Edda Blesgen

Träume, die im Meer versinken


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sie den größten Teil ihrer Reisekasse in einer dieser unkleidsamen, dickmachenden Gurttaschen um die mehr oder weniger vorhandene Taille gebunden unter ihrem weiten Leoparden-Pulli, aber immerhin zweihundert Euro, dazu noch ein Zehner und Kleingeld, insgesamt zweihundertfünfzehn Euro sechzig – nicht schlecht.

      Im Laden erstand er wiederum zwei Äpfel, ein Toastbrot, ein Stück Wurst, eine Dose Bier. Auf dem Rastplatz breitete Jürgen eine Decke aus und setzte sich zum Picknick darauf, öffnete die Bierdose, nahm einen kräftigen Schluck. Während er dicke Scheiben von der Wurst mit seinem Taschenmesser absäbelte und zwischen zwei Scheiben Toastbrot klemmte, rülpste er ungeniert. Das tat gut, ohne Doras missbilligende Blicke. Es war niemand nahe genug, um ihn zu hören, außer drei Kindern, die mit einem Ball herumtollten und ohne ihn zu beachten über den Rand seiner Decke liefen, als sei er gar nicht vorhanden. Sie gingen ihm auf die Nerven. Auch Julia, seine Tochter, brachte ihn manchmal auf die Palme. Mit zweiundsechzig ist man einfach zu alt für kleine Kinder. Enkelkinder ja, die konnte man den Eltern zurückbringen, wenn ihr Geschrei und Herumtoben unerträglich wurden. Er hatte allerdings nie den Sohn seiner Tochter aus erster Ehe verwahrt, sah ihn nur äußerst selten. Es reichte ihm, sich manchmal um Julia, seine Tochter, die zwei Jahre jünger als sein Enkel war, zu kümmern, wenn Dora an einem ihrer Nörgeltage klagte, sie käme nirgendwo hin, nichts als Arbeit mit dem Kind, im Haushalt. Sein Argument, der Nachwuchs habe sich nur auf ihren ausdrücklichen Wunsch hin eingestellt, jetzt solle sie auch alleine damit fertig werden, überhörte sie einfach und entschloss sich mitunter plötzlich zu einem Stadtbummel. Dann spielte er widerwillig den Babysitter, während seine Mutter, die er nur aufgenommen hatte, um Julia ganztags zu beaufsichtigen, damit Dora wieder arbeiten und Geld verdienen könnte, sich einfach drückte. Und ausgerechnet dann machte die Kleine jedes Mal ein stinkendes Häufchen in ihre Pampers. Aber auch mit dem Kinderhüten war es glücklicherweise für ihn jetzt aus und vorbei.

      Jürgen nahm die beiden Äpfel aus der Tüte, aß den einen, verstaute den zweiten mit dem Rest Wurst und den Toastbrotscheiben in seiner Kühltasche. Dann steckte er das seines Inhalts beraubte Portemonnaie in die leere Apfeltüte und schmiss sie in den nächsten Mülleimer, stieg in seinen Wagen, warf den Motor an, öffnete die vorderen Fenster, obwohl der Himmel sich zugezogen hatte und es nach Regen aussah. Macht nichts, dachte er, sobald die Alpen hinter mir liegen, wird das Wetter besser; ich fahre der Sonne entgegen. Den Arm auf den Fensterrahmen gestützt, fing sein herausragender Ellbogen im Fahrtwind wieder mal an zu schmerzen. Ob das Rheuma ist?, fragte er sich. Na, egal. Bald faulenze ich Tag für Tag in der Sonne, die Wärme wird mir gut tun und ich werde mich zwanzig Jahre jünger fühlen.

      Hat mein Chef, nachdem ich nicht zur Arbeit gekommen bin, Dora angerufen, um sich zu erkundigen, ob ich krank im Bett liege? Er würde sie heute Vormittag nicht erreichen, denn sie war im Kindergarten. Dort sollten die Eltern beim Bau eines Indianertipi – was immer das auch ist – helfen. Dora wird mich erst heute Abend vermissen und denken, ich sei nach der Arbeit zum Schwimmen zur Talsperre gefahren und wütend sein, weil ich, ohne sie zu informieren, nicht pünktlich zum Essen komme. „O Freiheit, o Freiheit“, sang er wieder lauthals.

      Am nächsten Tag, nach langer Fahrt die ganze Nacht hindurch, unterbrochen nur von einer halbstündigen Ruhepause auf dem Parkplatz einer Raststätte, erreichte Jürgen gegen Mittag sein Ziel, einen kleinen Ferienort an der Riviera. Hier auf dem Campingplatz hatte er vor sechs Jahren mit Dora gezeltet, als Elisa, seine erste Frau, ihn – alleine – mit seinem Boot an der Mosel wähnte. Er füllte an der Rezeption das Anmeldeformular aus, nahm anschließend seine Schwimmtasche und ging, obwohl hundemüde, über den Fußweg hinunter zur Bucht. Der Aufbau seines Zeltes, ein winzigkleines, in dem man nicht einmal stehen konnte, es war ja nur gedacht, um darin zu schlafen, konnte bis später warten. Es herrschte wenig Betrieb am Strand, die meisten Feriengäste saßen beim Mittagessen in ihren Hotels. Vollpension, dachte er verächtlich. Die schönsten Stunden des Tages verbringen die Urlauber bei Tisch, essen riesige Portionen, weil sie für ihr Geld möglichst viel haben wollen und wundern sich dann, dass sie trotz Schwimmens – was bei den meisten sowieso nur aus Herumplätschern besteht – zunehmen. In langen weiten Zügen kraulte er hinaus, lag dann am Strand auf seinem Badetuch. Ja, so ließ sich das Leben aushalten. Der Himmel war zwar bewölkt, aber die Temperatur angenehm warm.

      Jürgen döste vor sich hin und grübelte: Gegen zehn, elf Uhr gestern Abend wird Dora angefangen haben, sich Sorgen zu machen. Ahnt sie, dass ich mir endlich meinen Traum erfülle? Dora und die Kleine würden ihn schrecklich vermissen, weinen, sich nach ihm sehnen; seine Mutter auf keinen Fall, ihr war er immer gleichgültig gewesen. Ob die Frauen jetzt beisammen saßen, über seinen Verbleib rätselten? Gut oder schlecht von ihm redeten? Ihm fehlte die Fantasie, sich das Gespräch auszumalen. Wozu auch? Sie mussten sehen, wie sie alleine zurecht kamen. Seine Zukunft jedenfalls konnte er sich lebhaft vorstellen: Sonne, Wasser, faulenzen.

      Der Schlaf übermannte ihn; erschreckt fuhr er nach einer Weile hoch, weil irgendjemand ihn nassgespritzt hatte – nein, es regnete. Er packte seine Sachen zusammen, ging zurück zum Campingplatz und baute sein Zelt auf. Beim Hineinkriechen war er bis auf die Haut nass, zog darum die durchweichten Kleidungsstücke aus und legte sich, nur mit der Schwimmhose bekleidet, auf die Luftmatratze. Todmüde schlummerte er gleich ein. Das rächte sich allerdings in der folgenden Nacht. Seine in letzter Zeit eingenommen Schlaftabletten lagen vergessen zu Hause in einer Kommodenschublade. Jetzt benötige ich keine Chemie mehr, redete er sich ein, schließlich gibt es hier weder Verkehrslärm, noch ein plärrendes Baby – obwohl Julia aus dem Alter längst raus war –, es brennt kein störendes Nachtlicht und morgens brauche ich nicht zur Arbeit und kann so lange schlafen, wie ich will. Dem Regen lauschend, der plätschernd auf sein Zelt trommelte, lag er wach, überdreht von der langen Fahrt, neugierig auf das neue Leben, erstaunt über seinen Mut, das Wagnis einzugehen, alles hinter sich zu lassen.

      Am nächsten Tag, es goss in Strömen, ging er zum Bahnhof und deponierte einen alten braunen DIN-A4-Umschlag, der seine Ersparnisse enthielt, in einem Schließfach. Mit den darin einstmals enthaltenen Formularen hatte die Landesversicherungsanstalt vor Jahren seinen Antrag auf Rentenauskunft beantwortet. Er war fast krank geworden aus Sorge über die geringe Höhe der zu erwartenden Bezüge. Die aufgeführte niedrige Summe gab den Ausschlag, sich von Elisa zu trennen und Doras Drängen auf eine Heirat nachzugeben, denn zu der Zeit hielt er sie für reich. Sie besaß ein eigenes Haus, von ihrem Vater geerbt, groß, komfortabel, auch Bargeld, dessen Höhe ihm allerdings unklar blieb, das er jedoch auf eine ganz beträchtliche Summe schätzte. Dora, zwar noch in der Ausbildung, würde nach deren Abschluss in ihrem Beruf als Altenpflegerin nicht schlecht verdienen. Sie war jung, müsste, wenn er mit fünfundsechzig in den Ruhestand ging, noch jahrelang arbeiten. Allerdings verringerte sich die Rentensumme für ihn völlig unerwartet bei der Scheidung drastisch, denn die gemeinsam erwirtschafteten Ansprüche wurden addiert und dann durch zwei geteilt. Da Elisa zehn Jahre nach der Geburt ihrer gemeinsame Tochter Susanne nicht gearbeitet hatte und anschließend nur halbtags, würden sie beide jeweils nur geringe Bezüge erhalten. Trotzdem glaubte er, auch im Ruhestand finanziell abgesichert zu sein, denn zusammen mit Doras Gehalt ergäbe sich ein schönes Einkommen. Und er hätte den ganzen Tag über seine Freiheit, könnte viel alleine unternehmen, Kajak fahren, im Talsperrensee schwimmen. Vielleicht auf dem Heimweg ein bisschen einkaufen, das ließe sich machen. Dora, neuerdings eine leidenschaftliche Vegetarierin, ernährte sich am liebsten von Salat, Rohkost und Obst. Abends dürfte sie sich gerne an den Herd stellen, für ihn ein Steak braten und ein paar Kartoffeln kochen – das war doch nicht zu viel Arbeit und keineswegs zu viel verlangt. So hatte er sich das vorgestellt.

      Doch dann kam alles ganz anders. Dora brach die Lehre ab, verpachtete ihr Haus und zog zu ihm, weil er in seinem Alter und nur ein paar Jahre von der Rente entfernt, unmöglich noch einmal die Stelle wechseln konnte. Sie fand keinen neuen Ausbildungsplatz, bemühte sich wahrscheinlich auch gar nicht darum. Von der Miete, ihrer einzigen Einnahmequelle, behielt Dora einen – wie ihm schien viel zu großen – Betrag für sich, den Rest steuerte sie zum gemeinsamen Haushalt bei. Dann wurde die junge Frau, angeblich ungewollt, schwanger. Mit neunundfünfzig noch einmal Vater werden, das passte Jürgen absolut nicht, denn dann wäre seine Freiheit gefährdet. Nein, kein Kind, das hatte er ihr vor der Ehe bereits klar gemacht und sie hatte – wenn auch ungern – zugestimmt. Aber auf einmal lehnte sie eine Abtreibung rigoros ab und brachte Julia zur Welt.