Markus Vieten

Freeland


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aus dem Bett und schaute mit klopfendem Herzen herunter auf den Hof. Alles war in Aufruhr. Der Vater lief hin und her, die Mutter hielt sich den Kopf, als drohe er auseinanderzufallen. Dann sprach ihr Vater mit jemandem, wahrscheinlich am Telefon. Sie hörte die Worte Notarzt und Polizei. Langsam öffnete sie die Zimmertüre. Ihr Vater klang verzweifelt. Els Name fiel.

      Als sie zögerlich ein paar Stufen die Treppe heruntergegangen war, erblickte ihr Vater sie und kam ihr entgegen. Er hob sie auf seine starken Arme.

      „Es ist etwas Schreckliches passiert, mein Schatz. Die Els…“, doch weiter kam er nicht. Er schluchzte, vergrub sein großes, kratziges Gesicht an ihrem Bauch. Ihr Vater weinte. Er drückte sie so fest, dass sie einen Moment befürchtete, keine Luft mehr zu bekommen. Dann setzte er sie vorsichtig wieder auf den Fußboden. Sein Gesicht war nass von Tränen.

      „Ich muss mich jetzt um einiges kümmern, auch um Mama, Schatz, sei so gut, nimm Dir selbst etwas zum Frühstück." Er hatte sich zu ihr heruntergebeugt, strich ihr sanft über das blonde Haar. Liebevoll lächelte er sie durch sein tränennasses Gesicht an.

      „Papa!“

      So hatte sie ihren Vater noch nie erlebt, so stark, so schwach, so traurig. Etwas Schlimmes war passiert, mit Els. War sie wirklich tot?

      Er kehrte ihr den Rücken zu und verließ das Haus, ohne sich noch einmal umzusehen.

      1

      Sein Herzschlag langweilte ihn. Er klopfte ewig gleich in seiner Brust, mal im Hals oder in den Ohren. Frau Seipold saß ihm gegenüber, redete und redete, aber er hörte sie nicht. Er setzte einen mitfühlenden Blick auf und versuchte, im richtigen Moment zu nicken und gelegentlich den Kopf zu schütteln. Meistens passte beides, irgendwie. Besonders bei jemandem wie Frau Seipold. Sie wirkte mit ihrer Handtasche, dem grauen Rock und der Einkaufstasche neben sich so alt. Ihr Geburtsdatum auf der Karteikarte verriet jedoch, dass sie nur wenige Lenze mehr auf ihrem beginnenden Buckel hatte, als er selbst, wofür er sie am meisten verachtete. Sie schüttete ihm ihr Herz darüber aus, dass sie den Kontakt zu ihrer Tochter und dem Enkelkind verlor. Diese Frau mit ihrer Osteoporose und ihrer Verstopfung stand für Alter, Leid und Klagen. Damit hatte Fred nichts zu tun, das war ein anderes Leben. Seines hatte doch gerade erst angefangen, dachte er, bis er am nächsten Spiegel vorbeikam.

      „Wenn ich mit ihr telefoniere, ist es, als redete ich mit einer Wand.“ Sie schaute auf ihre Hände, die ein unruhiges Eigenleben am Saum ihrer Strickjacke führten.

      Fred nickte ernst. In Gedanken war er beim Abendessen. Früher hatte er gerne gekocht, mit Caro in der ersten Zeit auch gerne zusammen, abends, wenn die Kleine im Bett war. Aber jetzt, wo Danni pubertierte, aß sie einem die Haare vom Kopf – Mädchen hin oder her. Und manchmal war am Abend für ihn nur noch der Rest in den ungespülten Töpfen vom Mittag übrig oder es gab ein Fertiggericht. Fred tat dann so, als reichte es ihm. Einer dieser vielen Kompromisse, die ihm allmählich das Leben vermiesten. Vielleicht würde er sich einen dieser großen italienischen Salate kommen lassen. Es war warm draußen, schon fast ein Sommertag, dann schmeckte das Grünzeug besonders gut. Von diesem Gedanken war es auch nicht mehr weit zu seinem Therapievorschlag – intuitive Medizin.

      „Ich werde Ihnen ein pflanzliches Präparat verschreiben, damit Sie besser einschlafen können. Und – versuchen Sie daran zu arbeiten”, sagte Fred, wobei er Frau Seipel tief in die Augen blickte.

      „Ja, Herr Doktor, vielen Dank. Soll ich dann in zwei Wochen wiederkommen?“

      „Ja, unbedingt! Lassen Sie sich vorne von Evelyn einen Termin geben.“

      „Ist gut, Herr Doktor, und nochmals vielen Dank.“ Sie ergriff mit beiden Händen seine rechte.

      In diesem Augenblick öffnete die Arzthelferin die Türe.

      „Ich wollte doch heute etwas früher Schluss machen, Chef….“

      „Ja, ja, gehen Sie nur. Ich schließ´ dann alles ab.“

      Evelyn führte die Frau zur Anmeldung.

      Fred tippte noch ein paar Notizen in den Computer. Wenig später hörte er, wie beide die Praxis verließen.

      Dann war es totenstill.

      Wieder ein Tag vorbei.

      Sein Leben hatte erstaunlich an Fahrt gewonnen. Nicht dass er vom Auf und Ab des Schicksals geschüttelt wäre, im Gegenteil: Seine gleichförmigen Tage schossen pfeilschnell durch die Zeit. Es kam ihm manchmal so vor, als bewegte er sich in der Zeit beliebig vor und zurück – Traum aller Science-Fiction-Fans. Denn obwohl seine Helferin gerade erst fort war, hatte er eigentlich schon wieder die Zahnbürste zwischen den Zähnen, die den Tag beendete. Dazwischen würde auch nichts Überraschendes passieren. Es konnte geradeso gut der Tag davor gewesen sein oder der danach. Seine Wochen bestanden eigentlich nur aus zwei Tagen – einem Arbeitstag und einem freien Tag. „Frei“ bedeutet dann Danni zu ihren Volleyballspielen begleiten, zum x-ten Mal im Jahr die Heck schneiden (laut Caro angeblich nur zweimal im Jahr, er hatte das Gefühl, es mindestens einmal im Monat zu tun; auch diese verdammte Zeitbeschleunigung) und auf irgendeiner Praxiseröffnung mit uninteressanten Leute uninteressante Dinge reden, doch fernzubleiben hieß, einen potenziellen neuen Partner auszuschlagen, dem er Patienten überwies, die dann wieder einen neuen Termin bei ihm brauchten, um die Ergebnisse von dort zu besprechen. Geldmacherei, aber es gab auch eine Reihe Verpflichtungen. Zumindest die Praxis war dank der vielen Kranken gesund. Medizin war ein Geschäft, besondere Talente waren nicht nötig. Es gab keine Fragen, für deren Beantwortung man geboren sein musste (Wie erlangt man Erkenntnisse über höherdimensionale Welten, wenn man selbst in einer niederdimensionalen Welt lebt?) und man benötigte auch keinerlei Kreativität, nur Selbstdisziplin und ein gutes Gedächtnis. Gut, früher hatte er mal viel Gefühl für seine Patienten aufgebracht, aber das war lange her. Jetzt spulte er sein Programm ab. Er konnte sich zu Tränen rühren lassen und gleichzeitig darüber nachdenken, dass er sich die Fußnägel schneiden musste.

      Aber es gab noch Hoffnung. Denn er wollte noch mal raus. Nur ein, zwei Wochen, ohne Frauen, ohne Kinder und er hatte eine Idee, seit Wochen schon: Vor 30 Jahren war er mit Sven und Tom losgezogen. Gerade 16, zum ersten Mal allein unterwegs und das Ziel war Vlieland. Das klang damals wie ein verheißener Ort: Sommer, Sonne, Strand, viele Leute aus vielen Ländern, die Musik von holländischen Radiostationen, bei denen die abgefahrenen Platten aus Übersee immer irgendwie zuerst landeten (und dann nicht weitergereicht wurden), entspanntes Grasrauchen und Mädchen, Mädchen, Mädchen. Und weil das alles mehr Freiheit war, als Fred, Tom und Sven kannten, tauften sie die Insel gleich „Freeland“ („Vlieland“ war wahrscheinlich ohnehin einem Aussprachefehler ehemals chinesischer Kolonialherren geschuldet).

      Heute ließ sich das schnell „ausgoogeln“: westfriesische Insel, 1100 Einwohner, 4000 Hektar, keine Autos – bis auf einige von Einheimischen. Klickt man auf „Bilder“, hat man schon beinahe alles gesehen und reist nur noch zur Bestätigung dahin, wenn überhaupt. Ein weiterer Link zeigt die Wettervorhersage, ein Satellitenbild und mit der nächsten Fingerbewegung wird eine Webcam aktiviert, die ohne Unterbrechung den Hafen filmt.

      Fred blendete das alles aus. Er erinnerte sich genau, welche Platten er damals rauf und runter gehört hatte. So nuschelte er irgendetwas zu Caro und verzog sich dann in sein Arbeitszimmer, wo er die Musik auflegte. Er breitete eine Landkarte aus und fuhr mit dem Finger die geplante Route nach, so wie er es damals gemacht hatte, als die Zukunft nur aus saurem Regen und Atomkrieg bestand, aber die Gegenwart der Hammer war.

      2 Vlieland Sommer 1983

      Marijke hatte Angst. Els war tot und sie wusste nicht, was das jetzt bedeutete. Keiner schien für sie da zu sein. Alles drehte sich nur noch um Els, obwohl sie nicht mehr da war und nie wiederkommen würde. Und wer kümmerte sich um sie!? Ihre Eltern waren mit Weinen und Schreien beschäftigt, sprachen ständig mit irgendwelchen Leuten, die kamen und gingen, Fragen stellten, fotografierten. Ab und zu sah mal jemand nach ihr, aber wenn sie hinaus wollte, führte ihr Vater sie sanft aber bestimmt zurück. Also schlich sie