Edda Blesgen

Träume, die im Meer versinken


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Hinten raus Gartenanlage, Sonnenterrasse, Liegewiese, Swimmingpool. Komfortable Zimmer mit Klimaanlage, Minibar, Telefon und Fernsehgerät.

      Die Urlauberin kam nicht wieder zum Vorschein, obwohl er zwei Stunden auf einer Bank wartete. Das Abendessen musste doch längst vorbei sein. Wahrscheinlich saß sie mit einem Buch in ihrem Zimmer oder auf einem dieser Balkone, die, durch Markisen hinter den schmiedeeisernen Geländern geschützt, keinen Einblick zuließen. Jürgen ging zum Campingplatz, kroch als es dunkel wurde in sein Zelt, legte sich auf die Luftmatratze. Hier in Italien ging es besser mit dem Schlafen, jedenfalls viel besser als zu Hause; das Schwimmen, Bootfahren, den ganzen Tag Aufenthalt an der frischen Luft, machten ihn üblicher Weise müde. Heute jedoch konnte er nicht schlafen, wegen der Hitze, der stickigen Luft. Zudem störten die beiden Mädchen im Zelt nebenan, die sich viel zu laut unterhielten und viel zu ausdauernd kicherten. Der Aufkleber Atomkraft, nein danke auf ihrer alten Schrottkiste mit deutschem Kennzeichen erinnerte ihn an Dora; nach seiner Schätzung waren sie auch etwa gleichaltrig. Mit ihnen anzubändeln kam nicht in Frage; er bevorzugte Frauen, die nach Geld aussahen. Das Lachen und Reden der Atomkraftgegnerinnen ging ihm auf die Nerven. Er steckte die Stöpsel seines Walkmans in die Ohren und hörte Schlagermusik. Zwölf Kassetten mit alten deutschen Hits, nach Jahrgängen geordnet, waren in seinem Gepäck. Vor dem Einschlafen spielte er jeweils eine, manchmal zwei, bis ihn der Schlaf überkam. Ab und zu bis Mitternacht wach zu liegen machte ihm allerdings auch nichts aus. Er stand zwar früh auf, spätestens um acht, trank eine Tasse Pulverkaffee, hatte keine Ruhe mehr, wollte hinunter zum Strand, zum Wasser, in der Sonne, bevor jemand seinen Platz belegte. Aber dort konnte er, war das mitgenommene Frühstück, bestehend aus Brot und Käse, verspeist, weiter schlafen.

      Am nächsten Morgen, nach dem Markieren seines Stammplatzes mit einem Handtuch, saß Jürgen gegen neun Uhr auf einer Bank der Uferpromenade und beobachtete den Eingang des Miramare durch die Oleanderbüsche. Ein Urlauber, den dicken Bauch in Shorts gequetscht, T-Shirt, Sandalen an den Füßen, weiße Socken, Schirmmütze, mit Frau, deren gewaltiger Po ebenfalls in Shorts steckte, dem gleichen T-Shirt im Partnerlook, kam heraus. Er ist wahrscheinlich in meinem Alter, sieht aber zehn Jahre älter aus; das kommt davon, wenn man keinen Sport treibt, den ganzen Tag im Büro und abends vor dem Fernseher sitzt, dachte Jürgen verächtlich. Die Pärchen, die danach das Hotel verließen, ähnelten ihnen. In Freizeitkleidung, mit umgehängtem Fotoapparat, Badetasche in der Hand, strebten sie zum Strand, alles ältere Semester, die Jüngeren, Hübschen, Schlanken konnten sich diesen Luxusschuppen wahrscheinlich nicht leisten. Doch, eine langhaarige Blondine, ihren beleibten grauhaarigen Begleiter kokett anlächelnd, kam heraus. Den hat sie sich wahrscheinlich nur seines Geldbeutels wegen geködert, vermutete Jürgen. Damals, beim Kennenlernen, zählte Dora mit ihren achtundzwanzig zwar gerade mal halb so viele Lebensjahre wie er, aber das war natürlich etwas ganz anderes, dabei handelte es sich um Liebe. Am Geld konnte es ihrerseits kaum gelegen haben, denn er besaß nicht viel. Sie hingegen nannte ein Haus ihr eigen und verfügte seiner Meinung nach über ein dickes Bankkonto, was bei ihm eine große Rolle gespielt hatte.

      Endlich kam die Erwartete. Noch ohne Badetasche strebte sie dem nächsten Briefkasten zu und warf etwas ein. Aha, die drei gestern gekauften Ansichtskarten. Eine für die Kollegen und Kolleginnen im Büro, eine für ihre Eltern und die dritte für die Nachbarin, welche zu Hause ihre Blumen begoss, den Briefkasten leerte und den Kanarienvogel, die Katze oder den Goldfisch versorgte.

      Nun schlenderte die Urlauberin weiter, blieb an einem Obst- und Gemüseladen stehen, nahm eine Melone in die Hand, klopfte darauf, legte die Frucht wieder zurück. Sie hat gar nicht vor einzukaufen, will wieder nur die Zeit totschlagen, dachte Jürgen, der ihr folgte. Allmählich muss ich mir einen Namen ausdenken. Bella, die Schöne, das würde gut ankommen. Es war zwar etwas übertrieben, aber für ihr Alter, er schätzte sie auf Mitte vierzig, sah sie noch recht gut aus. „Bella“, sagte er probehalber schon einmal halblaut vor sich hin.

      Da saß diese unsympathische Bettlerin mit ihrem Hund schon wieder, die abends auf dem Weg in ihre Stammkneipe beschwingt durch die engen Gassen eilte. Almosen heischend auf dem Bürgersteig hockend, zusammengekrümmt, unterwürfig, wirkte die Frau alt und gebrechlich. „Haben Sie vielleicht etwas Kleingeld für mich? Ich bin gescheitert“, sprach sie die deutschen Touristen in ihrer Muttersprache an. Jürgens Antipathie wurde von ihr erwidert: Die Bettlerin warf ihm jedes Mal giftige Blicke zu und selbst der Hund knurrte, wenn er vorbeiging. Manchmal holte die Frau eine Mundharmonika aus der Tasche ihrer unglaublich schmutzigen Strickweste und spielte darauf immer wieder die gleiche Melodie: „Das machen nur die Beine von Dolores.“ Jürgen verachtete sie und ihresgleichen. Bella hingegen fiel auf die Mitleid heischende Gestalt herein und warf ein paar Geldstücke in das dafür bereitstehende Tamburin. Dann machte sie kehrt. Jürgen lehnte sich an eine Palme. Bella ging vorbei, kaufte am Kiosk eine Zeitung, setzte sich auf eine Bank, faltete die Blätter auseinander und fing an zu lesen. Sollte er sich neben sie setzen, mit ihr reden? Nein, noch war es zu früh. Erst musste die Urlauberin sich so richtig langweilen und einsam fühlen, dann war sie die richtige Beute für ihn. Wenn ihm nur keiner zuvorkam! Aber das Risiko musste er eingehen. Außerdem, selbst wenn sich einer an sie heranmachte, sobald er Interesse zeigte, würde jeder andere den Laufpass erhalten, das war doch klar. Den Nachmittag verbrachte Jürgen mit Schwimmen, Sonnenbaden.

      Am folgenden Tag schlenderte er am Strand immer wieder an ihr vorbei, dabei absichtlich in eine andere Richtung schauend. Inzwischen würde ihr das Alleinsein auf die Nerven gehen, bald konnte ein Annährungsversuch gewagt werden. Zwei Stunden rührte Bella sich nicht vom Fleck, lag im Liegestuhl, dann bäuchlings auf einem Badetuch im Sand, sonnte sich und las dabei ein Taschenbuch. Endlich stand sie auf, sagte etwas zu ihrer Strandnachbarin – wahrscheinlich bat sie diese, auf ihre Sachen Acht zu geben – lief ins Meer, bis die Wellen ihre Oberschenkel umspülten. Bella ging in die Knie, schnappte hörbar nach Luft, als das Wasser ihr bis zum Kinn reichte und schwamm hinaus, den Kopf sorgsam hochhaltend, wahrscheinlich damit die Haare nicht nass wurden. Jürgen ließ ihr einen Vorsprung, dann kraulte er hinterher, holte sie – für ihn keine Kunst – schnell ein.

      „Ihnen beim Schwimmen zuzuschauen ist eine wahre Augenweide“, versuchte er ins Gespräch zu kommen. Bella erwiderte nichts, legte sich auf den Rücken, paddelte auf den Wellen treibend nur noch leicht mit den Händen und blinzelte zum strahlendblauen Himmel hinauf. Jetzt war es ihr anscheinend gleichgültig, wenn die Frisur ruiniert wurde.

      Na, dann eben nicht, dachte Jürgen, wandte sich ab und kraulte hinaus, weit hinaus, mit langen, gleichmäßigen Zügen. Sie schaute ihm hinterdrein, davon war er überzeugt, und bewunderte seinen eleganten Schwimmstil. Als er aus dem Wasser kam, hatte sie ihren roten gegen einen schwarzen Bikini vertauscht. Über dem Höschenbund wölbte sich ein Speckröllchen. Du bist zu mollig; ein einteiliger Schwimmanzug wäre vorteilhafter, dachte Jürgen. Bikinis stehen nur jungen Mädchen gut – noch besser gefielen sie ihm oben ohne, nur mit einem spärlichen Tanga bekleidet. Auf dem Bauch im Sand liegend, um sich von der Sonne trocknen zu lassen, beobachtete er Bella, die nach einer Weile mit ihrer Tasche zur Strandbar hinüber schlenderte und auf einem der Hocker Platz nahm. Jürgen stand auf, ging zwischen den Umkleidekabinen hindurch zu der kleinen Feriensiedlung, deren Häuschen hufeisenförmig am Strand angeordnet lagen. Carlo, ein Angestellter der Vermietungsgesellschaft, bewässerte mit dem Gartenschlauch die Blumenbeete. Jürgen klopfte ihm auf die Schulter. Carlo erschrak, weil er ihn wegen des Plätscherns nicht hatte näher kommen hören.

      „Darf ich?“, fragte Jürgen und bückte sich, um eine Rose zu pflücken. Der junge Italiener grinste. „Amore?“

      Bella hockte noch immer vor der Strandbar und unterhielt sich angeregt, dabei heftig gestikulierend, mit einem Mann, dem Aussehen nach ein Einheimischer, braungebrannt, schwarzgelockt, mit Goldkette und Ohrring. Zwischendurch löffelte sie einen Eisbecher. Das würdest du besser bleiben lassen, dachte Jürgen, deine Hüften sind ganz schön füllig. Er legte die Rose auf ihren Liegestuhl und nahm etwa einen Meter davor im Sand Platz. Aus den Augenwinkeln beobachtete er, wie Bella aufstand, sich lachend verabschiedete. Doch anstatt zurückzukommen, ging sie zur Uferpromenade. War es schon Zeit zum Mittagessen? Jetzt gleich auf den Eisbecher ein üppiges Mahl mit mehreren Gängen? Weiter so, in zehn Jahren wirst du richtig fett und kurzatmig sein! Die Uhr über der Bademeisterkabine zeigte halb eins. Jürgen blieb