Ich erwarte nicht, dass ihr das versteht. Deshalb wird euch in drei Tagen ein weiterer Brief zugehen, in dem ich alles erklären werde, soweit man es überhaupt erklären kann. Grüßt Simon und Sandra bitte von mir. Simon soll an die Geschichte von dem Apfel im Paradies denken, die ich ihm erzählt habe. Sagt ihm, Oma hätte in den Apfel gebissen. Dann wird er verstehen. Eure Beatrice

      Kapitel 5

      Beatrice sitzt im Taxi auf dem Weg vom Flughafen Caracas in die Stadt. Der Flughafen liegt etwas außerhalb und direkt am Meer. Sie fühlt sich angestrengt von der Reise und besonders von der langen Schlange vor dem Einreiseschalter, den sie hinter sich bringen musste. Aber das hindert sie nicht daran, nun neugierig alle Eindrücke aufzunehmen, die sie noch in der hereinbrechenden Dämmerung durch das Fenster des Taxis wahrnehmen kann.

      Es ist ungewohnt, nach ihrer Ankunft so unvermittelt mit der spanischen Sprache konfrontiert zu werden. Aber sie stellt erstaunt fest, wie angenehm vertraut sie ihr nach den vielen Jahren im Ohr klingt. Nach einigen holprigen Versuchen am Schalter der Immigrationsbehörde und bei der Suche nach einem geeigneten Taxi kommen ihr nun die spanischen Worte immer leichter über die Lippen. Sprachkenntnisse sind eben wie das Fahrradfahren. Hat man einmal gut gelernt, kommt man schnell wieder herein. So konnte sie dem Taxifahrer klar verständlich ihr Ziel nennen: das Hotel Avila und seine genaue Adresse.

      Sie fahren ständig bergauf, denn Caracas liegt 960 Meter über dem Meeresspiegel. Beatrice ist sehr gespannt auf die Stadt. In den vielen Plänen damals, in dieses Land zu gehen, hat sie sich ein Bild von ihm gemacht. Was sie nun während der Fahrt an Eindrücken erhaschen kann, passt so wenig in dieses Bild wie ihre momentane Stimmung zu der Euphorie, die sie noch vor wenigen Stunden im Flugzeug empfunden hat. Schon lange vor der Stadt ziehen sich links neben der Straße kilometerlang die Slums über die Hügel. Aus Blech und Holz, aus Plastikplanen und Wellpappe zusammengebaute Behausungen. Sie schmiegen sich an die steilen Hänge der rötlichen Erde zusammen wie ein riesiges Kartenhaus, das jeden Moment in sich zusammenfallen kann oder beim nächsten stärkeren Regen einfach den Berg heruntergespült wird.

      Ihr Bild von Caracas ist durchsponnen mit romantischen Verbindungen zu ihren Träumen und Zielen, die sie damals hatte. Nichts von dieser Romantik kann sie erkennen. Nur Armut, Elend und Müll, den die Bewohner der Hügel mangels anderer Entsorgungsmöglichkeiten einfach herunterwerfen und der den gesamten Bereich zwischen der Straße und den Siedlungen auf den Hügeln verunstaltet.

      Als sie immer näher an die Stadt kommen, suchen Beatrices Augen dort die Atmosphäre und das Bild, das sie im Kopf trägt. Aber Caracas ist auch nur eine Hauptstadt: laut, hektisch, asphaltiert und teilweise schmutzig. Sicher, sie hat sich im Rahmen ihrer Reisevorbereitungen genau informiert. Sie weiß, dass sie hier in dieser Stadt noch keinerlei Verbindung mit ihrem Ziel finden kann. Aber sie hat gehofft, dass diese Stadt wenigstens eine Spur ihrer Erwartung und Vorfreude erfüllen würde.

      Enttäuscht und desillusioniert lehnt sie sich zurück und schaut geradeaus. Vielleicht ist sie nur zu müde. Vielleicht ist es nur schon zu dunkel, um den Flair der Stadt, den sie in ihren Vorstellungen empfunden hat, aufzunehmen. Außerdem kommen sie bei ihrer Fahrt ohnehin nicht durch die Innenstadt, denn das Hotel liegt relativ am Rande der Stadt. Sie fahren die letzten kleinen Straßen entlang, die gesäumt sind von besseren Häusern, in denen reichere Leute lebten, und kommen schließlich auf dem kleinen Vorplatz des Hotels an. Der Taxifahrer öffnet die Tür und lässt sie aussteigen. Dann holt er aus dem Kofferraum ihre Reisetasche und übergibt sie dem herbeieilenden Hotelpagen. Beatrice bezahlt den Fahrer und sieht sich dann um. Ja, so stellt man sich Südamerika vor. Das Hotel ist umgeben von unzähligen blühenden Pflanzen und grünen Rasenflächen, auf denen Käfige mit Papageien und Schildkröten stehen. Ein lautes Geräusch, eine Mischung aus Pfeifen und Zirpen, das die ganze Luft durchdring, zieht ihre Aufmerksamkeit auf sich. „Was ist das für ein Geräusch? Sind das Grillen?“, fragt sie nach der Begrüßung den Hotelpagen. „Das sind Frösche, Madam“, antwortet er höflich. „Sie hören gerade ihr Konzert, das sie allabendlich nach dem Einbrechen der Dunkelheit geben.“ Sie betreten das Hotelgebäude und nach dem Einchecken an der Rezeption erreicht Beatrice erleichtert ihr zwar nicht luxuriöses, aber geräumiges und sauberes Zimmer.

      Das Avila ist ein Fünf-Sterne-Hotel, das ihr die nette Frau des Reisebüros empfohlen hat. Aber in Südamerika sind fünf Sterne anders als in Europa. Es ist nicht wichtig, wo sie die eine Nacht schläft, aber ein wenig Annehmlichkeit nach der anstrengenden Reise und bei dem deutlichen Klimawechsel taten gut. Nachdem der Gepäckjunge gegangen ist, schließt sie die Tür und lässt sich auf das breite Doppelbett fallen.

      Langsam kehrt ihre Zuversicht zurück. Wie konnte sie nur so dumm sein und in ihrem Kopf nur das Träumerische ihrer Reise suchen und nicht auch die Realität, die sie eigentlich kennen müsste. Sie sieht auf ihre Armbanduhr. Es ist halb sieben. Sie hat noch ein wenig Zeit bis zum Abendessen. Es ist ihr viel später vorgekommen. Die frühere Dunkelheit in diesem Land ist etwas, das ihr nicht gefällt. Sie liebt die Abende zu Hause, an denen man nach dem Abendessen noch spazieren gehen kann oder im Sommer im Garten beisammen sitzt, bis es an den längsten Tagen oft erst gegen zehn Uhr abends so richtig dunkel wird. Es sind die friedvollsten Stunden.

      Hätte sie sich damals als junge Frau schneller mit der kurzen Dämmerung und der rasch hereinbrechenden Dunkelheit anfreunden können? Sie steht auf und geht ins Badezimmer, zieht sich aus und stellt sich unter die Dusche. Das wird ihre Lebensgeister endgültig wieder wecken.

      Während die wohltuenden warmen Wasserstrahlen auf ihren Körper treffen, kehren ihre Gedanken wieder zu der Zeit als junge Frau zurück. Sie fragt sich, warum sie damals mit Paul unbedingt nach Venezuela wollte. Warum hat sie überhaupt Lateinamerikanistik studiert? Das Buch ihrer Kindheit hat mit Sicherheit den Ausschlag gegeben. Aber warum hielt sie an diesen Plänen auch als Erwachsene fest? Sie musste schließlich acht Jahre warten, bis sie ihr Studium beginnen konnte. Ist es der Wunsch gewesen, dem Elternhaus zu entfliehen? Das hätte sie auch mit einem anderen Studienfach erreichen können. Sie hat sich fest vorgenommen, auf dieser Reise ehrlich zu sein und ganz besonders zu sich selbst. Für Verdrängungen und Beschönigungen hat sie keine Zeit mehr. Und deshalb muss sie zugeben, dass sie eher inhaltlich als räumlich dem Leben ihres Heimatortes entfliehen wollte. Hat sie sich auch gerade deshalb Paul als Partner ausgesucht? Hat die Beziehung zu ihm ihr eine Art Erfolgsgarantie geben können, die sie allein als Frau nicht erhalten hätte?

      Er ist besessen gewesen von dem Leben der Pemón. Und dieses indigene Volk lebt nun einmal in dem Land, das sie seit ihrer Kindheit gefangen hält: Die Inseln in der Zeit, wie die Wissenschaftler sie getauft haben, die Heimat der Götter, wie sie die Pemón nennen. Sind ihr die Menschen,