die Anrede Mutter, da sie ihre eigene früh verloren hatte. Jürgen fand die neue Mitbewohnerin unerträglich. Morgens um neun stand sie auf, hing dann ungewaschen, nicht frisiert, am Frühstückstisch herum und ließ sich von Dora – die das übrigens gern tat – umsorgen. Nach dem Frühstück ging das Jammern los: „Ich fühle mich noch müde und außerdem schrecklich deprimiert.“ Eine Gute-Laune-Pille sollte ihre Stimmung aufhellen. Spätestens eine Stunde später, gegen halb zehn, jetzt endlich geduscht und geföhnt, klagte sie: „Ich bin ja so nervös und aufgeregt“, und schluckte etwas zur Beruhigung. Manchmal schockte sie Dora: „Nichts mehr sehen, nichts mehr hören, nichts mehr fühlen, danach sehne ich mich mitunter. Ein Maiglöckchenstrauß, einige Tage in Wasser gestellt und das hochgiftige Wasser getrunken, kann helfen, einen Menschen ins Jenseits zu befördern.“ Wie hatte sie Jürgen in seiner Kindheit erschreckt, als er anhören musste: „Ich wünsche, ich wäre tot.“ Jetzt ließen ihn ihre Redensarten kalt, zeitweilig hoffte er sogar, sie würde diese Drohung wahr machen.
Den Köter, der mit seiner Mutter bei ihnen einzog, diese scheußliche Promenadenmischung, alt, taub, halbblind, mit Triefaugen und Sabbermund, die den unpassenden Namen Bella – die Schöne – trug, hasste und verabscheute er! Das Fell, früher schwarz, jetzt grau verfärbt und stellenweise zu einem hässlichen Rostrot ausgebleicht, zeigte kahle Flecken. Die schwanzwedelnden Begrüßungen des Tieres versetzten Jürgen in Panik, besonders wenn der Hund an ihm hochsprang und sein Gesicht zu lecken versuchte. Angeekelt wandte er seinen Kopf ab, voll Abscheu über den von schlechten Zähnen herrührenden faulen Atem und brachte kein Verständnis für die Affenliebe auf, die Ina für ihn hegte.
Ihren zweiten Ehemann hatte Ina während seiner letzten Lebensjahre aus dem gemeinsamen Schlafzimmer verscheucht, weil er schnarchte, das wusste Jürgen aus ihren Erzählungen. Jetzt lag das Vieh nachts neben ihr im Doppelbett. Den Kauf eines Einzelbettes lehnte seine Mutter kategorisch ab. „Soll mein armer Liebling etwa auf dem Fußboden liegen, oder willst du ihn gar in eine Hundehütte im Garten verbannen?“ Tagsüber saß er neben seinem Frauchen auf dem Sofa; überall lagen Haare herum, sein Fell stank, besonders wenn er von einem Spaziergang mit Dora – seine Mutter rappelte sich nur noch selten dazu auf – bei regnerischem Wetter nass zurückkam. Das Maß war voll, als er anfing, die Kontrolle über seine Blase zu verlieren, Pfützen in Küche und Diele hinterließ. Ausgerechnet auf der Fliese im Flur, die sich etwas gelockert hatte, pinkelte er mit Vorliebe. Sobald man darauf trat, spritzte einem die stinkende Brühe gegen die Beine. Eines Abends benutzte er sogar im Wohnzimmer den neuen Veloursteppich als Toilette. Das konnte nur pure Bosheit sein, denn Dora war eine halbe Stunde zuvor noch mit ihm draußen gewesen.
Als der Hund mit Ina bei ihm einzog hatte Jürgen gehofft, der Köter würde nicht mehr lange leben; er müsste bald abkratzen; mit seinen sechzehn Jahren war er doch längst überfällig. Aber dank guter Pflege, der Kunst des Tierarztes und seiner Aufbauspritzen, des teuren Fressens – oder trotzdem, denn seine Mutter übertrieb, kaufte Kinderschokolade, fütterte Hähnchenfleisch und Rinderfilet – machte er einen durchaus lebendigen Eindruck.
Als Jürgen an jenem Novemberabend nach Hause kam, beschlagnahmte Ina mit vier Freundinnen mal wieder Sofa und Sesseln. Von wegen ‚ich setze mich ganz still in eine Ecke’. Für ihn war kein Platz frei – vielleicht sollte er sich ganz still in eine Ecke hocken? Woher kennt sie die Leute?, rätselte Jürgen. Seine Mutter hatte sich in kürzester Zeit in der neuen Umgebung einen Freundeskreis aufgebaut. Aber Ina war – im Gegensatz zu ihm – schon immer sehr kontaktfreudig gewesen. Heute hatte sie zum ‚Totenkaffee’ eingeladen. „Aus zwei Gründen“, erklärte sie soeben die makabere Feier. „Da ich noch lebendig bin, kann ich selbst daran teilnehmen; zum anderen stelle ich meinen Körper nach dem Ableben der Anatomie für Forschungszwecke zur Verfügung. Dann findet die Beerdigung erst Monate später statt, wenn mich längst alle vergessen haben.“ Jetzt begann das beliebte Spielchen: „Wer geht zu wessen Beerdigung?“
„Ihr werdet mich alle überleben.“
„Nein, du uns. Du wirfst noch mit unseren Knochen Äpfel von den Bäumen.“
„Meint ihr? Vor meinem nächsten Geburtstag könnte ich schon tot sein.“
„Das sagst du nun schon seit fünfzehn Jahren.“
Das Geplänkel ging weiter, während die Frauen Rommee spielten, Kaffee tranken, Sahneteilchen aßen – auch Ina, die das bei ihrer Zuckerkrankheit überhaupt nicht durfte. Die anderen würden auch besser die Finger davon lassen, dick wie sie sind, fette alte Weiber, dachte Jürgen verächtlich. Seine ansonsten knauserige Mutter tischte ihren Freundinnen jedes Mal Unmengen von Kuchen auf; sogar für einen, um diese Jahreszeit sicherlich sündhaft teuren Freesienstrauß hatte sie Geld ausgegeben – oder Dora, um sich beliebt zu machen. Die sonst von Ina bevorzugten Chrysanthemen würden besser zu diesem Trauermahl passen.
Seine junge Frau lief erstaunlich flink, obwohl hochschwanger, zwischen Küche und Essecke im Wohnzimmer hin und her, brachte Kaffee, servierte Kuchen, bediente begeistert die älteren Damen, füllte immer wieder Tassen und Teller. Dora genoss ihre Gastgeberinnenrolle, selbst die weit mehr als fünfzig Jahre älteren Freundinnen ihrer Schwiegermutter waren ihr willkommen, nachdem sie sich die ersten Monate in der fremden Stadt ziemlich isoliert gefühlt hatte. Ihr Mann führte sie nicht, wie erhofft, in einen neuen Bekanntenkreis ein. Der Kontakt zu den Verwandten war durch seinen Vater schon vor Jahren abgebrochen worden. Die wenigen von ihm und seiner Ex gepflegten freundschaftlichen Beziehungen ließ Jürgen einschlafen, um Vorwürfen, nachdem er Elisa verlassen hatte, aus dem Weg zu gehen. Dabei beneideten die Männer, die längst nicht mehr so gut aussahen wie er, ihn seiner Ansicht nach doch nur, weil sie keine junge Frau wie Dora erobern konnten.
Mutter könnte ruhig etwas sparsamer mit ihrem Geld umgehen, nörgelte Jürgen innerlich, gereizt über die unnötigen Ausgaben. Anstatt die Kohle für Kuchen und Blumen zu verschwenden, soll sie es beiseite legen, schließlich rechne ich mit einem ansehnlichen Erbe. Jetzt musste er sich zu allem Ärger erneut die alte Geschichte anhören, die Ina nach Beendigung des Kartenspiels wieder einmal erzählte: „Eines Abends im Januar, als ich mit meinem Mann vom Theater nach Hause kam, Aida hatte es gegeben, ließ ich den Hund noch einmal zum Pipimachen in den Garten. Plötzlich, während ich meinen Mantel auszog, ertönte ein jämmerliches Winseln. Das arme Tierchen war in unseren Gartenteich gefallen – Feuchtbiotop nennt man das wohl heute – und fand im Dunkeln nicht mehr raus. Ich in den Garten, steige mit Pumps und Abendkleid in den Tümpel – damals machte man sich ja für einen Theaterbesuch noch schick, zog sich festlich an, nicht wie heute die jungen Leute, die mit zerrissenen Jeans und ausgeleierten Pullovern in die Oper gehen. Auf dem glitschigen Boden rutschte ich aus, lag im einsfünfzig tiefen Wasser. Schnell wieder auf die Beine, meinen wild strampelnden, keuchenden Liebling geschnappt, triefend nass ins Haus, zunächst Bella abgetrocknet, in sein Körbchen gelegt und sorgfältig zugedeckt, dann selbst unter die Dusche. Die Schuhe habe ich sofort mit Zeitungspapier ausgestopft, sie waren jedoch ruiniert, das Kleid musste am nächsten Tag in die Reinigung – aber Hauptsache, meinem armen verwöhnten Schatz war nichts passiert.“ Sie drückte Bella, die auf ihrem Schoß saß, an sich, gab ihr einen Kuss auf die feuchte Nase. „Ich sage ja immer: Wenn ich noch mal auf die Welt komme, werde ich Hund bei Hallards.“
Jürgen wandte sich angeekelt ab, während Ina weiter berichtete: „Mein Mann der währenddessen im Wohnzimmer seinen Schlummercognac trank, hatte von der ganzen Rettungsaktion nichts mitbekommen. Ich war total aufgekratzt, lag zunächst wach, redete wie ein Wasserfall, weshalb mein Göttergatte ärgerlich brummte: ‚Schlaf doch endlich.’ ‚Andere Männer singen: Holde Aida’, sagte ich zu ihm ‚und du meckerst.’ ‚Ja, die waren auch nicht verheiratet’, antwortete er darauf.“
Mindestens fünfzehn Mal hatte er die Story inzwischen schon gehört und kannte sie Wort für Wort auswendig, sogar die dazugehörige Mimik und Gestik waren ihm vertraut, als sähe er zum werweißwievielten Mal dasselbe Theaterstück. Ina, die sonst immer klagte und jammerte und von ihren Depressionen sprach, sprühte wenn Besuch kam, vor guter Laune.
„Ja, früher besaß ich auch ein Abo“, fing jetzt eine der Freundinnen an. „Aber seitdem man nur noch die verrückten modernen Sachen spielt, deren Sinn niemand versteht, – wahrscheinlich gibt es