Rainer Kilian

Regen am Nil


Скачать книгу

Senenmut blickte ihn böse an. „Willst du damit sagen, dass das hier alle Aufzeichnungen sind? Wie lange bist du im Dienst der Kornspeicher?“

      Der Sklave hatte sich aufgerichtet und blickte nach unten auf seine Füße.

      „Ich weiß es nicht mehr, Herr. Meine Familie ist im Dienste des Tempels und der Kornkammern, seit ich denken kann.“

      „Wie ist dein Name?“, wollte Senenmut wissen.

      „Man nennt mich Chep-Ra, Herr!“

      „Du kennst dich aus in den Kornkammern?“

      „Ja, Herr. Ich bin in den Kornkammern aufgewachsen. Mein Vater hat schon hier gearbeitet.“

      „Und wo ist er jetzt?“

      „Er ist tot. Er hielt Wache am Kornspeicher in Karnak. Am Morgen danach fand man ihn mit durchschnittener Kehle.“

      Senenmut war erschüttert. Er musste an seinen eigenen Vater denken.

      „Hat man denn nie geklärt, was passiert ist?“

      „Nein. Der Vorfall wurde von Nef-Sobeks Sohn untersucht. Er kam zu dem Schluss, dass mein Vater im Streit mit einem Soldaten zu Tode kam.“

      „Lass mich raten. Dieser Soldat wurde von Nef-Sobek persönlich verhört?“

      „Nein, Herr. Er wurde ertrunken im Nil gefunden.“ Senenmut konnte sich den Rest der Geschichte selbst zusammenreimen.

      „Es tut mir leid um deinen Vater, Chep-Ra. Sein Tod soll nicht ungesühnt bleiben. Willst du mir helfen, den wahren Mörder zu finden? Ich glaube, dass es Nubier waren.“

      Chep-Ra hob seinen Kopf. Seine Augen leuchteten.

      „Ja, ich werde dir dienen, was immer du verlangst, Herr. Ich will meinem Vater Ehre bereiten.“

      „Das tust du, Chep-Ra. Wir haben viel Arbeit vor uns. Die Aufzeichnungen verhüllen mehr, als sie offenbaren. Als Erstes werden wir direkt die Kornspeicher besuchen. Und du wirst mir alles erklären, was du weißt!“

      Senenmut warf die wenigen Papyrusrollen in die Ecke und verließ eiligen Schrittes den Raum, gefolgt von Chep-Ra. Sie kamen am ersten Kornspeicher an. Senenmut befahl den Wachen, zu öffnen. Sie öffneten die hohen Türen des Speichers.

      Muffiger Geruch strömte ihnen entgegen. Senenmut brauchte einen Moment, bis sich seine Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten. Danach glaubte er, seinen Augen nicht zu trauen. In einem wilden Durcheinander waren Kornsäcke gestapelt. Viele waren aufgerissen und das Korn war auf den Boden gerieselt, wo es sich knöchelhoch mit dem Sand vermischt hatte. Der scharfe Geruch von Urin und Kot drang in Senenmuts Nase. Piepsend flüchteten Ratten in die Lücken zwischen den Kornsäcken. Senenmut wurde krebsrot vor Wut, als er das verdorbene Korn sah, das teilweise schon gekeimt durch die Säcke stieß.

      „Bringt alle verfügbaren Männer in den Speicher!“, befahl er. Er stampfte vor Wut auf den Boden. Keine Aufzeichnung verriet, wie lange das Korn schon im Speicher lag. Viel zu lange dauerte es, bis die ersten Sklaven eintrafen.

      „Räumt den Speicher leer bis auf das letzte Korn! Alles, was noch an Korn genießbar ist, wird sofort in Krüge gefüllt. Danach brennt alles nieder!“

      Die Sklaven gingen sofort an die Arbeit. Krüge wurden herbeigeschafft und mit Korn gefüllt. Der Haufen mit verdorbenem Korn wuchs bedenklich in die Höhe. Er wurde direkt neben dem Eingang aufgehäuft. Einige Sklaven hatten sich mit Holzprügeln bewaffnet und erschlugen die Ratten, die aus dem Speicher fliehen wollten. Dann war er leergeräumt und sie übergossen die stinkenden Überreste mit Öl. Senenmut hatte die Arbeiten überwacht. Er nahm eine Fackel und legte das Feuer an den Speicher. Sofort züngelte es an den hölzernen Toren empor. In Windeseile breiteten sich die Flammen an den Wänden aus und schlugen hoch bis zum Dach. Das Quieken der eingeschlossenen Ratten drang durch das Prasseln der Glut. Sie hatten keine Chance zu entkommen.

      In einem Feuerball stürzte das Dach in sich zusammen und ein Funkenregen ging auf die Umstehenden nieder. Sie wichen vor der sengenden Glut zurück. Ächzend fielen die Mauern des Kornspeichers in sich zusammen. Nichts als wabernde Flammen blieben von dem Gebäude übrig. Die Ziegel aus Schlamm zerfielen unter der Hitze zu Staub. Senenmut interessierte sich mehr für das verbliebene Korn. Einiges hatten sie doch rechtzeitig gerettet.

      „Chep-Ra! Wenn das Feuer erloschen ist, verteilt die Asche auf dem Boden und errichtet einen neuen Speicher. Ich werde dir aufzeichnen, wie er gebaut sein soll. Aber zuvor bist du mir dafür verantwortlich, dass das Korn bewacht wird. Wir werden es wiegen und genau aufschreiben, wann es in welchen Speicher kommt!“

      Chep-Ra verneigte sich. „Es geschehe, wie du befiehlst, Herr!“ Er machte sich sofort ans Werk und teilte Sklaven ein, die das Korn bewachten. Die übrigen holten Maß-Scheffel um das Korn zu wiegen. Papyrusrollen wurden herbeigeschafft und Schreiber machten sich ans Werk, alles aufzuzeichnen. Senenmut war zufrieden mit seinem Werk und seinem neuen Gehilfen. Chep-Ra hatte schnell verstanden, worauf es ankam. Er überließ ihm die Aufsicht und machte sich auf zum nächsten Kornspeicher. Wie erwartet traf er auf ein ähnliches Bild. Das Korn war einfach wahllos in den Speichern verteilt worden. Niemand wusste genaue Mengen, was es Nef-Sobeks Sippe einfach gemacht hatte, genug davon verschwinden zu lassen. Noch dazu war überhaupt kein System zu erkennen, was die Ein- und Auslagerung des Korns betraf. Das älteste Korn war in den hinteren Ecken am Faulen, während das frischere Getreide als Erstes verbraucht wurde. Je mehr er mit seinen eigenen Augen sah, umso mehr stieg sein Hass auf die Feinde Ägyptens. Er war sich sicher, dass er jetzt selbst den Scheiterhaufen anzünden würde, um Nef-Sobek zu bestrafen.

      Als die Sonne im Zenit stand, brannten die alten Kornspeicher allesamt. Der Geruch von verbranntem Getreide erfüllte die Luft; der Rauch der Feuer verfinsterte den Himmel. Senenmut kehrte zurück in das Gebäude des Verwalters. Zufrieden stellte er fest, dass Chep-Ra sein Handwerk beherrschte. Die Regale im Raum waren schon deutlich mit Papyrusrollen gefüllt. Sklaven brachten unablässig neue Schriftrollen. Chep-Ra sortierte sie in die Regale ein.

      „Wir werden bald einen Überblick über die Kornkammern haben, Herr.“

      Senenmut gab sich noch nicht zufrieden.

      „Wir brauchen mehr Krüge für die Kornkammern. Nur so können wir das Korn vor den Ratten schützen. Und wir brauchen ein gutes System, um das Korn so zu verteilen, dass wir das zuerst eingelagerte auch zuerst wieder ausgeben. Fürs Erste werden wir alle Krüge der Reihe nach beschriften. Ich werde im Tempel nach mehr Sklaven zum Bau der neuen Gebäude anfragen.“

      Er begann, einen Papyrus mit einer Zeichnung zu beschreiben. Er war plötzlich in eine Idee vertieft, die er unbedingt zu Papier bringen musste. Er bemerkte nicht einmal, dass die Gespräche Chep-Ras mit den Sklaven verstummten, als jemand den Raum betrat.

      „Wo ist der Brandstifter?“ Scharf klang plötzlich eine Stimme durch den Raum, deren wütender Ton Senenmut sehr bekannt vorkam. Hatschepsut stand mit funkelndem Blick im Eingang. Alle anwesenden Sklaven warfen sich zu Boden. Auch Senenmut kniete nieder. Sie wies nach draußen.

      „Lasst uns allein!“, befahl sie.

      Schnell beeilten sich alle, ihrem Befehl Folge zu leisten.

      „Welcher Wahnsinn hat dich dazu getrieben, die Kornkammern in Brand zu stecken?“

      Senenmut erhob sich.

      „Ich habe mir ein Bild vom Zustand der Kornkammern gemacht. Sie waren voller Ratten und stanken zum Himmel. Wenn wir sie nicht verbrannt hätten, wären wir bald einer Seuche erlegen. So haben wir genug Korn gerettet. Es wird uns bis zur nächsten Ernte ernähren.“

      Hatschepsut schien beruhigt zu sein.

      „Der Brand hat die meisten Ratten vernichtet. Wir werden gleich heute mit dem Bau neuer Speicher beginnen, ich habe eine neue Zeichnung entworfen. Wir werden das Innere der Speicher wie einen großen Krug formen, der von oben gefüllt wird. So gelangt das zuerst geerntete Korn nach unten. Dort ist eine Öffnung zum Entleeren. Dann wird dieses Korn auch zuerst wieder entnommen.“ Hatschepsut beugte sich tief über den ausgebreiteten