Silke May

Still wie der See


Скачать книгу

umbringen sollte?«, fragte Decker seinen Freund. Dieser sah ihn überrascht an. »Wieso umbringen? Wer sagt das?«

      »Der Gerichtsmediziner stellte bei jedem der Toten eine Wunde im Brust- oder Rücken fest, die eine Schusswunde sein könnte.«

      Hans zuckte mit der Schulter.

      »Ich kann es mir nicht erklären und auch nicht vorstellen, dass es Mord war.«

      »Morgen bekomme ich den Bericht, da werden wir es sehen. Vielleicht kann uns aber auch die Kleine weiterhelfen, wenn wir sie finden.«

      »Wenn wir sie finden!«, betonte Hans. Decker gab seinen Freund einen kurzen Hieb mit dem Ellbogen in die Seite.

      »Schwarzseher! Warum sollten wir sie nicht finden?«

      Von jetzt an gingen sie beide schweigend nebenher und konzentrierten sich auf die Umgebung. Eine Vegetation aus höherem Gras und einer Baummischkultur aus Tannen- und Laubbäumen breitete sich aus. Das Gras, durch das sie gingen, war vertrocknet, wegen der vorangegangenen heißen Sommertage ohne Regen.

      »Eva!«, rief Hans laut und horchte anschließend in die Stille.

      »Wenn sie in der Nähe wäre, dann hätte sie jetzt sicherlich geantwortet« erklärte Günter.

      »Stimmt, also dann gehen wir weiter zum Moor«

      »Da bleibt uns wohl nichts anderes übrig«, stöhnte Decker.

      Eva geriet immer tiefer in das Moorgebiet hinein. Sie sank bereits bis zu den Knien im Morast ein. Plötzlich horchte sie auf, hatte da nicht jemand gerufen? Eva verweilte einen Augenblick und horchte, aber sie hörte nichts. Sie glaubte sich getäuscht zu haben und ging weiter. Vorsichtig machte sie einen Schritt nach dem anderen. Es gluckste und schmatzte um sie herum. Mücken umschwirrten sie und versetzten ihr zu allem Übel auch noch Stiche, die sich als rötliche kleine Beulen über ihre Arme und im Gesicht ausbreiteten.

      Mit Erleichterung konnte sie in der Ferne einen Teil des Stegs erkennen, der durch den Moorlehrpfad führte. Wenn sie ihn erreichte, dann war sie in Sicherheit und konnte ohne Gefahr zu dem fremden Haus gelangen. Diese Gegend war ihr dann nicht mehr fremd, denn sie hatte schon mit ihren Eltern und Geschwistern dorthin eine Wanderung unternommen. Etwas erleichtert stapfte sie dennoch achtsam weiter, als sie plötzlich mit ihrem vorwärts tretenden Fuß keinen Untergrund mehr verspürte. Mühevoll hielt sie inne und versuchte unter Anstrengung das Bein zurückzuziehen, beziehungsweise die Balance zu halten.

      Beschwerlich gelang es ihr mit heftig klopfenden Herzen, aus dieser gefährlichen Situation zu kommen. Eva bekam Panik. Sie traute sich kaum, weiter zu gehen. Nackte Stauden und verkrüppelte abgestorbene Bäume standen vereinzelt im Sumpf. Zwei davon standen direkt hintereinander zum Steg führend, der bereits gut erkennbar war. Eva wusste, dass ihr diese kahlen Gerippe eventuellen Schutz vor dem Versinken boten. Sie steuerte vorsichtig auf den Ersten zu und erreichte ihn auch, ohne weiter einzusinken. Eva gönnte sich eine kleine mentale Verschnaufpause, um Mut zum Weitergehen zu bekommen.

      Ihr Blick streifte über das Moor, von wo sie gekommen war. In diesem Moment bekam Eva Angst und sie wusste, dass sie den Steg erreichen musste. Ungefähr fünf Meter trennten sie noch vom nächsten Baum, ungewisse angstvolle fünf Meter.

      Nach einer Weile nahm sie diesen Katzensprung zu dem was hinter ihr lag in Angriff. Sie hielt sich an einem der dickeren Äste mit einer Hand fest und wagte einen großen Schritt vorwärts. Mit Schrecken musste sie feststellen, dass sie keinen festen Boden verspürte. Eva zog sich mit der Hand am Ast zurück und startete einen weiteren Versuch, ungefähr drei Schritte daneben. Auch dieser Versuch scheiterte und sie bekam fürchterliche Angst. Eva fürchtete bereits, dass sie hier bleiben müsste, bis zufällig ein Wanderer vorbeikäme, der den Moorlehrpfad benutzte. Das Kind sah zum Himmel und musste mit Entsetzen feststellen, dass von Westen her erneut dunkle Wolken aufzogen. Sie erinnerte sich sogleich an die Worte ihrer Mutter, dass es im Moor bei Gewitter sehr gefährlich sei. Was sollte sie tun? Um Hilfe schreien? Was wäre, wenn der Mann der ihre Familie getötet hatte, in der Nähe war? Ganz bestimmt würde sie dann das Moor nicht lebend verlassen und man würde sie höchstwahrscheinlich nicht einmal in das Grab ihrer Eltern legen können. Sie bliebe für immer verschwunden. Ihre Angst übermannte sie jetzt so sehr, dass sie um Hilfe schrie. Niemand konnte sie jedoch hören, denn Eva hatte ihre Stimme verloren. Mit den Augen auf den Knüppeldamm gerichtet, der ungefähr noch zwanzig Meter entfernt vor ihr lag und an den Baum klammernd hoffte sie, baldmöglichst gefunden zu werden, während ihr erneut viele Tränen der Verzweiflung über das Gesicht liefen.

      Günter Decker und Hans erreichten inzwischen das Moor. »Na super, jetzt kommt der gemütliche Teil«, stellte Hans fest.

      »Das kannst du laut sagen. Wenigstens ist der Boden weich und die Füße tun einem nicht weh«, gab er sarkastisch von sich.

      »Okay, nachdem du so begeistert bist, machst du den Anfang und gehst voraus«, gab Hans von sich. Günter sah seinen Freund fragend mit leicht hängenden Mundwinkeln an.

      »Warum soll ich vorausgehen?«

      »Weil du kleiner und nicht so kräftig bist wie ich. Schließlich kann ich dich leichter aus dem Dreck ziehen, als du mich – oder?« Das leuchtete Günter ein und er machte den ersten Schritt vorsichtig in den Sumpf hinein.

      »Gibt‘s hier Schlangen?«, fragte er nebenbei, in der Hoffnung das Hans es verneinte.

      »Bestimmt«, gab dieser lapidar von sich.

      Decker machte einen riesigen Satz zurück zu Hans. »Ohne mich!«, rief er aus.

      »Spinnst Du? Was willst du sonst machen? Was ist, wenn die Kleine wirklich hier im Moor ist?« Günter gab sich geschlagen und versuchte sein Grausen vor den Schlangen und sonstiges Getier zu unterdrücken und ging zögerlich weiter. Hans folgte ihm und sah wachsam über die Moorlandschaft. Plötzlich versank Günter bis über die Knie im Schlamm.

      »Huch … da wird‘s tief.« Hans machte sofort einen Schritt auf Günter zu und packte ihn an der Hand. »Geh weiter – ich halte dich.«

      »Du hast leicht reden, was ist, wenn ich einsink?«

      »Dir kann nichts passieren, ich hab dich doch fest an der Hand.« Günter zögerte. »Denk an die Kleine, die hat niemand der ihr hilft.«

      »Das weiß ich doch, was glaubst du, warum ich überhaupt da herin steh, ich denk nur an die Kleine! Normalerweise bringen mich da keine zehn Pferde rein!«

      Ohne weitere Einwendungen ging Günter vorsichtig neben dem ursprünglich eingeschlagenen Pfad weiter und Hans folgte ihm. Sie blieben zur Orientierung stehen und plötzlich verschwand Günters Kopf aus Hans seinem Blickfeld.

      »Halt … Günter, bleib da!« Rief er entsetzt und griff blitzschnell nach Günter seinen Händen, die Günter Hilfe suchend in die Höhe streckte. Günter gab vor Schreck keinen Mucks von sich, als er bis zur Brust im Schlamm steckte. Hans zog ihn mühselig aus dem Moor, was ihnen einige Minuten an Zeit kostete, schließlich musste Hans vorsichtig auftreten, um nicht selbst einzusinken.

      »Günter stand bis zur Hälfte mit Moor überzogen neben Hans und versuchte sich vom größten Teil des Schlamms zu befreien. Hans half ihm dabei und schüttelte den Kopf.

      »Wir gehen zurück und fahren zum Moorlehrpfad. Vom Knüppeldamm aus können wir weite Teile des Moors überblicken.«

      »Du weißt aber schon, dass es uns einige Zeit kostet?«, stellte Günter fest.

      »Möchtest lieber hier weiter gehen und das nächste Mal ganz versinken? Gar nicht auszudenken, wenn das Gleiche mir passiert. Du kannst mich da nicht herausziehen. Was glaubst du, wie schwer du jetzt warst, schließlich konntest du ja nicht großartig mithelfen. Die verlorene Zeit holen wir auf dem Steg wieder ein, dort kommen wir schneller über einen großen Teil des Sumpfs hinweg. Vergiss nicht, dass wir dort außerdem einen größeren Blickwinkel haben.«

      »Ich frag mich, warum wir nicht gleich zum Knüppelsteg gefahren sind, wo doch dort eine viel bessere Aussicht übers Moor ist?«

      »Stimmt, also