Edda Blesgen

Träume, die im Meer versinken


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saß, wie erwartet, mit der Rose in der Hand da und schaute aufs Meer. Ihre morgens sorgfältig frisierten Haare ringelten sich nach dem Schwimmen zu einer starken Krause, die ihr gar nicht gut stand.

      „Du bist wunderbar“, sang Jürgen nun leise vor sich hin, „schon vor einem Jahr, ja da war mir klar, du bist wunderbar.“ Er rückte näher. „Sie sind mir bereits im vergangenen Sommer aufgefallen.“

      Bella nickte überrascht: „Ja, ich war schon einmal hier. Im letzten Juli.“

      Volltreffer! Die meister Urlauber kamen nicht zum ersten Mal. Doch schon ignorierte sie ihn wieder, legte die Rose neben den Liegestuhl, angelte in ihrer Tasche herum und holte eine Flasche Sonnenöl hervor. Kokosnussduft wehte zu ihm herüber. Arme, Dekolleté, Bauch wurden sorgfältig eingekremt. Jetzt verrenkte sie sich, um so weit wie möglich den Rücken zu erreichen.

      „Lassen Sie mich das machen.“ Jürgen griff nach der Flasche. Schutzfaktor sechs, ging es ihm durch den Kopf; hättest du mit deiner blassen Haut gleich zwanzig genommen, wärst du jetzt nicht so verbrannt. Langsam, zärtlich streichelnd, rieb er das Sonnenöl ein. Beim rechten Bein beginnend, fuhr er sanft über den Oberschenkel, widmete sich dann ihrer Wade, glitt hinunter zu den Zehen, kremte jeden einzelnen mit Hingabe ein. Bella kicherte; sie war kitzelig.

      „Sie haben wunderschöne Zehen“, sagte er. Seit Frau Blaufußnagel schaute er tatsächlich häufiger auf die Zehen einer Frau. Ihre sahen wirklich nicht übel aus; keine Hühneraugen, keine Hornhaut, wahrscheinlich ging sie regelmäßig zur Fußpflege, wie seine Mutter, die sich nach ihrer Rückenoperation nicht mehr gut bücken konnte.

      Bella lachte. „Das hat mir noch niemand gesagt.“

      Aha, dieser Spruch kam gut an; dann nur weiter so. „Kann ich mir vorstellen. Jeder bewundert ihre leuchtenden Augen, den schöngeschwungenen Mund, das süße Kinn. Wahrscheinlich können sie diese Komplimente schon nicht mehr hören. Wenn man genau hinsieht, entdeckt man noch unendlich viele liebenswürdige Stellen, wie zum Beispiel ihre Zehen, von denen ich am liebsten jeden einzelnen küssen möchte. Alle Ihre Vorzüge zusammen ergeben ein harmonisches, perfektes Ganzes.“

      Bella antworte nicht, hielt ihre Augen geschlossen. Hatte er mit diesem Wortschatz aus Fernseh-Seifenopern zu dick aufgetragen, zu viel Süßholz geraspelt? Aber sie genoss sichtlich das sanfte Streicheln, als er sich nach dem linken Bein und Fuß ihren Armen widmete. Bella zuckte zusammen, als er die arg verbrannten Stellen an ihren Schultern berührte. Die zahlreichen Muttermale auf ihrer Haut – Altersflecken oder Sonnenschäden? – fand er nicht gerade appetitlich. Aber es gefiel ihm, Eindruck zu machen. Seine Hand glitt langsam tiefer, die Wirbelsäule entlang, streichelte ihre Taille – oder die Stelle, wo anstatt der Fettpölsterchen eigentlich eine Taille hingehörte. Er schob seine Finger vorsichtig weiter abwärts, unter den Rand ihres Bikinihöschens, aber nur bis dort, wo der Spalt der Pobacken begann. Ein Schauder lief über ihren Rücken. Jürgen zog seine Hand zurück. „Fertig“, sagte er und verschloss die Flasche. Bella setzte sich auf; man sah ihr deutlich den Wunsch nach weiteren Streicheleinheiten an. Eine Weile schwieg sie verwirrt und verlegen.

      „Letztes Jahr war ich mit meinem Mann hier“, begann sie zu erzählen.

      „Ich weiß“, entgegnete er. „Wie gesagt, Sie sind mir damals bereits aufgefallen. Ich hätte Sie gerne angesprochen – das ging natürlich nicht. Ich habe den Mann an Ihrer Seite gehasst und beneidet. Wo befindet er sich jetzt?“

      „Er ist tot.“

      „Oh, das tut mir leid für Sie. So ein Verlust! Fällt Ihnen das Alleinsein sehr schwer?“

      „Es war wahrscheinlich keine gute Idee, an den Ort zurückzukommen, wo mich alles an unsere letzten gemeinsam verbrachten Ferien erinnert.“

      „Das Schicksal hat Sie hierher geführt. Zu mir!“ Er versuchte einen bedeutungsvollen Blick aufzusetzen. „Vielleicht bin ich dazu bestimmt, Ihnen beim Überwinden Ihres Kummers zu helfen. Jedenfalls bewundere ich Ihren Mut, ohne Begleitung zu verreisen.“

      „Die ersten Tage waren schlimm. Ich schien das einzige alleinstehende Wesen zu sein. Alle anderen traten, wie an Deck der Arche Noah, nur paarweise auf.“

      „Das kann sich ab sofort ändern – wenn Sie nur wollen. Ich heiße übrigens Jürgen.“

      „Mein Name ist …“

      „Halt, nein, ich will es nicht wissen. Sie müssten nach einer Göttin benannt sein, Aphrodite zum Beispiel.“ Er hörte im Geiste seine Mutter, eine begeisterte Kreuzworträtsellöserin, sagen: Griechische Göttin mit neun Buchstaben … „So heißt allerdings heute niemand mehr, zumindest nicht bei uns. Vielleicht Helena, wie die schöne Helena aus den griechischen Sagen? Nein, das passt nicht in dieses Land. Hier in Italien werde ich Sie Bella nennen.“ Insgeheim amüsierte er sich. Bella, so hatte die von ihm gehasste Hundedame seiner Mutter geheißen, die den Einzug in seine Wohnung nur wenige Monate überlebt hatte.

      Kapitel 4

      Seine Mutter stand eines Tages – mit Hund – vor der Tür, zunächst nur zu einem Besuch, von dem Elisa, bei der sie, obwohl ihr Sohn und ihre Schwiegertochter sich getrennt hatten, immer noch wohnte, angeblich nichts wusste. Bei ihrem nächsten Auftauchen brachte sie in einer Reisetasche Waschzeug, Nachthemd und Kosmetikartikel mit und blieb übers Wochenende. Sie beklagte sich. „Ich bin stets alleine und fühle mich so einsam. Tagsüber arbeitet Elisa. An den Wochenenden und im Urlaub sind sie und ihr neuer Freund unterwegs und keiner von beiden kommt auf die Idee, mich mitzunehmen. Langsam beschleicht mich das Gefühl, ich sei unerwünscht. Die einzigen Lichtblicke sind die Besuche von Susanne, die allerdings nur noch selten vorbeikommt. Anscheinend gefällt ihr der Freund ihrer Mutter auch nicht, der jetzt bei Elisa einziehen will. Dann ist da kein Platz mehr für mich.“

      Hat die fromme Elisa, die vor der Ehe keinen Sex duldete, etwa ein Verhältnis? Jürgen war wütend auf seine Ex, die, anstatt ihm nachzutrauern, Trost bei einem anderen Mann suchte, wie er auf diese Weise erfuhr. Aber noch mehr ergrimmte ihn Dora, die sich allmählich für den Vorschlag, einen gemeinsamen Haushalt zu führen, begeisterte. „Selbstverständlich müssen wir uns eine größere Wohnung suchen“, sagte seine Mutter. „Ich brauche ein eigenes Zimmer, damit ich euch nicht störe und bin dafür gerne bereit, die Hälfte der Miete und monatlich einen Teil der Haushaltskosten zu übernehmen. Abends setze ich mich hin und wieder zu euch ins Wohnzimmer, ganz still in eine Ecke. Ich werde euch niemals zur Last fallen.“

      Damals, als er Elisa verließ, hatte Jürgen gedacht, er sei nun auch seine Mutter, die bei ihnen wohnte, endgültig los. Aber die angekündigte finanzielle Hilfe überzeugte ihn, er gab dem Drängen der beiden Frauen nach. In dem kleinen Haus außerhalb der Stadt beanspruchte Ina, wie sie jetzt genannt werden wollte, für sich den größten Raum und bezahlte die Hälfte der Miete, aber ihr Beitrag zum gemeinsamen Haushalt fiel, zumindest nach Jürgens Ansicht, recht knauserig aus. Seine Hoffnung, Dora würde endlich wieder arbeiten, blieb unerfüllt. „Morgens eine Stunde Fahrt hin, nachmittags im Berufsverkehr eine Stunde zurück – vielleicht auch länger – der Zeitaufwand ist zu groß. Bei einer Halbtagsstelle mit vier Stunden täglich wäre ich sechs Stunden von zu Hause fort. Das lohnt sich kaum. Außerdem erscheint es mir unsozial, anderen Frauen, die das Geld dringender benötigen als ich, die Stelle wegzunehmen.“ Jürgen ärgerte sich im Stillen schwarz. Fand sie es etwa gerecht, ihn alleine für den Unterhalt der Familien aufkommen zu lassen? Vielleicht wäre ein zusätzliches Einkommen nicht unbedingt erforderlich, aber sie könnten es gut brauchen. Zudem steckte er jetzt täglich auf dem Weg in die Stadt zur Arbeit im Stau, wenn auch keine Stunde, wie Dora übertrieben hatte.

      Aber hier schlief er wenigstens besser, zumindest in der ersten Zeit, da es kaum Straßenlärm gab; die Fenster konnten offen bleiben. Weil die nächste Laterne weit entfernt war, wollte Dora nachts ein Licht brennen lassen, wodurch Nachtfalter angelockt wurden, die durch das Schlafzimmer taumelten. Er musste sich als Kammerjäger betätigen, durfte sie jedoch nicht töten, sondern nur hinausscheuchen, obwohl die staubigen Flügel der Flatterinsekten ihm schon beim Hinsehen Brechreiz verursachten. Ungestörter Nachtruhe konnte er sich mithin nicht