Edda Blesgen

Träume, die im Meer versinken


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der Musik nach ihrem Geschmack, nämlich Blasmusik, brachte. Wie konnte Oma einem zornbebenden, verlassenen und traurigen Jungen Blasmusik zumuten! Jürgen lief in das kleine Zimmer, das ihm zugewiesen worden war, warf sich auf die Plüschdecke des Sofas, das ihm als Bett dienen sollte, weinte in das röschenbestickte handgearbeitete Kissen und tat sich selbst schrecklich leid. Nach einer Weile stand er auf, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Fensterbank. Nur ganz selten brummte unten auf der Stadtrandstraße ein Wagen vorbei und schickte seine Abgase hinauf in diese beängstigend saubere und gepflegte Kammer. Der helle Teppich vor dem Sofa glich einem Alptraum. Darf man überhaupt darauf treten? Warum stehen überall Vasen und Porzellanfiguren herum? Ich bin doch so ungeschickt und mache schnell Scherben! Die Möbel, obwohl mindestens sechzig Jahre alt, wirkten wie neu. Kein Kratzer, keine abgestoßenen Ecken. Selbstgehäkelte Deckchen auf jeder freien Fläche, unter der Vase mit den künstlichen Blumen, der Stehlampe, der Keksschale, dem Gummibaum; wahrscheinlich erwartete Oma, sie nach seinem Ferienaufenthalt noch genau so weiß und steif vorzufinden, wie gerade frisch gewaschen und gestärkt. Hier muss ich fünf Wochen bleiben, grübelte Jürgen, das überlebe ich nicht. Ein kalter Schreck erfasste ihn. Der Begriff Zeit machte ihm plötzlich Angst. Fünf lange Wochen! Was nun, wenn seine Eltern ihn nie wieder zurückholten, wenn sie ihn vielleicht sogar einfach bei Oma vergaßen, weil ihre Gedanken nur noch um Julia kreisten? Bloß nicht daran denken!

      Jürgen öffnete die Reisetasche und holte seine Sachen heraus. Ordentlich – Mama würde ihre helle Freude haben, könnte sie es sehen – hängte er die Hosen auf Kleiderbügel, räumte Hemden und Pullover in den nach Lavendel und Mottenkugeln duftenden Schrank, legte Wäsche und Socken in die mit Blümchenpapier ausgeschlagenen Seitenfächer. Eine Weile gelang es ihm, sich damit abzulenken. Dann stand er mit hängenden Armen da. Wenn ich fertig bin, werde ich mich langweilen. Schon wieder ein Wort, das sich gleich einem Schreckgespenst in seinem Hirn einnistete, in den Magen rutschte und dort wie ein Eisklumpen drückte: Langeweile. Unten in der Reisetasche lag das Robinson-Crusoe-Buch. Er blätterte lustlos darin, ohne ein Wort zu lesen, schob es dann beiseite, weil ihn der Roman auf einmal nicht mehr interessierte.

      Nach einiger Zeit kam Oma und holte Jürgen in die Küche. Sie stellte freundlich lächelnd, als sei nichts geschehen, das Abendessen auf den Tisch: Kartoffelsalat mit Würstchen. Der Junge setzte sich schnell aufrecht hin, wischte die Tränen fort und putzte seine Nase.

      „Johannes“, sie blieb hartnäckig bei dieser Anrede, „besitzt du kein richtiges Taschentuch. Diese Papierdinger sind hässlich. Einen ordentlichen Menschen erkennt man am sauberen Taschentuch und an seinen blankgeputzten Schuhen. Übrigens, musst du hier im Haus mit Straßenschuhen herumlaufen und mir unnötig Schmutz und Arbeit machen? Hast du keine Pantoffel mitgebracht?“

      Zum Widersprechen fühlte Jürgen sich zu müde, zu hungrig, zu traurig. Er kapitulierte, hörte auf den neuen Namen und holte schweigend seine Turnschuhe. Sie lagen, in Zeitungspapier eingewickelt, noch in der Reisetasche. Es war das Blatt mit dem Artikel über das eingesperrte, behinderte Kind. Mal sehen, wie Oma darüber denkt. Jürgen nahm die Zeitung mit in die Küche.

      „Da lies mal.“ Er aß von dem Kartoffelsalat, der, wie er sich widerwillig eingestehen musste, sehr lecker zubereitet war und schämte sich gleichzeitig, weil es ihm trotz seines Kummers so gut schmeckte. Oma überflog währenddessen den Bericht, saß dann regungslos und schwieg. Jürgen wartete verwundert auf einen Kommentar.

      „Du musst dir die Geschichte mit Julia nicht so zu Herzen nehmen“, sagte sie schließlich. „Deine Eltern, die schon seit längerem Bescheid wissen, haben mich erst neulich eingeweiht, obwohl ich so etwas bereits seit geraumer Zeit befürchtete. – Das arme Würmchen“, fügte Oma noch hinzu.

      „Wieso?“ Jürgen legte Messer und Gabel beiseite. Der Kartoffelsalat schmeckte ihm mit einem Mal nicht mehr. „Was ist mit meinem Schwesterchen?“

      „Oh – ich dachte – ich glaubte – ich meinte, du wärst informiert“, stotterte Oma verlegen.

      „Was hat der Zeitungsartikel mit Julia zu tun?“, wollte Jürgen wissen, der plötzlich Schlimmes ahnte.

      „Nichts, wirklich nichts.“ Oma gab sich betont heiter. „Iß jetzt. Gleich kommt diese Schlagerwettbewerbsendung im Radio. Sollen wir die zusammen anhören? Ich bin so gespannt, wer diesmal Erster wird. Schafft „Pack die Badehose ein“ es wieder? Ich hoffe doch sehr; die kleine Cornelia ist ja zu süß.“

      Jürgen interessierte sich jetzt weder für Kartoffelsalat noch fürs Radio. Er war misstrauisch, fragte und bohrte. Danach wusste er, warum Mama nicht mehr leben wollte, Papa bedrückt wirkte, Julia weder laufen noch sprechen konnte. Die furchtbare Wahrheit erschreckte ihn so sehr, er musste mit jemandem darüber sprechen. Aber nicht mit Oma. Jürgen lief fort – zu Claudia, seiner älteren Schwester.

      Kapitel 3

      Zwei Monate nach seiner Ankunft schlenderte Jürgen am Strand entlang, Bauch eingezogen, Brust raus. In der Badehose mache ich doch die beste Figur, dachte er, braungebrannt, schlank, durchtrainiert vom Schwimmen und Kajak fahren. Es gibt nichts hässlicheres als einen nackten Mann, pflegte seine Mutter zu sagen. Wenn er daheim im Garten hinterm Haus spärlich bekleidet in der Sonne lag, hatte sie sogar schon einmal die Bemerkung fallen lassen: Schämst du dich nicht, dich so vor deiner kleinen Tochter zu zeigen? Nein, zum Schämen bestand kein Anlass, im Gegenteil, er fand sich toll. Dass seine Haut an Oberschenkeln und unter den Oberarmen erschlaffte, wurde von ihm einfach ignoriert.

      Da lag die Urlauberin im Sand, die Jürgen vor drei Tagen zum erstenmal entdeckt hatte; nach ihrem frischen Sonnenbrand zu urteilen erst kürzlich angereist. Sie entsprach genau dem, was er suchte: Alleinreisend, nicht mehr die Jüngste, sichtlich Anschluss suchend, denn obwohl lesend, schaute sie immer wieder auf und hinterher, wenn ein Mann vorbeiging. Am Abend folgte Jürgen ihr vom Strand aus eine Weile auf der Uferpromenade. Er beobachtete, wie sie die Fahrbahn überquerte, an den Geschäften entlang bummelte, vor einem Schaufenster stehen blieb und die Bademoden eingehend betrachtete: Schwimmanzüge, Bikinis, Strandlaken, Frotteekleidchen. Als die Urlauberin auf die Villa Linda zusteuerte, wandte er sich enttäuscht ab. Obwohl nahe beim Strand gelegen, verfügte das Hotel nur über zwei Sterne. Wer hier abstieg, wollte preiswert Ferien machen, sich mit einfacher Küche begnügen, Zimmer mit wenig Komfort in Anspruch nehmen. Aber nein, die Fremde schaute nur die Straße rauf und runter, ging weiter, drehte den Ansichtskartenständer vor einem Laden, suchte ein Foto aus, steckte es wieder weg, interessierte sich nun für die Taschenbücher. Ob sie Italienisch sprach? Aber vermutlich gab es dort auch deutschsprachige Ausgaben für Urlauber. Anscheinend fand die Frau nichts, was ihr zusagte oder beabsichtigte gar keinen Kauf, hatte nur aus Neugier die Titel gelesen, oder aus Langeweile, um die Zeit totzuschlagen, die – so stellte Jürgen es sich zumindest vor – einer Alleinreisenden zwischen Strandaufenthalt und Abendessen lang wurde. Jetzt wandte sie sich wieder den Postkarten zu, drehte erneut den quietschenden Ständer. Diesmal nahm sie drei Karten heraus, verschwand, in ihrer Handtasche nach dem Portemonnaie kramend, im Laden.

      Jürgen setzte sich wartend auf eine Bank, ließ die Urlauberin nach dem Herauskommen fünfzehn, zwanzig Schritte gehen, ehe er sich erhob und ihr auf seiner Straßenseite langsam schlendernd folgte. Grandhotel Miramare, das teuerste Hotel im Ort, tatsächlich, die Fremde betrat das Gebäude. Die prächtige Fassade zeigte einen Balkon vor jedem Riesenfenster mit Aussicht auf Strandpromenade, Palmen und Meer. Aber leider auch auf die Straße. Der Durchreiseverkehr wurde zwar um den Ort herumgeleitet, trotzdem ging es hier lebhaft zu, vor allem abends, wenn die einheimischen jugendlichen Vespafahrer auf und ab knatterten, mit laufendem Motor in Gruppen beisammen standen, aufheulend wieder abbrausten, quietschend bremsten, wendeten, zurückfuhren, bei einer anderen Clique anhielten. Dieses Spiel ging bis spät in die Nacht, das wusste er von seinen Abendspaziergängen, bei denen ihn Lärm und Abgase ärgerten. Trotzdem, das Grandhotel Miramare war die richtige Adresse. Vier Sterne. Sie musste Geld haben, war keine von den Billig-Urlaub-Macherinnen. Er hatte zwar keine Ahnung, wie das Innere aussah, konnte es sich aber von Fernsehfilmen her lebhaft vorstellen: Luxuriös ausgestatteter Speiseraum, stilvolle Bar, in Vitrinen ausgestellte elegante Bademode, Seidenschals mit dem Namensaufdruck bekannter