Edda Blesgen

Träume, die im Meer versinken


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Oma nebenan laut. „Obwohl ihr wie ein Ehepaar zusammenlebt, du und dein Freund, bist du doch nur eine unreife Göre und keine vernünftige Gesprächspartnerin für mich.“

      Claudia antwortete leise. Es folgte ein Wortgefecht, das im Flüsterton ausgetragen wurde. Jürgen verstand kein Wort mehr. Dabei waren die Wände dünn, er hörte sogar, wie Claudia den Schrank öffnete, Gläser und eine Flasche auf den Tisch stellte.

      „Zum Wohle!“ Das war Oma, diesmal mit ungedämpfter Stimme.

      „Zum Wohle“, sagte auch Claudia, nicht Prost wie zu Heinz. Zum Wohle, ist das vornehmer?“, überlegte Jürgen. Schon wieder unverständliches Murmeln und Zischen aus dem Nebenraum. Dann wurden Gläser niedergesetzt. Nach einem kräftigen Schluck aus der Bierflasche wischte Claudia sich immer mit dem Handrücken den Mund ab. Diesmal unterließ sie es sicher und ganz gewiss rülpste Oma nicht wie Heinz. Eine rülpsende Oma – der Gedanke erheiterte Jürgen. Er kicherte schon wieder und erschrak über sich selbst. Vor wenigen Minuten hatte er noch geglaubt, nie mehr in seinem Leben mit Weinen aufhören zu können.

      Kurz darauf verließen Oma und Claudia das Wohnzimmer. Sie telefonierten bei der Garderobe in der Diele – Telefon und Waschmaschine waren der einzige Luxus in Claudias Wohnung –.

      „Jürgen ist bei mir“, teilte Claudia Mama mit.

      Das schwarze Gespenst schien ihr den Hörer aus der Hand genommen zu haben, denn nun schrillte ihre Stimme: „Denk dir, er ist einfach weggelaufen… Nein, völlig grundlos.“

      Jetzt war Claudia wieder an der Reihe: „Ja, ja… nein… das erkläre ich dir morgen… ja… dann also tschüss… bis morgen.“ Eine Weile wurde in der Wohnküche noch getuschelt. Bald darauf verabschiedete Oma sich.

      „Jürgen“, rief Claudia, öffnete die Tür, steckte den Kopf ins Schlafzimmer, legte den Zeigefinger auf die Lippen, zwinkerte ihrem Bruder zu, flüsterte über die Schulter Oma zu:

      „Pst! Er ist eingenickt. All die Aufregung hat ihn wahrscheinlich total erschöpft. Lassen wir ihn weiter schlafen.“

      Endlich war das schwarze Gespenst fort. Jürgen schlüpfte wieder ins Wohnzimmer.

      „Morgen gehen wir zusammen zu Mama“, sagte Claudia. „Diese Nacht schläfst du hier.“ Jürgen fiel seiner Schwester um den Hals. Bei ihr durfte man das, sie drückte ihn, während seine Mutter ihn bei solchen Gelegenheiten neuerdings beiseite schob. Claudia gab ihm einen Kuss, dann befreite sie sich und räumte Gläser und Flasche vom Tisch.

      „Likör“, sagte sie. „Eigentlich sollte ich dieses süße Zeug nicht trinken; es macht dick. Ich habe in den letzten Wochen zugenommen. Meine Röcke spannen um die Hüften.“

      Wie kann sie jetzt nur über so unwichtige Dinge reden?, fragte Jürgen sich. Schließlich ist Julia nicht nur mein, sondern auch ihr Schwesterchen.– Aber vor wenigen Minuten habe ich sogar noch gekichert, dachte er schuldbewusst.

      Polternd betrat Heinz die Diele. Claudia ging ihm entgegen, schloss die Tür hinter sich. Wieder Tuscheln und Murmeln. Heinz kam ins Wohnzimmer, klopfte Jürgen zärtlich-ungeschickt auf die Schulter. Da musste er abermals ein bisschen weinen.

      Am nächsten Tag sahen Mama und Claudia sich zum ersten Mal nach vielen Wochen wieder. Kein Umarmen, kein Kuss, sie gaben einander wie Fremde die Hand, wirkten beide sehr verlegen. Claudia wischte feuchte Spuren von ihren Wangen fort, nahm Julia aus ihrem Laufställchen, hob sie auf den Schoß und strich der Kleinen über den spärlich behaarten Kopf. Mama betrachtete die beiden nachdenklich; Jürgen stand dabei und starrte sein Schwesterchen an. Schräge Schlitzaugen mit ausdruckslosem Blick, wulstige Lippen, ein offener Mund, in dem sich eine dicke Zunge, für den er anscheinend zu klein war, gegen die Zähne wölbte, diese äußeren Merkmale ihres Anderssein, die er bisher nicht beachtet hatte, fielen ihm jetzt auf.

      Julia seiberte und Speichel floss auf Claudias Hand. Gelassen angelte sie nach einem Taschentuch, während Jürgen sich mit Ekel und Abscheu abwandte und verzweifelt immerzu dasselbe dachte: Weshalb musste mir das zustoßen? Warum habe ausgerechnet ich eine solche Schwester? Auf diese seine Fragen wusste auch Claudia, die er zur Bushaltestelle zurück begleitete, keine Antwort.

      „Niemals mehr“, entfuhr es ihm erbittert, „werde ich mich mit Julia in der Öffentlichkeit zeigen. Ich will nicht neugierig angestarrt werden, keine taktlosen Bemerkungen hören müssen. Es ist mir jetzt auch unmöglich, ihr einen Kuss zu geben. Sie ist mir so fremd. Für mich gibt es nur eine Schwester. Dich!“ Er drückte Claudias Hand.

      „Du bedauerst nur dich selbst. Denk doch auch mal an Mama. Wie traurig muss sie erst sein, wenn dir Julias Unglück schon so viel Kummer bereitet!“

      Jürgen wischte die Tränen verlegen fort. Doch schon tat er sich wieder selber Leid. „Du hast gut reden. Mich trifft es viel ärger als dich. Julia ist zwar auch dein Schwesterchen, aber du gehst jetzt zurück in deine eigene Wohnung und lebst dein eigenes Leben. Ich habe Julia Tag für Tag um mich, soll sie spazieren fahren, mich anglotzen lassen. Niemals!“ Den Ausdruck du lebst dein eigenes Leben hatte er irgendwo aufgeschnappt. Er fand, das hörte sich ungemein erwachsen an.

      Elisa, Ben und Stefan werden schadenfroh sein, wenn erst herauskommt, was mit Julia los ist, dachte Jürgen nach dem Abschied an der Bushaltestelle auf dem Heimweg. Selbst wenn sie mich dazu auffordern sollten, kann ich niemals mit ihnen spielen, im Gegenteil, ich muss ihnen so weit wie möglich aus dem Weg gehen. Nur wenn es unbedingt notwendig ist, verlasse ich in Zukunft das Haus.

      Kapitel 7

      Jürgen beschloss, Stubenhocker zu werden. Am nächsten Tag, einem Samstag, schaute er aus dem Fenster. Ben und Stefan liefen durch die Wiesen. Soll ich nicht doch rausgehen? Das Zimmerleben erschien ihm bereits jetzt, nach einer halben Stunde, eintönig und beengend. Er nahm sich vor, außer Stubenhocker auch noch ein Musterschüler zu werden, griff nach seinem Biologiebuch, blätterte dann allerdings nur lustlos darin herum, betrachtete das Bild von einem Bauernhof mit Kühen, Hühnern, Gänsen. Wie gerne hätte er ein Haustier, natürlich keinen Hund, Hunde machten ihm Angst, vielleicht eine weiche Schmusekatze? Aber Mama erlaubte es nicht. Elisa erging es da besser. Neulich hatte die Lehrerin ihre Schüler über Haustiere befragt.

      „Wer von euch hat einen Hamster?“

      Unter anderen meldete sich Elisa.

      „Wer hat einen Kanarienvogel oder Wellensittich?“

      Wieder ging Elisas Finger in die Höhe.

      „Wer hat eine Schildkröte?“

      Elisa zählte zu den Glücklichen.

      „Sag mal, habt ihr zu Hause einen zoologischen Garten?“, wollte die Lehrerin wissen.

      Bei Hund und Katze musste Elisa dann allerdings passen.

      Plötzlich beschloss Jürgen, sich eine Katze zuzulegen, keine echte, sondern eine, die niemand sah, die es nur in seiner Fantasie gab. So würde es auch keinen Ärger mit Mama geben. Oder wie wäre es doch mit einem Hund? Der ließe ihn vielleicht seine Angst vor diesen Tieren überwinden. Ja, ein Hund sollte es sein! Jürgen schloss die Augen und konnte ihn ganz deutlich vor sich sehen: groß, mit funkelndem Blick und gefährlich blitzenden Zähnen. Aber er fürchtete sich nicht vor ihm, denn dies war sein Beschützer. Nur Diebe und Einbrecher würden von ihm beißend verjagt. Nun brauchte Jürgen kein banges Herzklopfen mehr zu haben, wenn Papa ihn abends für eine Flasche Bier in den Keller schickte. Er war nämlich gar nicht mutig, im Gegenteil, Gewitter, Dunkelheit, Spinnen, schnell und hoch sausenden Karussells, seine Lehrern ängstigten ihn. Beim wöchentlichen Schwimmunterricht wagte er sich schlotternd nur bis zum Bauchnabel ins Wasser, auf einer zwei Meter hohen Leiter befiehl ihn Schwindel, ihm gruselte vor Fröschen, Regenwürmern und dicken Nachtfaltern. Doch am meisten fürchtete er, jemand könne seine Ängstlichkeit bemerken. Damit das nicht geschah, klopfte er oft flotte Sprüche, zeigte sich waghalsig. Niemand sollte ahnen, was für ein kleiner – nein sogar großer – Angsthase Jürgen war, der sich sogar davor fürchtete, alleine in den