Cordula Hamann

Der Traumapfel


Скачать книгу

dass ihre Schwiegermutter keinen Zettel in der Küche hinterlassen hat. Normalerweise tut sie dies, wenn sie das Haus verlässt. Vielleicht wollte sie schneller als gedacht wieder zu Hause sein und kommt schon bald.

      Ellen weiß auch nicht genau, weshalb sie sich so gerne mit Beatrice unterhält, denn eigentlich sagt ihre Schwiegermutter nicht viel bei diesen Gesprächen. Aber trotzdem strömt sie eine solche Ruhe und Gelassenheit aus, dass allein ihre Anwesenheit Sicherheit und Geborgenheit gibt. Es ist wohltuend zu wissen, dass noch jemand da ist, der notfalls hilfreich eingreifen kann, wenn man sich selbst überfordert fühlt. Für Beatrice scheint es derartige Probleme nie gegeben zu haben. Sie denkt und lebt gradlinig, und selbst den plötzlichen Tod ihres Mannes hat sie gut verkraftet.

      Ellen hatte zunächst Angst, wie es wohl sein würde, Beatrice den ganzen Tag um sich zu haben. Als Steven den Vorschlag machte, seine Mutter nach dem plötzlichen Tod des Vaters bei sich aufzunehmen, hat sie trotzdem alle Bedenken heruntergeschluckt und zugestimmt. In der ersten Zeit war Beatrice oft allein in ihrem Zimmer geblieben. Aber so langsam sind es vor allen Dingen die Kinder gewesen, die sie zu einem normalen Leben zurückführten. Ellen war erstaunt, wie unheimlich warmherzig Beatrice sein konnte, ohne sich jemals in persönliche Dinge wie Kindererziehung oder ihre Ehe mit Steven einzumischen. Sie kennt keinen anderen Menschen, der so viel Nähe und gleichzeitig Distanz ausströmt. Alle ihre Freundinnen, die sie davor gewarnt haben, sich nur nicht zu sehr mit ihrer Schwiegermutter anzufreunden, weil sie sich dann überall einmischen würde, haben sich geirrt. Wenn Beatrice gefragt wird, sagt sie offen und unverblümt ihre Meinung, auch gegenüber den Kindern. Aber niemals ist auch nur eine Spur von Vorwurf in ihren Worten, wenn Ellen oder Steven eine andere Meinung vertreten. Ein Außenstehender könnte denken, sie sei eine freiwillig ausgewählte, mütterliche Freundin.

      Und weil sich Beatrice im Laufe der vier Jahre, die sie jetzt bei ihnen lebt, einen netten Bekanntenkreis aufgebaut hat, müssen sich weder Steven noch Ellen ständig um sie kümmern. Es blieben genug Freiräume für sie selbst. Ja, Ellen liebte ihre Schwiegermutter und würde ihr am Freitag eine schöne Feier ausrichten, um es ihr auch zu zeigen.

      Das Telefon klingelt. Aus ihren Gedanken gerissen, hebt Ellen den Hörer ab. Es ist Mrs. Stevensen, eine Bekannte Beatrices. Ellen notiert sich die Nummer und verspricht, Beatrice um Rückruf zu bitten, sobald sie eintrifft. Da sie nun ohnehin in ihrer Pause gestört ist, geht sie in die Küche und beginnt mit den Vorbereitungen für das Essen. Auf dem Weg nach oben ruft sie Sandra, ob sie ihr helfen will.

      Inzwischen ist es bereits fünf Uhr. Steven wird gleich nach Hause kommen. Das Essen ist so weit fertig, dass sie nur noch den Tisch decken muss. Simon hat angerufen und gefragt, ob er bei Pit schlafen darf. Sie hat Schlafanzug, Zahnbürste und seinen Schlafsack bereits zu den Thorntons gebracht, die nur drei Häuser weiter wohnen. Inzwischen geht ihr die Frage, warum Beatrice nicht nach Hause kommt, immer weniger aus dem Kopf. Immerhin wird sie 70 Jahre alt und womöglich ist etwas passiert. Sie beschließt, einige Bekannte Beatrices anzurufen. Aber keine weiß etwas von ihrem Verbleib. Als Ellen die beste Freundin von Beatrice am Telefon erreicht, macht diese eine Bemerkung, die Ellen mehr als merkwürdig vorkommt: „Beatrice hier? Nein, ich dachte, sie sei verreist. Sie wollte doch zu ihrem Geburtstag diese große Reise machen?“

      Ellen reagiert verständnislos: „Welche Reise? Was hat sie Ihnen denn erzählt?“

      „Eigentlich nicht viel. Sie hat sich nur gestern bei mir verabschiedet und meinte, sie würde wegfahren. Ich dachte zuerst, dass sie vielleicht nur einem großen Trara an ihrem Geburtstag entgehen wollte. Aber so, wie sie geklungen hat, schien es mir nicht nur ein Kurztrip zu sein.“

      Ellen bedankt sich für die Auskunft und legt fassungslos den Telefonhörer auf. Weshalb hat sich Beatrice von ihrer besten Freundin verabschiedet, die zu ihrem Geburtstag einer ihrer Hauptgäste sein sollte? Welche Reise will Beatrice machen? Sie hat kein Sterbenswörtchen davon gesagt. Ellen hört Stevens Auto vor dem Haus vorfahren und geht zur Eingangstür.

      Steven nimmt seine Aktentasche vom Beifahrersitz, schließt die Autotür und geht auf Ellen zu. Er bemerkt sofort an ihrem Gesichtsausdruck, dass irgendetwas nicht stimmt, als es bereits ohne weitere Begrüßung aus ihr heraussprudelt: „Steven, Beatrice ist nicht da!“

      „Ja, und? Weshalb ist das so schlimm?“, fragt er amüsiert. Ellen erzählt ihm von ihren Anrufen und dass kein Zettel in der Küche gewesen ist und vor allen Dingen berichtet sie ihm, was Mrs. Crouwn gesagt hat. Es klingt tatsächlich alles etwas merkwürdig.

      „Hast du denn einmal in ihrem Zimmer nachgesehen?“

      „Nein, daran habe ich nicht gedacht“, antwortet Ellen und er muss zugeben, dass er auch nie auf die Idee kommen würde, in Mutters Zimmer zu gehen, wenn diese nicht da war.

      „Liebling, sei so nett und kümmere dich schon ums Essen. Heute Mittag hatte ich keine Zeit und bis jetzt war die große Besprechung mit der North-West-Corporation, von der ich dir erzählt habe. Und ich gehe unterdessen einmal nach oben und sehe nach.“

      Er legt Tasche und Autoschlüssel an der Garderobe ab und steigt die Treppe hinauf. Im ersten Stockwerk kommt ihm Sandra entgegen.

      „Hallo mein Spatz, wie geht es dir?“

      „Guck mal, Papa“, Sandra zieht ihren Vater energisch in ihr Zimmer. Voller Stolz zeigt sie auf den Apfel auf ihrem Schreibtisch. „Guck mal, was ich Oma zum Geburtstag gekauft habe.“ Sie sieht ihren Vater erwartungsvoll an. Er ist schon an einige, für einen Erwachsenen kaum verständliche Ideen seiner Tochter gewöhnt und zeigt deshalb die gebotene Begeisterung. „Tolles Geschenk, Sandra. Er ist so schön rot und rund. Und nun geh schnell nach unten und hilf Mama, ja? Ich komme auch gleich. Ich habe nämlich einen Bärenhunger, weißt du. Sonst muss ich noch vor lauter Hunger diesen Apfel da essen.“

      „Nein!“ schreit Sandra entsetzt. Aber dann erkennt sie, dass ihr Vater nur Spaß macht und lacht.

      Er klopft vorsorglich an und wartet einige Sekunden, bevor er Beatrices Tür öffnete und hinein geht. Schon lange war er nicht mehr in diesem Zimmer; das letzte Mal, als Beatrice vor einigen Monaten eine Grippe hatte, im Bett lag und der Arzt dann im Anschluss ihre Herzkrankheit feststellte. Der Gedanke an diese Diagnose lässt in ihm ein beunruhigendes Gefühl hochsteigen. Aber er ist es gewohnt, Emotionen durch seinen Verstand in ihre Schranken zu verweisen. Also sieht er sich auch jetzt zunächst prüfend im Zimmer um, ob irgendetwas Besonderes auffällt. Aber der Raum sieht genau so aus, wie einer, deren Bewohner gleich wiederkommt. Es ist aufgeräumt. Auf dem Bett liegt ihr Schlafanzug. Der Morgenrock hängt am Schrank. Ein Buch liegt umgekehrt aufgeschlagen auf dem Nachtisch. Er kann nichts entdecken, was nicht gewöhnlich hierher passt. Die Vorhänge sind halb zugezogen, wahrscheinlich, um tagsüber nicht zu viel Sonne ins Zimmer zu lassen. Er tritt zum Fenster und zieht sie auf. Sein Blick geht in den Garten, den Ellen trotz der tobenden Kinder wunderschön gepflegt aussehen lässt. Im Gegensatz zu vielen der Nachbarhäuser gibt der Garten den Blick frei auf die hüglige Landschaft der Umgebung der Stadt. Sanft, grün und friedlich ziehen sich diese Hügel bis zum Horizont. Nicht zu hoch, um den Blick nicht zu beengen, aber hoch genug, um Platz zu lassen für Dinge, die zwischen den Hügeln sein könnten, nicht sichtbar, aber dennoch existent und genauso eingetaucht wie dieses Haus in das Blaugrün von Himmel und Erde, in das sich je nach Tages- und Jahreszeit die unzähligen Farben der Sonne und der Wolken mischen. Er ist stolz, dass er damals, als seine Mutter zu ihnen kam, mit Ellen in den Keller gezogen ist und sie sich dort ihr Schlafzimmer ausgebaut und dieses Zimmer seiner Mutter überlassen haben. Beatrice hat diesen Ausblick verdient. Er passt irgendwie zum Lebensabend eines Menschen. So muss es sein. Sein Vater hätte es auch richtig gefunden. Sein armer Vater. Es ist zu früh, dass er gegangen ist. Und Mutter ohne ihn scheint ihm ein wenig verloren. Vater und er waren doch der ganze Inhalt ihres Lebens. Vater hatte ihm erzählt, dass sie als junge Frau sehr verträumt gewesen sei. Sie hatte ihn als feste Stütze in ihrem Leben gebraucht. Wer wusste schon, was ohne Vater aus ihr geworden wäre. Nun ja, es hilft nichts, darüber zu grübeln. So ist das Leben und Steven findet, insgesamt hat es das Leben ganz gut mit ihnen allen gemeint. Sein Vater ist tot und nun ist es sein Part, sich um Mutter zu kümmern und er würde dies auch weiterhin tun, wie es sich gehört. Sie hat ihren Platz jetzt hier bei Ellen und ihm.

      Er