Rainer Kilian

Regen am Nil


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hatte lange geschlafen. Es war fast elf Uhr, als ich zum Frühstück ging. Von der Terrasse des Hotels konnte ich sehen, dass der kleine Sandstrand der Bucht fast menschenleer war. Entweder waren die Besucher der Insel alle wasserscheu, oder sie verfügten über ein ausgeprägteres Schlafbedürfnis als ich. Auf jeden Fall war ich froh, dass ich noch etwas zu essen bekam. Gerade üppig war das Frühstück auch hier nicht. Etwas sehnsüchtig dachte ich an die „Jajoula“ des Hotels auf Santorin. Ich beschränkte mich auf eine Tasse Kaffee und ein Marmeladebrot und ging direkt zu „Noda's Paradise“. Es waren tatsächlich einige Gäste vorhanden, von denen ich annahm, dass sie noch vom Abend zuvor übrig waren. Sie mischten sich mit den ersten Gästen des neuen Tages. Noda war nicht zu sehen. Ich orderte mir mein zweites Frühstück. In Anbetracht der fortgeschrittenen Tageszeit auf amerikanische Art, mit gebratenem Speck und Eiern. Ich genoss den Ausblick über die Bucht und sah die ein- und ausfahrenden Fähren, deren Fahrplan sich offensichtlich normalisiert hatte.

      Ganz am Rande der Bucht konnte ich den Mast eines Seglers erkennen, der aus dem Wasser ragte. Das Boot selbst befand sich unter dem Wasserspiegel. Reste der zerfetzten Takelage baumelten vom Masttop im Wind. Während ich über die wahrscheinliche Ursache des Schiffbruchs nachdachte, legte sich eine riesenhafte Pranke auf meine Schulter.

      „Der hatte nicht so viel Glück wie du damals“, brummelte Noda und setzte sich zu mir.

      „Da hast du recht, mein Freund! Wenn du uns nicht geholfen hättest, wären wir auch auf dem Meeresgrund gelandet“, pflichtete ich ihm bei.

      „Wir Griechen sind halt die besten Seeleute!“, warf er sich stolz in die Brust.

      „Aber dass du zurückgekommen bist, freut mich!“ Er stellte eine Flasche Ouzo auf den Tisch und schenkte ein. „Yammas, file mou!“

      „Auf unser Wohl, mein Freund!“, wiederholte ich. „Wo sind denn die ganzen Touristen?“, wollte ich wissen.

      „Die meisten schlafen ihren Rausch aus“, klärte er mich auf. „Die Insel hat sich sehr verändert. Die Chora, unsere Hauptstadt, besteht aus einer Kneipe neben der anderen. Fischen geht hier keiner mehr. Die Uhren gehen hier anders, vor Mittag sieht man hier kaum jemand. Ab zwei Uhr am Nachmittag sind die Ersten hier am Strand. Und nach Sonnenuntergang ist hier erst richtig Leben. Von Mitternacht bis morgens um fünf ist hier jede Bar geöffnet.“

      Ich kam aus dem Staunen nicht heraus. Ios war einmal ein kleiner Hafen mit der erhöht gelegenen Chora, der Hauptstadt, gewesen. Mehr als einhundert Einwohner hätte ich nicht vermutet.

      „Aber nach fünf Uhr muss alles dicht sein. Ich bin der Einzige auf der Insel, der rund um die Uhr offen hat“, verkündete er stolz und grinste. „Die bis dahin noch nicht genug haben, kommen hierher.“ Er wies auf einen Besucher, den ich noch vom Abend vorher erkannte. Der war mittlerweile auf seinem Barhocker eingeschlafen und sackte in Zeitlupe zur Seite. Ein Angestellter Nodas bewahrte ihn vor einem Sturz, indem er ihn routiniert auffing und ihn über seine Schulter legte. So transportierte er ihn über die Straße und legte ihn im Schatten am Strand ab. Wie ein Mehlsack plumpste er in den Sand, ohne ein Anzeichen von Leben.

      Noda schüttelte den Kopf. „Manch einer kennt halt seine Grenze nicht.“ Er goss zur Bestätigung grinsend Ouzo nach und prostete mir zu. Ich hatte keine Chance abzuwehren. Aber das reichhaltige Essen war eine gute Unterlage und bewahrte mich davor, das Schicksal des Besuchers zu teilen. Noda wollte schon wieder nachgießen, aber diesmal war ich schneller und deckte mein Glas ab.

      „Ftani! Es reicht!“, bat ich ihn um Gnade.

      „Kala, en daxi! Gut, in Ordnung! Ich sehe, du bist nicht mehr in Übung. Erzähl mir von dir! Was machst du jetzt so?“ Ich klärte ihn über meine privaten und geschäftlichen Aktionen auf.

      „Isse pantremenos? Bist du verheiratet?“, fragte er und suchte gleichzeitig nach einem Ring an meinem Finger.

      „Imme elefteros! Ich bin frei!“, erklärte ich ihm.

      „Jati? Warum?“ Er konnte es nicht verstehen und zeigte mir den Ring am Finger seiner Hand. „Die Tochter des Bürgermeisters ...“, fügte er hinzu. Jetzt war mir klar, woher die Genehmigung für seine Bar war. Ich beschloss, mich ihm anzuvertrauen. Ich erzählte ihm, was mich so beschäftigte und wohl auch eine ständige Partnerin verhinderte.

      Ich wartete auf eine ungläubige Reaktion von seiner Seite. Statt dessen fragte er interessiert nach: „Warum bist du dann auf Ios und nicht in Ägypten? Ich würde dorthin fahren und nachforschen.“

      „Ich habe mich bisher nie getraut, darauf zuzugehen. Ich habe eher angenommen, dass es irgendwann von selbst aufhört.“

      „Und statt dessen hat es sich immer mehr in dein Leben eingeschlichen und kontrolliert dich!“, stellte er nüchtern fest.

      Ich wehrte entrüstet ab. „Ich weiß sehr wohl, was ich tue!“

      „Ich meine nicht, dass du verrückt bist. Aber du musst ständig an SIE denken, oder?“ Er hatte den Nagel auf den Kopf getroffen.

      „Aber ich verstehe nicht, was ich damit zu tun habe.“

      „Du musst nach Ägypten!“, folgerte er.

      „Nein, nein. Ich habe Bedenken, dass ich gar nicht mehr zur Ruhe komme. Ich bin extra hierher gekommen, um auszuspannen. Ich denke, ich habe einfach zu viel gearbeitet die letzten Jahre.“

      „Das ist deine Entscheidung. Aber hast du denn einmal versucht nachzuforschen, wie weit deine Träume auf Tatsachen beruhen?“ Er ließ einfach nicht locker. Irrtümlich nahm ich an, es würde ihn kaum interessieren.

      „Ich habe am Anfang einzelne Visionen gehabt, die nur Bruchstücke eines Großen, Ganzen schienen. Aber mittlerweile hat es sich zu einer Geschichte zusammengefügt. Aber wie das so ist mit der ägyptischen Historie. Die Personen sind bekannt. Auch die Familienbande und so. Aber über ihre Gefühle, ihr Denken weiß man fast nichts. Das hat wohl auch die Forscher nie richtig interessiert. Das Gold der Pharaonen zählt mehr als ihr Seelenleben!“

      Noda hörte mir aufmerksam zu. Er wartete einen Moment und dachte über meine Worte nach.

      „Du solltest es als eine besondere Gabe empfinden, daran teilhaben zu können, was andere Menschen so lange vor unserer Zeit empfunden haben. Schreib es auf und bring es als Buch auf den Markt!“

      „Ich denke nicht, dass daran jemand Interesse haben könnte. Im Übrigen würde ich gerne auf diese Fähigkeit verzichten! Sie hat mein Seelenleben gewaltig durcheinandergebracht. Ich weiß einfach nicht, was ich damit zu tun habe. Ich habe andere Aufgaben zu lösen.“ Noda war auf einmal sehr ernst geworden. Dieses schelmische Grinsen in seinen Augen war ganz verschwunden. Er neigte sich zu mir.

      „Bist du dir ganz sicher, dass es nicht deine Aufgabe ist, diesen Traum zu lösen?“, fragte er eindringlich.

      „Ich weiß nicht, was du meinst“, blieb ich störrisch.

      „Ich meine, dass wir manchmal eine Aufgabe vom Leben bekommen, die wir zuerst nicht erkennen oder nicht erkennen wollen.“ Ich fühlte mich ertappt. „Und wenn wir eine solche Aufgabe erkennen, sollten wir sie annehmen und uns nicht dagegen wehren“, fuhr er fort.

      „Du redest wie ein Priester!“, ärgerte ich ihn. Doch er lies sich nicht aus dem Konzept bringen.

      „Wie du vielleicht nicht weißt, ist mein Vater Priester im Kloster unseres Inselheiligen in Psathi!“ Jetzt war ich doch überrascht.

      „Nein, wusste ich nicht“, gab ich zu. „Wer ist denn das?“, versuchte ich ihn erneut abzulenken.

      „O Leondaros tis Io! Der Löwe von Ios!“, klärte er mich auf. Er war sehr ernst geworden. Ich merkte, dass er keinen weiteren Scherz vertragen würde. So unterbrach ich ihn lieber nicht in seiner Erzählung.

      „Keiner weiß, woher er kam, manche sagen, er sei auf der Insel geboren. Andere Legenden sagen, er wäre aus einem fremden Land hierher gekommen. Auf jeden Fall konnte er Wunder tun. Er heilte viele kranke Menschen. Und bevor er starb, gab er seine Geheimnisse an einen Nachfolger weiter.