Edda Blesgen

Träume, die im Meer versinken


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wenn auch auf wenig freundliche Art. Ben übersah in glattweg. Die Tochter der Familie Mühlens von nebenan, Elisa, hatte Jürgen noch nicht gesehen. Sie sollte das Schuljahr in der alten Schule beenden und wohnte solange bei ihrer Tante.

      Anfangs vermisste Jürgen kaum Gesellschaft. Total begeistert von seinem Schwesterchen, trug er sie durchs Zimmer, spielte mit ihr, saß im Garten, die Kleine neben sich auf einer Decke. Seltsamerweise krähte und juchzte Julia nie vor Vergnügen, blieb stets still und brav, zu brav. Aber da er keine Ahnung von Babys hatte, erschien ihm das normal. Manchmal schob er den Kinderwagen die Straße hinauf und wieder herunter; es war ihm egal, ob Ben und Stefan sich darüber lustig machten.

      Als Julias Mahlzeiten Möhrenbrei, Hühnchen in Reis, Bananen-Zwieback-Mus hinzugefügt wurden, schmeckte Jürgen die Babykost beim Probieren. Mama schlug vor, auch ihm, der ein schlechter Esser war, Kleinkindnahrung zu geben. Erfreut sah sie, wie begeistert er sich über die Portionen hermachte.

      Aber dann auf einmal änderte sich alles. Es fing ganz harmlos, sogar angenehm für ihn, an: War es ihm bisher verboten, sich alleine weiter vom Haus zu entfernen, stromerte er jetzt stundenlang ungehindert draußen umher, kroch unter Zäunen hindurch, lief durch die Wiesen, auf denen Kühe weideten, erkundete das nahegelegene Wäldchen, auch bei schlechtem Wetter. Seine Mutter bemerkte kaum, wie selbständig er sich machte, sie schien ihn nicht einmal zu vermissen. Hatte ihn bisher jeden Morgen seine Kinderwagen schiebende Mama auf dem zwanzigminütigen Schulweg bis zur Bushaltestelle begleitet, sollte er jetzt auf einmal alleine gehen, weil ihr die Zeit dafür fehlte. Ein bisschen ängstigte es ihn, der immer überbehütet worden war, anfangs schon. Andererseits freute er sich, weil seine Klassenkameraden aufhörten, ihm ‚Muttersöhnchen’ nachzurufen.

      Julias Geburtstag war auch der erste Ferientag. Jürgen fürchtete sich vor den einsamen Sommerwochen ohne Spielgefährten. Würde er sich nicht bald langweilen? Aber dann erzählte Mama an diesem Geburtstagsmorgen, sie habe mit der Nachbarin zur Rechten, Frau Mühlens, gesprochen. Ihre Tochter sollte heute nach Hause kommen. Jürgen freute sich so auf Elisa, als habe er anstelle des Geburtstagskindes ein Geschenk bekommen; viel lieber allerdings hätte er mit den beiden Jungen gespielt.

      Oma riss ihn aus seinen Gedanken: „Es stört euch doch nicht, wenn ich mein Gebiss ausziehe?“ Sie legte ihre neuen Zähne, die ihr noch Druckschmerzen verursachten, in ein mit selbstgehäkelter Spitze umrandetes Taschentuch gehüllt neben ihren Teller, steckte Kuchenbrocken in den Mund, mümmelte, spülte kräftig mit Kaffee nach.

      „Julia kann sich immer noch nicht alleine aufrichten?“, fragte sie – zum wievielten Mal in den letzten zwei Monaten eigentlich schon? „Jürgen konnte in dem Alter schon laufen.“

      Jürgen war stolz. Alles drehte sich in letzter Zeit ausschließlich um seine Schwester. Endlich beachtete ihn jemand, lobte ihn, wenn auch für etwas, das schon lange zurück lag.

      „Jedes Kind ist anders. Das eine entwickelt sich schnell, das andere eben langsamer“, erklärte Mama nachdrücklich.

      „Und wie ist es mit dem Sprechen?“, ging das Verhör weiter. „Ein paar einfache Wörter müsste Julia doch längst kennen.“ Mama sagte nichts mehr; Jürgen wusste, sie ärgerte sich. Oma sprach immer in vorwurfsvollem Ton. Als sei es die Schuld seiner Eltern, wenn sein Schwesterchen weder laufen, noch sich alleine zum Sitzen aufzurichten vermochte, und – außer einem knurrenden Brummen – keinen Ton hervorbrachte. Schweigend aßen sie. Julia, auf Mamas Schoß, schaute teilnahmslos vor sich hin, seiberte. Ein Bröckchen der Geburtstagstorte, das Oma ihr in den Mund schob, lief an einem Speichelfaden wieder heraus. Mit Entsetzen sah Jürgen Tränen in Mamas Augen schimmern.

      „Reiß dich zusammen“, kritisierte Oma. Jürgen schmeckte der Kuchen nicht mehr. Die Missstimmung zwischen den Erwachsenen verdarb ihm den Appetit. „Willst du wohl brav sein. Ein Baby spürt die Unruhe“, hatte seine Mutter ihn öfters ermahnt. Warum benehmen die Erwachsenen sich dann so rücksichtslos? Julia fühlte doch sicher auch die schlechte Laune zwischen den beiden. Was mag sie denken? Denkt man überhaupt schon in dem Alter? Wenn ja, müsste man sich dann nicht zurückerinnern können? Jürgen überlegte. Ein rotes Tier fiel ihm ein. Aber damals war er schon etwa drei Jahre alt. Das rote Tier saß auf der Gardinenstange. Er schrie. Da kam Mama und tröstete ihn. Das Tier war verschwunden. Er hatte nur geträumt. Außerdem entsann er sich noch an einen Hund, der ihn angesprungen und umgeworfen hatte. Das war kein Albtraum gewesen, sondern Wirklichkeit. Seitdem fürchtete er sich vor Hunden – natürlich nur vor lebendigen, nicht vor dem kuscheligen Plüschpudel, Mamas Geburtstagsgeschenk für Julia. Oma hatte Bauklötze mitgebracht. Sie gab Mama den Karton: „Ich habe sie nicht eingepackt. Julia ist noch zu klein, um es zu bemerken.“ Aber auch Jürgen hatte noch nie ein hübsch eingewickeltes Geschenk von ihr erhalten, sie gab niemals Geld für unnütze Dinge wie Geschenkpapier und bunte Schleifen aus. Mama hielt übrigens genauso wenig von Krimskrams.

      „Soll ich dir ein Gläschen holen?“, fragte Mama, woraufhin Jürgen zustimmend nickte.

      Als sie mit dem Juniormenü Reis mit Hühnchen und feinem Gemüse zurückkam, fragte Oma fassungslos: „Du fütterst ihn doch nicht etwa mit Babynahrung in dem Alter?“

      „Er ist ein schlechter Esser. Ich bin froh, wenn er wenigstens davon etwas zu sich nimmt“, erklärte Mama.

      „Das nennst du Erziehung? Früher blieben die Kinder so lange vor ihren Tellern sitzen, bis sie leer gegessen waren. Mein Vater hätte mir den Hintern versohlt, anstatt solche Faxen auch noch zu unterstützen. Da gab es keine Extrawünsche. – Schämst du dich nicht?“, wandte sie sich jetzt an ihren Enkel, „ein so großer Junge.“

      Jürgen wurde es zu bunt, außerdem sah er vor dem Nachbarhaus ein Taxi vorfahren. Das Mädchen auf dem Rücksitz neben Frau Mühlens musste Elisa sein. Er stand auf.

      „Halt, hier geblieben, junger Mann“, funkte Oma dazwischen. „Es ist unhöflich, den Tisch zu verlassen, wenn noch nicht alle fertig sind.“

      „Lass ihn nur“, sagte Mama.

      „Allmählich wird es Zeit, ihm Manieren beizubringen“, nörgelte Oma.

      Jürgen flitzte aus dem Zimmer. Er kam eine Minute zu spät. Frau Mühlens, ihre Tochter, ein Koffer und eine Reisetasche verschwanden im Haus, der Taxifahrer setzte sich in sein Auto und fuhr davon. Enttäuscht ging Jürgen wieder ins Wohnzimmer. Die Stimmung am Kaffeetisch war noch bedrückter als vorhin. Oma hatte offensichtlich seine Abwesenheit benutzt, um Mama wieder einen Vortrag über Julias verzögerte Entwicklung zu halten. Jürgen ließ sich auf seinem Stuhl nieder und blieb sitzen. Er wollte seine Mutter vor weiteren Predigten von Oma beschützen. In Gegenwart von Kindern, das wusste er, sagten Erwachsene nicht alles.

      Um halb sechs kam Vater von der Arbeit. Dem Gespräch der Frauen, das sich jetzt ganz harmlos um einen Rundfunkfortsetzungskrimi drehte, hörte er interessiert zu – oder tat nur so, während seine Gedanken ganz woanders weilten; bei ihm wusste man das nie. Nicht nur Jürgen atmete auf, als Oma sich verabschiedete. Da sie für den Heimweg nun doch den Bus wählte, begleitete Papa sie zur Haltestelle. Mama spülte, der Junge trocknete ab. Anschließend wurde Julia für die Nacht zurechtgemacht. Dabei half Jürgen sonst immer gerne, diesmal nicht; Elisa war im Garten nebenan aufgetaucht. Er rannte noch mal raus, bremste allerdings vor der Tür seine Eile, schlenderte ganz langsam, wie zufällig näher, blieb stehen.

      „Ich heiße Jürgen.“

      „Hhm“, brummte das am Zaun lehnende Mädchen.

      „Du bist Elisa, nicht wahr?“

      „Hhm“, kam wieder als einzige Antwort.

      „Ich glaube, wir sind gleichaltrig“, versuchte Jürgen es hartnäckig weiter. „Im nächsten Schuljahr gehen wir vielleicht in dieselbe Klasse. Wäre das nicht fein?“

      Frau Mühlens kam heraus. „Da ist ja unser Nachbarsjunge, von dem ich dir erzählt habe“, sagte sie zu ihrer Tochter, und an beide gewandt: „Ich hoffe, ihr werdet Freunde. Wollt ihr nach dem Abendessen noch ein wenig miteinander spielen?“

      „Vielleicht morgen“, gab Elisa zur Antwort.