Edda Blesgen

Träume, die im Meer versinken


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Nachtruhe? Jürgen fand dieses geschäftige, überlaufene Städtchen mit den neuerbauten mehrstöckigen Hotels entlang der Uferpromenade gar nicht mehr reizvoll. Er hatte es anderes in Erinnerung, ruhig, anheimelnd. Vielleicht wäre die Weiterfahrt zu einem weiter südlich gelegenen Aufenthaltsort angebracht, zumal Dora ihn möglicherweise hier suchen würde. Aber das ließ sich ja eventuell noch machen – mal sehen.

      Nach der Rückkehr zum Campingplatz legte er den Schließfachschlüssel in den Kofferraum seines Wagens, unter die Reserveradabdeckung, ein sicheres Versteck, wie ihm schien. Anschließend kaufte er in dem kleinen Laden, der zum Campingplatz gehörte, eine Bildzeitung, es gab allerdings nur eine Ausgabe vom Tag vorher, außerdem Pulverkaffee, ein Stück Wurst; Brot war noch genügend vorhanden. Der Regen tropfte in den Becher, als das Kaffeewasser auf dem Spirituskocher vor dem Zelt kochte. Nach dem Frühstück saß Jürgen geduckt auf der Luftmatratze und las die Bildzeitung. Wenn ich das Blättchen aus habe, scheint die Sonne, dachte er, hier regnet es doch niemals mehrere Stunden hintereinander. Aber das Geplätscher ließ nicht nach. Allmählich verging ihm die Laune. Im Zelt war es feucht und kalt, weil, um Licht und Luft hereinzulassen, die Eingangsklappe offen stand.

      Nach einer Weile lief er, die Zeitung schützend über seinen Kopf haltend, geduckt zum Auto, schob den Sitz in die Liegeposition, machte es sich bequem, drehte den Schlüssel bis zum Kontakt, hörte Radio. Eros Ramazotti, Dora schwärmte für ihn. Nicht sein Geschmack, aber besser als Opernmusik. Die Zeitung wurde noch einmal von hinten nach vorne durchgeblättert, in der Hoffnung, einen beim ersten Mal übersehenen interessanten Artikel zu finden. Sogar die Anzeigen für Kopfschmerztabletten und Sonnenöl las er, legte dann gelangweilt die Lektüre beiseite, starrte hinaus auf den nassen Campingplatz. Keine Menschenseele ließ sich sehen, nur geschlossene Wohnwagen und Zelte. Gegen Mittag wagte er sich nochmals hinaus in den Regen, lief zum nebenan liegenden Restaurant und bestellte ein Steak, schön blutig, ganz nach seinem Geschmack. Der Gedanke an Dora, die, könnte sie ihn sehen, sicher wieder ihre missbilligende Miene aufsetzen würde, ließ ihm sein Leibgericht noch köstlicher munden. Das tat gut, nach all dem Grünzeug, welches sie ihm in letzter Zeit vorgesetzt hatte – von wegen abends Steaks braten –. Seine Mutter war, im Gegensatz zu ihm, gerne zu vegetarischer Kost übergegangen, „...weil diese Ernährung so gesund ist“. Will sie etwa hundert Jahre alt werden? Na wenn schon, jetzt, weit weg von zu Hause, konnte ihm das gleichgültig sein.

      Nach dem Essen ging er zurück zum Auto. Das stetige Trommeln der Regentropfen auf das Wagendach machte ihn müde. Nur nicht einpennen, sagte er sich, sonst liege ich in der kommenden Nacht wieder stundenlang wach. Satt und zufrieden überfiel ihn trotzdem der Schlaf; bei seinem Munterwerden war mehr als eine Stunde vergangen. Es goss noch immer wie aus Kübeln. Ob der Klimawandel daran die Schuld trugen? Dora jedenfalls behauptete so etwas. Vielleicht stimmte es sogar? Früher hatte es im Süden doch nur äußerst selten geregnet. Nein, so habe ich mir meinen Urlaub auf immer nicht vorgestellt, dachte er verdrießlich. Soll ich zur Adriatischen Küste und an dieser entlang weiter nach Süden fahren? Aber dort herrschte, nach den Fernsehnachrichten im Restaurant, ebenfalls nasskaltes Wetter. Vielleicht überlege ich es mir noch einmal und rufe vorsichtshalber zu Hause an, um die Stimmung bei meinen Frauen zu testen.

      Im Spätnachmittag machte er sich auf den Weg zu einer Telefonzelle. Was soll ich Dora erzählen, wie mein Untertauchen erklären? Darüber brauche ich mir nicht den Kopf zu zerbrechen, beschloss er. Sie wird froh sein, meine Stimme zu hören, sich jede Frage verkneifen, nur auf eine schnelle Rückkehr drängen. Eine Weile wird sie zappeln müssen, dann lasse ich mich von ihr überreden.

      Vor der Fernsprechzelle schüttelte Jürgen seine nassen Haare und stellte erfreut fest, es hatte aufgehört zu regnen. Vom letzten Urlaub besaß er noch eine Telefonkarte, hoffentlich reichte das Guthaben für den Anruf zu Hause. Ein Schild an der Glaswand der Kabine zeigte die Vorwahlnummern aller europäischen Länder an. Er suchte die für Deutschland heraus, drückte die entsprechenden Tasten, dann die für seinen Heimatort, anschließend eine Sechs, die Fünf. Folgte jetzt eine Drei oder eine Neun? Er entschloss sich für die Neun, geriet wieder ins Stocken und hängte den Hörer ein. In seinem Notizbuch stand nur die alte Nummer aus der Zeit mit Elisa. Während der Scheidung hatte er öfters mit ihr Rücksprache nehmen müssen. Die Arbeitgeberfirma und sein früherer dienstlicher Einsatzort, ein Kloster, waren ebenfalls vermerkt. Ein neuerer Eintrag, dabei handelte es sich um den Internisten, der ihn vor einem Jahr wegen seiner Magenprobleme behandelt hatte, weitere Zahlen ohne Namen und Adressen, ihm unbekannt, zu wem sie gehörten. Nein, seine eigene Telefonnummer stand nirgendwo notiert. Er steckte das Notizbuch fort, versuchte es noch einmal mit dem Wählen, sechs, fünf, stockte jedoch erneut bei der Neun.

      Sein Blick fiel zufällig in die Nachbarkabine. Oh Gott, Frau Blaufußnagel! Ihr Gesicht hatte er in dem Rastplatzshop nicht gesehen. Aber Figur und Haarfarbe stimmten. Solche Zufälle sind unwahrscheinlich, sagte er sich, sie kann es nicht sein. Vielleicht ist es diesen Sommer modern, die Zehennägel blau zu lackieren. Die Frau sprach und gestikulierte wild dazu mit ihrer freien Hand. Ob sie den Angehörigen daheim vom Verlust des Portemonnaies erzählte? Jürgen wandte ihr den Rücken zu, fing noch einmal an zu wählen ... sechs, fünf, neun, acht, vier, nein, es hatte keinen Zweck. Doch, jetzt klingelte es und gleich darauf meldete sich eine Stimme: Ina, seine Mutter, die hatte ihm gerade noch gefehlt! Er wollte sie weder wiedersehen noch jemals mehr etwas von ihr hören. „Hallo, wer ist da?“, fragte Ina, als er sich nicht meldete und dann zu der Kinderstimme im Hintergrund: „Julia, sei mal still. Ich verstehe kein Wort.“ Jetzt fiel ein Strahl der untergehenden Sonne, die sich durch die Wolken gekämpft hatte, in die Kabine. Jürgen hängte den Hörer ein. Wozu sollte er nach Hause fahren? Ab morgen würde es herrliches Wetter geben.

      Die Nachbarzelle war inzwischen leer. „Julia, sei mal still“, hörte er im Geiste noch immer die Stimme seiner Mutter auf dem Rückweg zum Campingplatz. Warum musste Dora die Kleine ausgerechnet Julia nennen, wie seine jüngste Schwester, und nicht Claudia, wie die Ältere? Dora hatte darauf bestanden, weil das auch der Name ihrer Großmutter gewesen war und Jürgen, der gern jeder Diskussion aus dem Weg ging, ließ sie, obwohl verärgert, gewähren.

      Während ihrer ersten Lebensmonate hatte er seine kleine Schwester Julia heiß und innig geliebt. Erst als sie ein Jahr alt wurde, fingen für ihn die Probleme an. Er wollte nicht zurückdenken. Doch gegen seinen Willen tauchten die Erinnerungen an die gemeinsame Kinderzeit wieder auf.

      Kapitel 2

      Oma kam zu Julias Einjahr-Geburtstags-Feier, wie üblich zu Fuß, obwohl sie dreieinhalb Kilometer entfernt wohnte. Aber das Gehen zählte zu ihren Steckenpferden, wie sie gerne versicherte. Mama allerdings meinte, Oma sei zu geizig, Geld für die Busfahrt auszugeben. Seit fünf Wochen wohnten Jürgen, seine Eltern und das Baby am Stadtrand. Die alte Wohnung war zu klein für vier Personen. Julias Wiege hatte fast zwölf Monate lang im Elternschlafzimmer gestanden; auf die Dauer konnte das nicht so bleiben. In Jürgens winziger Kammer fand sich beim besten Willen kein Platz für ein weiteres Bett, meinten seine Eltern, obwohl er diese bis vor wenigen Jahren mit seiner älteren Schwester geteilt hatte. Sie mieteten ein Siedlungshaus im Grünen. „Mit Zentralheizung, Garten und Garage“, erzählte Papa jedem stolz, wenn er auch gar keinen Wagen besaß – niemand aus ihrer Familie oder ihrem Bekanntenkreis verfügte damals über ein eigenes Auto –, selbst eine Zentralheizung hielt man noch nicht für selbstverständlich. Sie nannten außerdem als erste in der Verwandtschaft ein Fernsehgerät ihr eigen.

      Aus welchem Grund war sein Papa brummig und noch schweigsamer als üblich? Hatten die Eltern Streit? Gefiel ihnen die neue Wohnung nicht? Warum nur lief seine Mama immer mit verweinten Augen herum? Jürgen fühlte sich todunglücklich. Niemand sagte ihm, was los war. „Das haben manche Frauen nach der Geburt eines Kindes“, tröstete Papa ihn vage in einem seiner wenigen mitteilsamen Augenblicke. Dann vertiefte er sich wieder in seine Zeitung. Die Geburt lag bereits ein Jahr zurück, dennoch gab Jürgen sich mit der Antwort zufrieden. Anscheinend gab es keinen Anlass zur Sorge, alles verlief normal.

      Mama, Oma Berta, Julia und Jürgen waren allein bei der Einjahr-Geburtstags-Feier. Seine Mutter hatte ihm vorgeschlagen, einige Freunde zu Kakao und Kuchen einzuladen. Aber wen sollte er einladen? Hier gab es neben sechs Baustellen erst fünf