Edda Blesgen

Träume, die im Meer versinken


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      „Du hast Recht. Ich habe immer vorher im Opernführer nachgelesen und ein Programmheft gekauft – das kostet inzwischen einen Euro. Es gab Zeiten, da erhielt man es kostenlos zur Theaterkarte...“

      Ina wollte wieder von ihrem Liebling erzählen (mich hat sie nie so genannt, dachte Jürgen): „Jetzt ist meine Bella alt und jenseits von Gut und Böse – genau wie wir“, fügte sie neckisch kichernd hinzu und blickte Zustimmung heischend in die Runde. „Aber als meine Hundedame noch jedes halbe Jahr läufig wurde, gab ich ihr täglich eine viertel Tablette von meinen Antidepressiva, weil sie ihre Sexualität nicht ausleben konnte. Das arme Tier ist ja so sensibel. Bei Gewitter fürchtet mein Liebling sich entsetzlich, dann gibt’s ein paar Baldriantropfen in den Trinknapf. Ich hingegen liebe Gewitter, stehe am Fenster, schaue, begeistert von dem Naturschauspiel, zu. Vorher plagen mich entsetzliche Kopfschmerzen, weil ich sehr wetterfühlig bin. (Da sind wir ja schon wieder beim Thema Krankheiten, dachte Jürgen.) Wenn es dann richtig losprasselt, blitzt und kracht, lösen sich die Verspannungen. Aber einmal habe ich mich fürchterlich erschrocken, als der Blitz gegenüber in einen Baum einschlug.“

      War sie schon vor Jahren depressiv und schluckte Medikamente dagegen?, überlegte ihr Sohn. Tut ihr gut! Wahrscheinlich kam das von dem schlechten Gewissen, weil sie ihre Familie verlassen hatte. Das Gespräch plätscherte dahin. Dora nickte zu allem zustimmend. Vertrat seine junge Frau wirklich die gleichen Ansichten oder wollte sie sich nur beliebt machen? Jürgen wusste es nicht – es war ihm auch gleichgültig und die älteren Damen achteten sowie nicht darauf.

      „Soll ich dir ein Bierchen holen?“, fragte Dora ihn.

      „Kind, jetzt setz dich endlich einmal hin. Denke an deinen Zustand, schone dich“, mahnte Ina.

      Den ganzen Nachmittag hat sie sich bedienen lassen, aber jetzt, wo es um mein Bier geht, ist sie um das Wohl ihrer Schwiegertochter besorgt – und vermutlich noch viel mehr um das des ungeborenen Babys, dachte Jürgen erbost. Susanne, ihr erstes Enkelkind, hat sie in den ersten Lebensjahren nie gesehen. Wahrscheinlich will sie jetzt das Versäumte nachholen. Dora wieselte entgegen dem Rat ihrer Schwiegermutter zum Bierholen in den Keller. Was ihren ‚Zustand' betraf, so war Jürgen mächtig stolz darauf, in seinem Alter noch einmal Vater zu werden – obwohl er sich auf das Baby überhaupt nicht freute.

      Ina war beim Thema Schwangerschaft angelangt, bei dem, was sie mitmachen musste an morgendlichem Erbrechen, Kreislaufbeschwerden, Krampfadern „...und das gleich dreimal. Wobei zumindest eins der Kinder gegen meinen Willen gezeugt wurde“, erzählte sie, während Jürgen, zu dem sie vielsagend herübersah, vor lauter Ärger gegen eine aufsteigende Übelkeit ankämpfte. „Nach einem Streit wollte ich nichts von meinem Mann wissen. Er hat mich überrumpelt und täuschte dabei vor, mit einem Kondom zu verhüten. – Heute haben die jungen Frauen es ja zum Glück selbst in der Hand, ob sie in andere Umstände kommen oder nicht.“

      „Ja, ja“, stimmten die anderen zu. Aber Ina war noch nicht fertig: „Zwei Töchter musste ich leider begraben. Darunter meinen absoluten Liebling. Man behauptet ja immer, eine Mutter sei all ihren Kinder gleich zugetan, aber wer das meint, macht sich etwas vor.“

      Während Jürgen den schnatternden, Kuchen mampfenden, Kaffee in sich hineinschüttenden Frauen grimmig lächelnd zuhörte, dabei sein Bierchen trank, beschloss er, was den verhassten Hund betraf, dem Schicksal ein wenig nachzuhelfen. Antidepressiva, das Stichwort hatte ihn auf die Idee gebracht.

      An den folgenden sechs Tage stibitzte er Ina jeden Abend eine Valium aus der Packung – seine Mutter merkte es nicht, weil sie die Tabletten sowieso unkontrolliert schluckte. Ein halbes Dutzend, diese Dosis müsste für einen kleinen Hund reichen, ihm den Garaus zu machen. Dann überkamen ihn allerdings doch unerwarteter Weise Skrupel. Erst zwei Wochen später konnte er sich entschließen, auf dem Nachhauseweg von der Arbeit in den Supermarkt zu gehen. Die kleine Dose Hundeschlemmermahlzeit aus dem Tierfutterregal kostete einsfünfzig, ein Preis der ihn maßlos ärgerte. Er empfand es als pervers, solche Luxusmenus für Tiere anzubieten, wenn anderswo Kinder hungerten, obwohl er niemals auf den Gedanken gekommen wäre, auch nur eine Mark für hungernde Kinder zu spenden. Nach dem Einkauf kamen ihm abermals Bedenken. Erst am darauffolgenden Sonntagmorgen, alle anderen schliefen noch, holte er die Schlemmermahlzeit aus dem Kofferraum seines Wagens, zerdrückte die stibitzten Tabletten und mischte sie unter das Hundefutter. Bella schlang, gierig wie immer, alles in sich hinein. Jürgen sah zufrieden zu, spülte anschließend den Fressnapf aus, trug die leere Konservenbüchse zu seinem Wagen; er würde sie Montag auf dem Weg vom Parkplatz zur Arbeitsstelle in einen Abfallbehälter werfen.

      Der gefräßige Köter vertilgte eine halbe Stunde später noch seine übliche Portion und ließ sich beim Frühstück von Frauchen mit Wurst füttern, dann legte er sich in sein Körbchen. Ina war am gestrigen Samstag in die Stadt gefahren, um einen Wintermantel zu kaufen. Lohnt sich das überhaupt noch in ihrem Alter? Und warum konnte sie damit nicht bis Januar, wenn alles reduziert wurde, warten? Zum Glück war Dora, die Gegnerin von Pelztierfarmen, dabei gewesen, sonst hätte seine Mutter womöglich keinen Kamelhaar- sondern einen teuren Pelzmantel erstanden. Um das gute Stück vorzuzeigen, entschloss sie sich zu einem ihrer seltenen Besuche in der Kirche zur Elf-Uhr-Messe, ausnahmsweise sogar zu Fuß: „Die frische Luft wird mir gut tun.“

      Beim Nachhausekommen schimpfte Ina über den Pastor, der mit seiner Predigt gelangweilt hatte – wieder einmal, wie sie sagte, dabei beschränkte sich ihre Teilnahme am Gottesdienst auf höchstens zweimal im Jahr, meistens um ein neues Kleidungsstück oder eine neue Frisur vorzuführen. Bella lag, jetzt schwer atmend, noch immer schlafend im Körbchen. Beim Mittagessen blieb sein Platz am Tisch leer. Ina fing an, sich zu sorgen.

      „Hoffentlich ist mein Schatz nicht krank.“ Trotzdem streckte sie sich seelenruhig zum Mittagsschläfchen in ihrem Gesundheitssessel aus. „Gestern der Stadtbummel, heute der Weg zur Kirche und zurück, das war doch etwas viel für mich. Ich fühle mich total erschöpft.“

      Eine Stunde später kam Ina ächzend aus ihrem Sessel hoch; Bella atmete nicht mehr. Jürgen musste, äußerst lästig für ihn, seine schluchzende Mutter mit ihrem reglosen Liebling zum notdiensttuenden Tierarzt fahren. Als der Doktor bestätigte, der Hund sei tot und all seine Kunst könne ihn nicht wieder lebendig machen, fühlte er sich erleichtert. Die Investition von einsfünfzig in die Hundeschlemmermahlzeit hatte sich gelohnt.

      „Warum bin ich nicht gleich diesen Mittag, als er das Fressen verweigerte, mit ihm gekommen“, jammerte Ina verzweifelt.

      „Das hätte auch nicht mehr geholfen. Ihr Hündchen war alt und schwach. Es ist ohne Schmerzen friedlich eingeschlafen. So ein schönes Ableben kann man sich nur wünschen.“ Niemand hegte zum Glück einen Verdacht.

      Inas Tränen glichen einem Sturzbach, als der Tierarzt ihr sagte, sie solle den Kadaver zum Entsorgen in der Praxis lassen. Selbst Jürgen fand diese Ausdrucksweise des ansonsten so mitfühlenden Arztes reichlich brutal.

      „Ich will meine Bella mitnehmen und im Garten zur letzten Ruhe betten“, schluchzte seine Mutter theatralisch und konnte nicht verstehen, weshalb ein Gesetz dies verbot.

      Geschieht ihr ganz recht, dachte Jürgen auf der Heimfahrt trotzig. Tat ihr etwa Tiger, meine Katze, damals Leid, die sie einfach aussetzte? Und wenn sie schon dem Tier gegenüber völlig gefühllos sein konnte, hätte mein Kummer sie rühren müssen. Zu der Zeit vermochte er noch intensive Trauer zu empfinden, heute war er abgestumpft. Um den Köter ist es nicht schade, dachte er weiter. Dem habe ich nur einen Gefallen getan, ihn von seinen Altersbeschwerden erlöst und ihm ein langsames Dahinsiechen erspart, beruhigte er sein schlechtes Gewissen. Mutter hätte sich nie dazu aufraffen können, ihn einschläfern zu lassen, wie elend er auch dran gewesen wäre.

      Kapitel 5

      „Ich werde Sie Bella nennen, die Schöne“, sagte Jürgen. Die Urlauberin lachte. „Wir sollten uns duzen“, schlug er vor, „bei der gegenseitigen Sympathie, die uns vom ersten Moment an verbindet.“ Davon hatte sie zwar nichts erwähnt, aber ihn musste man doch einfach hinreißend finden. Seine eigenen Gefühle beschränkten sich auf ein