Edda Blesgen

Träume, die im Meer versinken


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geschlossen hatte, schimpfte, wurde, weil von ihm keine Antwort kam, immer lauter, warf die Tür schließlich knallend ins Schloss. Dann ließ sie eine Beethoven-Schallplatte oder CD laufen, um sich zu beruhigen, wie sie später behauptete, aber hauptsächlich um ihn zu ärgern, wie er glaubte.

      Jürgen hatte immer wieder gesagt: Wenn ich erst einmal Rentner bin, fahre ich ein ganzes Jahr lang in den Süden, nehme meinen Kajak mit, bleibe dort, wo es mir gefällt, lebe in den Tag hinein, bis es mich weiterzieht. Elisa hätte ihn gewähren lassen. Bei Dora, seiner zweiten Frau, die, als er sie sechsundfünfzigjährig kennen lernte, nur halb so alt war, kam das nicht in Frage. Obwohl nie zugegeben, nicht einmal vor sich selbst, stand er seit der Hochzeit vor fünf Jahren unter dem Pantoffel seiner jungen Frau. Damit war jetzt glücklicherweise Schluss. Aus Gesundheitsgründen vorzeitig aus dem Dienst auszuscheiden war ihm nicht gelungen. Das kam davon, wenn man sich fit hielt; dafür wurde man bestraft. Aber er hatte allen ein Schnippchen geschlagen, sich jetzt schon seine Freiheit genommen, Arbeit, Frau, ein plärrendes Kind und vor allen Dingen seine Mutter, deren dauernde Anwesenheit in seiner Wohnung ihm unerträglich schien, zurückgelassen. Keine Schufterei mehr, die drei Jahre bis zur Rente. Er war an diesem Morgen wie immer um sieben Uhr aufgestanden. Dora hatte bereits Kaffee gekocht, den Frühstückstisch gedeckt, sein Butterbrotpaket und die Thermoskanne für die Pause wie üblich für ihn bereit gestellt. „Tschüss, bis später“, verabschiedete er sich von ihr, als sie unter die Dusche ging. Während im Badezimmer das Wasser rauschte, lud er in fieberhafter Eile seinen Kajak auf den Wagen. Die Reisetasche, bereits tags zuvor gepackt, als Dora mit Julia, ihrer dreijährigen Tochter, das allabendliche Ritual aus Geschichte erzählen, Herumalbern, Singen und Kuscheln absolvierte, wurde im Kofferraum verstaut. Gegen viertel vor acht fuhr er davon, aber nicht zur Arbeit, die Plackerei als Fliesenleger am Bau war zu Ende. Seine heimlichen Ersparnisse müssten die drei Jahre bis zu seinem fünfundsechzigsten Geburtstag reichen. Eventuelle Probleme beim Rentenantrag kamen ihm gar nicht in den Sinn. Er machte sich selten Sorgen, um das was morgen passieren könnte.

      Ich werde Dora nie wiedersehen, überlegte er, ganz ohne Bedauern, und bei dem Gedanken, seine Mutter nun niemals mehr ertragen zu müssen, fiel ihm geradezu ein Stein vom Herzen. Selbst wenn er seine dreijährige Tochter Julia im Geiste vor sich sah, gab ihm das nur einen winzigen Stich. Die Kleine war niedlich; als Beweis, was ein Neunundfünfzigjähriger noch leisten konnte, eignete sie sich wunderbar. Ansonsten wusste er wenig mit ihr anzufangen, fand sie nur anstrengend. Nach dem Duschen würde Dora Julia wecken und für den Kindergarten zurecht machen. Seine Mutter, inzwischen einundneunzig aber erstaunlich fit, lag um diese Zeit noch in den Federn. Dora brachte ihr jeden Morgen die Zeitung und eine Tasse Kaffee ans Bett. Beim Aufstehen um neun Uhr erwartete sie ein gedeckter Frühstückstisch. Jürgen wurde zwar ebenfalls von seiner Frau verwöhnt, hielt das auch für ganz normal, schließlich war er derjenige, der arbeitete und das Geld nach Hause brachte, fand aber die Ansprüche seiner Mutter unverschämt und erst recht ärgerte ihn – der es selbst nie besonders genau nahm mit der Körperpflege – dass sie ungewaschen, nicht frisiert, am Frühstückstisch erschien.

      Gegen zehn machte Jürgen Picknick auf einem Rastplatz, aß sein von Dora, der Vegetarierin, mit Gurkenscheiben und Käse belegtes Brot, trank den Kaffee und fuhr weiter bis ein Uhr mittags. Allmählich wieder hungrig, steuerte er die nächste Raststätte an. Das Restaurant kam nicht in Frage, er musste haushalten, damit sein Geld möglichst lange reichte. Also rein in den Shop, eine Dose Bier, zwei Äpfel, ein Paket Toastbrot, ein großes Stück Wurst, Dora zum Trotz. An der Kasse stand eine lange Schlange – meist ältere Frauen, wahrscheinlich mit einem Bus unterwegs, die jetzt auf der Hinfahrt in den Urlaub bereits Mitbringsel für ihre Enkelkinder einkauften: Plüschtiere, Comic Hefte, Sandkastenspielzeug aus Plastik und für sich selbst Reiseproviant: Schokoriegel, Kekse, Gummibärchen, Dosenlimo und Cola. Touristinnen, dachte Jürgen verächtlich, lustige Witwen, unterwegs in Richtung Süden. Schon hier, noch nördlich der Alpen, wo es kühl und regnerisch war, liefen sie nur leicht bekleidet in dreiviertellangen Hosen – Caprihosen nannte man sie, glaubte er sich zu erinnern – mit ärmellosen Tops, bevorzugt im Leoparden-, Tiger- oder Reptilienmuster, herum, einen Strohhut auf den krausen Dauerwellen, mit viel Gold behängt, am Hals, den Armen, einige trugen sogar Fußkettchen um die geschwollenen Knöchel, dazu schwere Klunker in den Ohren, welche die Ohrläppchen auf fast die doppelte Länge zogen. Die Frau vor ihm hatte dicke gelbe Hornhaut an den Fersen und blaulackierte Zehennägel in ihren offenen Sandaletten. Wahrscheinlich waren ihre Fingernägel in der gleichen Farbe angemalt, vermutete Jürgen, aber die konnte er nicht sehen. Diese Frauen gaben fröhlich das Geld aus, für das die Männer sich ein Leben lang abgerackert hatten, um dann, kaum in Rente, zu sterben und nichts mehr davon zu haben. Ihm würde es nicht so gehen. Er war unterwegs, seinen Traum zu verwirklichen, bevor Alterswehwehchen ihn daran hinderten.

      Die Schlange an der Kasse rückte nur langsam vorwärts. Alte Weiber, schimpfte Jürgen innerlich, wütend, weil sie ihn fatal an seine Mutter erinnerten, an die er nun absolut nicht denken wollte. Noch schlimmer als die Witwen fand er die Geschiedenen, die sich von dem Anteil an den Rentenansprüchen ihres Verflossenen ein schönes Leben machten, indes der Ex knapp bei Kasse war, besonders wenn dieser eine neue Familie gründete. Elisa hatte sich nach der Scheidung einen schwerreichen, mehrere Jahre jüngeren Freund geangelt, mit dem sie bereits jetzt Weltreisen unternahm, die sicher nach dessen Pensionierung noch an Häufigkeit zunehmen würden, und er, Jürgen, müsste mit seinem Geld, das die beiden eigentlich gar nicht nötig hatten, dazu beisteuern, während es ihm an der Rente fehlen würde.

      Ob Elisa auch inzwischen mehrere überflüssige Kilos mit sich herumtrug, wie die Frau vor ihm in der Schlange? Dora ging bereits jetzt, mit vierunddreißig in die Breite. Schlank war sie nie gewesen, hatte stets breite, muskulöse Schultern und Arme gehabt, aber neuerdings setzte sich zudem noch Fett auf ihren Hüften an, weil sie seit der Schwangerschaft und nach Julias Geburt keinen intensiven Schwimmsport mehr betrieb. Zum Glück würde er nicht länger mit ansehen müssen, wie Jahr für Jahr ihr Gewicht zunahm, wie bereits jetzt vereinzelt vorhandene graue Haare und die Falten sich vermehrten. Verblühte, unter Wechseljahrs-Hitzewallungen ewig schwitzende Frauen, mit dicken Hintern, ausladenden Busen, waren ihm zuwider. Ältere, Bierbäuche vor sich herschiebende Männern, die beginnende Glatzen durch Haarsträhnen zu kaschieren versuchten, fand er genauso abstoßend. Obwohl inzwischen auch nicht mehr der Jüngste, hielt er sich selbst für das lebende Beispiel, wie attraktiv ein Übersechzigjähriger mit ein wenig Disziplin noch aussehen kann: schlank durch Sport, braungebrannt, und das nicht vom Solarium sondern vom Aufenthalt an der frischen Luft. Ein jugendliches Gesicht bildete er sich allerdings nur ein; tatsächlich war seine Haut durch zu viele ausgiebige Sonnenbäder trocken und faltig, zeigte besonders um die Augen herum tiefe Furchen. Doch das wollte er, bis auf ein paar Lachfältchen, sogar vor sich selbst nicht zugeben.

      Die Frau vor ihm klemmte den eingekauften Plüschhund unter ihren Arm mit den Schweißrändern im Leopardenmuster-Pulli, öffnete den Reißverschluss der Umhängetasche, holte ein Spitzentaschentuch und eine Parfümsprayflasche heraus. Das Tuch wurde mit Kölnisch Wasser eingenebelt und sie fuhr sich damit durch das Gesicht, über den Nacken, in dem die Haare nass an der Haut klebten. Gleichzeitig mit dem Taschentuch war das Portemonnaie herausgerutscht und fiel – von ihr unbemerkt – zu Boden. Jürgen konnte nicht widerstehen; er bückte sich. Gefunden, nicht gestohlen. Ein hastiger Blick über die Schulter, niemand beobachtete ihn. Schon verschwand die Geldbörse in seiner Hosentasche. Nun nichts wie weg, bevor die Frau – spätestens an der Kasse – den Verlust bemerkte. Zum Glück hatte er vorhin, als sie ihr Kölnisch Wasser allzu großzügig versprühte, den Hustenreiz unterdrückt. Wahrscheinlich hätte sie sich zu ihm umgewandt und sein Gesicht gesehen; jetzt konnte er unerkannt entkommen. Auf dem Weg zum Ausgang stellte er den Einkaufskorb mit Äpfeln, Brot, Wurst, Bierdose einfach neben einem Regal ab, um nicht beim Verlassen des Ladens mit unbezahlter Ware ertappt zu werden. Erleichtert aufatmend – niemand verfolgte ihn – ließ er sich auf seinen Autositz fallen und gab Gas. Das war gut gelungen, obwohl ihm die Übung darin fehlte.

      Sein Magen knurrte. Nach einer halben Stunde steuerte er den nächsten Rastplatz an. Hier machte die Busgesellschaft bestimmt nicht erneut eine Pause. Und wenn schon, sicherlich würde ihn niemand wiedererkennen oder gar mit dem verschwundenen Portemonnaie in Verbindung bringen. Vorsichtshalber wechselte er sein dunkelblaues T-Shirt gegen ein knallrotes aus. Jetzt