Rainer Kilian

Regen am Nil


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Gesicht war ganz nah. Langsam hob sie ihre Hand und streichelte seine Wange. Senenmuts Herz klopfte bis zum Hals, als er ihre Berührung erwiderte und ihr durch die Haare strich. Sie schloss die Augen und genoss seine Hand, die sanft ihre Halsbeuge entlang tastete. Ihre Nasen berührten sich, doch dann zögerte Senenmut und wich etwas zurück.

      Sie öffnete die Augen und sah ihn verwundert an. „Was ist mit dir?“

      „Es darf nicht sein! Du bist eine Prinzessin, und wenn wir wieder in Theben sind, darf ich dich nicht einmal ansehen, ohne von deiner Leibwache in Stücke gehackt zu werden.“ Senenmut zerriss es das Herz.

      „Vielleicht hast du recht, Senenmut. Verzeihe mir bitte. Es war dumm von uns, ich gehe jetzt besser.“ Sie stand auf und gab ihm seine Decke zurück. Schweigend nahmen sie zwei Fackeln, und so begleitete er sie bis zum Ufer des Nils, wo eine Barke auf sie wartete.

      Schleppenden Schrittes ging er zurück. Er blickte auf zu den Sternen und fühlte sich so unglücklich, dass er sich wünschte, er wäre tot. Sie war ihm so nahe gewesen und jetzt war sie so unerreichbar wie die Sterne.

      „Oh, ihr Götter, was habe ich getan, dass ihr mich so hart bestraft?“ Verzweifelt sprach er mit den Abbildern der Götter, die sich im tanzenden Licht des Feuers zu bewegen schienen. Aber sie blieben stumm.

       Die Zeitung

      Ich fröstelte etwas. Es war Abend geworden und die umliegenden Hügel verdeckten die sinkende Sonne. Ich war etwas verwundert über das soeben Erlebte. Es war mir das erste Mal passiert, dass ich das Auftauchen meiner Visionen bewusst zuließ. Es war überraschend für mich festzustellen, dass die Erlebnisse dieses Mal weniger schmerzhaft für mich waren. Trotzdem brauchte mein Körper etwas Zeit, um die Umgebungstemperatur zu registrieren. Wir hatten Hochsommer. Aber das Frösteln war mehr auf meinen Kreislauf zurückzuführen. Ich war sehr lange auf der Terrasse des Hotels still gesessen. Etwas Bewegung konnte mir also nicht schaden. Ein kleiner Rundgang vor dem Abendessen, und etwas Appetit hatte ich sowieso schon.

      Die Bucht beschrieb einen fast perfekten Kreis, dem die Uferstraße folgte. An ihr entlang reihten sich verschiedene Tavernen, die sich jetzt langsam zu füllen begannen. Ein Leuchttransparent hob sich deutlich von den anderen ab. “Noda's Paradise“ stand da zu lesen. Ich konnte ihn nicht entdecken und beschloss, mir eine Taverne am Hafen zu suchen. An den Eingängen zu den Tavernen standen statt einer Speisekarte große Vitrinen mit zubereiteten Speisen, die lautstark von den Kellnern gepriesen wurden. Bouzouki-Musik krächzte und leierte aus diversen Lautsprechern über die Straße. Im Hafen hatte sich der Stau der Reisenden etwas normalisiert, aber ich war erstaunt darüber, wie viele Touristen jetzt hier unterwegs waren. Sehr viele Touristen waren Teenager, die mit Rucksäcken von Insel zu Insel reisten. Das Treiben war sehr lebhaft, aber nicht mehr ganz so hektisch. Die Uferstraße mündete im Hafen in ein großes Rondell, in dem die Busse auf Passagiere warteten.

      Ich suchte mir einen kleinen Tisch aus, von dem ich einen Blick auf die Boote hatte, und bestellte meine Lieblingsspeisen. Zaziki, Bauernsalat und Moussaka. Dazu ein kleiner Krug mit Retsina. Den obligatorischen Ouzo würde ich später bei Noda trinken. Im Gegensatz zu dem Fähranleger war es bei den Segelbooten jetzt etwas ruhiger geworden. Die meisten Skipper saßen an Deck und genossen die laue Sommernacht bei einer Flasche Wein und viel Seemannsgarn. Die Ruhe wurde lediglich von den ein- und ausfahrenden Fähren unterbrochen, deren Heckwellen die Schiffe gehörig zum Schaukeln brachten. Wenn das die ganze Nacht so gehen würde, war an Bord nur wenig an Schlaf zu denken. Aber die Fährkapitäne galten unter Seglern auch nicht gerade als rücksichtsvolle Kavaliere.

      Nach dem Essen schlenderte ich zurück und sog die Meeresluft ein. Es war kaum noch etwas übrig geblieben von dem vorher so stürmischen Wind. Auch der Meltemi hatte Feierabend gemacht und sich schlafen gelegt. Dagegen waren die Kellner der Tavernen kaum davon zu überzeugen, dass ich bereits gegessen hatte.

      „Elate, elate!“, waren ihre Rufe überall zu hören. „Efaga thora! Ich habe gerade gegessen!“, wehrte ich dankend ab. Nachdem die ausländischen Touristen gespeist hatten, leerten sich die Tavernen sehr schnell. Lediglich griechische Gäste saßen noch dort. Gewohnheitsmäßig essen die Griechen sehr spät zu Abend. Am Tisch konnte ich sie sofort als Griechen identifizieren. Denn im Gegensatz zu den Deutschen bestellt die Tischgemeinschaft, die Parea, alles zusammen. Meist viele kleine Tellerchen mit verschiedenen Vorspeisen, den Mesedes. So bekommt jeder von allem etwas. Mit den Hauptspeisen wird genauso verfahren. Und als Krönung die Nachspeise, mit viel Zucker. Halwas, der Honigkuchen zum Beispiel. So eine Tafelrunde kann einige Zeit in Anspruch nehmen und in allgemeinem Gesang oder Tanz enden, wenn die Bouzouki dabei ist. Bezahlt wird auch gemeinsam. Jeder legt etwas dazu, bis die Rechnung beglichen ist. Getrennte Rechnung heißt in Griechenland „die deutsche Art“.

      In Noda's Bar hatten sich jetzt einige Nachtschwärmer versammelt. Es war deutlich mehr los als in den umgebenden Tavernen. Er hatte wohl eine Marktlücke gefunden. Allerdings war er momentan so stark beschäftigt, dass eine gepflegte Unterhaltung nicht möglich war.

      „Avrio, Avrio!“, rief er mir zu, also morgen. „Echo kero. Ich habe Zeit“, antwortete ich, bevor er zu den durstigen Kehlen zurückkehrte. Ich trank meinen Ouzo und stellte fest, dass ich doch ein bisschen müde wurde. So schlenderte ich zurück ins Hotel. Bevor ich zu Bett ging, fiel mir ein, dass ich mein Handy die ganze Zeit nicht eingeschaltet hatte. Ich wollte wenigstens wissen, ob Nachrichten für mich da waren, und schaltete ein. Nach ein paar Sekunden piepte es und die Anzeige signalisierte mir eine Textnachricht. „Bitte rufe mich an, dringend, Peter.“

      Er war wohl noch im Dienst um diese Zeit, also rief ich gleich durch. „Hallo, was gibt es denn so Dringendes?“

      „Zu allererst mal herzlichen Glückwunsch nachträglich. Ich habs schon wieder verbummelt.“

      „Das ist bei dir nichts Neues. Aber deswegen hast du nicht eine Botschaft geschickt, oder?“

      „Nein, aber indirekt. Ich wollte im Verlagshaus vom Wiesbadener Kurier eine Zeitung von deinem Geburtstag haben, die haben so was im Archiv. Die sind da auch fündig geworden. Aber auf der Titelseite stand was von diesem Unwetter damals in Frankfurt. Du weißt ja, ein Unglück kommt selten allein ...“

      „Danke, danke. Jetzt mach es nicht so spannend!“

      „Auf jeden Fall wartet die Zeitung bei mir auf dich. Weil ich aber weiß, dass du im Urlaub bist, habe ich dir die ersten Seiten eingescannt und per E-Mail geschickt. Dein Laptop hast du ja dabei.“

      „Mit Geburts- und Hochzeitstagen hast du es ja nicht so, aber als Kriminalist hast du einen erstaunlichen Spürsinn.“

      Er lachte. „Ich habe Monique verhört“, erklärte er mir.

      „Na, dann lass dich nicht von deiner Frau bei einer Leibesvisitation mit ihr erwischen. Aber trotzdem danke für dein Geschenk. Und vergiss nicht euren Jahrestag!“, erinnerte ich ihn. Er antwortete mit einem gotteslästerlichen Fluch.

      Offenbar doch ein Sieb im Kopf ... Ich verabschiedete mich und schloss mein Notebook an. Jetzt war ich doch neugierig. Irgendwie fand ich es faszinierend, dass man Daten einfach so um die Welt schicken kann. Die Übertragung funktionierte einigermaßen schnell. Außer Peters Mail waren keine Nachrichten vorhanden, ich konnte mich offensichtlich auf meine Mitarbeiterin verlassen. Ich schickte kurz eine Mail zu ihr, dass alles Okay bei mir sei.

      Jetzt war ich doch gespannt auf mein Geschenk. Ich öffnete die erste Seite der Zeitung am Bildschirm, sie war deutlich zu erkennen und trug das Datum meines Geburtstages, den 18. August 1963. Die Überschrift war wirklich nicht erfreulich: „Unwetter in Frankfurt fordert Todesopfer“ war zu lesen. Und weiter stand dann: „Ägyptische Ausstellung im Senckenberg-Museum zerstört.“ Plötzlich war ich wieder hellwach. Gespannt las ich weiter. „Bei einem der schwersten Unwetter seit Jahrzehnten wurde gestern ein Mann vor dem Frankfurter Senckenberg-Museum durch einen Blitzschlag getötet. Mysteriös daran ist, dass der offenbar geistig verwirrte Jürgen H. aus Sprendlingen zuvor die Mumie des ägyptischen Prinzen Chaemwaset zerstört hat. Die Ausstellung wurde durch ein vom Sturm eingedrücktes Fenster schwer beschädigt. Der Täter nutzte die