Markus Vieten

Freeland


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die sie kurz zuvor noch von oben aus ihrem Fenster betrachtet hatte. Dann war es nicht mehr weit bis zum Hintereingang der alten Scheune, wo das Schreckliche passiert war.

      Wie ging es wohl ihrer Maus? Wer kümmerte sich um sie? Im Nu war sie am Hintereingang und kroch in die Scheune. Sie hörte die Stimmen durch den alten, vollgestellten Holzverschlag. Sie klangen etwas weiter weg. Das Käsestückchen, das sie ihrer Maus hingelegt hatte, war verschwunden, doch die Maus selbst ließ sich nicht blicken. Bestimmt hatte sie auch Angst bekommen.

      Sie schaute sich um. Alles sah so aus wie zuvor, aber es fühlte sich anders an. Sie riskierte einen Blick, sah das Eingangstor. Niemand da. Sie wagte sich aus ihrem Versteck und ging quer durch die Scheune zu der Stelle, wo ihre Schwester gestorben war. Auf dem mit Spänen und Staub übersäten Holztisch waren mit weißer Kreide die Umrisse ihrer Schwester aufgezeichnet worden. Sie erstarrte. Sie konnte den Blick nicht mehr abwenden. Ihr Kopf war leer gefegt, es gab keine Gedanken. Jetzt war doch eigentlich genug Platz da, um das Geschehene aufzunehmen, aber es war zu groß für ihren kleinen Kopf.

      Ein Schatten erschien in der Tür, der sie wieder in die Welt zurückholte.

      „Was machst Du denn hier?“, sagte die Stimme und der Mann kam auf sie zu, wie ein Schemen im Licht der inzwischen hoch stehenden Sonne. Sie wollte wegrennen, doch ihr Blick fiel auf etwas Buntes am Rand eines Tischbeins im Schmutz zwischen Heuresten, Sägespänen und dem nur nachlässig weggefegten Staub.

      Ohne nachzudenken ergriff sie es und rannte wieder nach hinten, um durch die kleine Tür aus der Scheune zu schlüpfen. Die Stimme rief wieder nach ihr, streng und scharf, doch dann sagte jemand, sie sei die Schwester und würde das alles noch nicht verstehen. Der Mann sah sie und lief auf sie zu. Auch ihr Vater stand dort, im Hintergrund, unbewegt, also rannte sie wieder durch die Küche ins Haus und hoch in ihr Zimmer. Sie setzte sich in ihre Höhle aus ein paar Kissen und einer Decke. Da fühlte sie sich sicher. Niemand konnte sie sehen. Sie zog das bunte Bändchen hervor, das sie gefunden hatte, und untersuchte es eingehend: sechs nebeneinander liegende Reihen kleiner bunter Perlen und an beiden Enden zwei Fäden. Damit konnte man es sich wohl umbinden, und zwar um das Handgelenk.

      Und jetzt wusste sie auch, wo sie so ein Band schon einmal gesehen hatte. Es war am Tag zuvor gewesen, als sie am Eingangstor gespielt hatte. Da kamen die drei Großen auf den Fahrrädern und waren nett zu ihr gewesen. Einer von ihnen hatte auf jeden Fall so ein Band getragen, vielleicht sogar zwei der Jungs.

      Sie mochte nicht mehr an ihre tote Schwester denken. Also rannte sie wieder aus dem Haus, warf noch einen Blick auf ihre weinende Mutter, und dann über den Platz durch das offene Tor, das den Campingplatz von ihrem Privatgrundstück abtrennte. Schon bald gelangte sie zu den ersten Zelten. Ganz nah am Haus campierte fast nie jemand. Die Leute wollten nicht so weit zum Geschäft laufen müssen, das hatte sie schon oft gehört. Aber dann war sie auch schon umgeben von vielen jungen Menschen. Die meisten beachteten sie gar nicht, einige lächelten ihr zu, meistens große Mädchen und manchmal strich auch eine über ihr Haar, fragte nach ihrer Mama oder ihrem Papa. So auch diesmal und Marijke sagte, meine Schwester ist tot. Das Mädchen schaute erschrocken, und sagte dann etwas wie: „Damit macht man aber keine Scherze, hörst du?“ oder so ähnlich, nur um dann gleich wieder zu lächeln. Die drei Jungs sah sie nicht, auch wenn es viele gab, die zuerst so aussahen, aber dann waren sie es doch nicht. Der eine hatte viele dunkle Locken gehabt, das wusste sie noch. Als sie den ganzen Platz überquert hatte, stand sie wieder am Ausgangstor, wo sie die drei getroffen hatte.

      An ihre Schwester dachte sie jetzt nicht mehr, sondern nur daran, was sie mit dem Band machen sollte. Dann fiel ihr wieder ein, was sie beobachtet hatte, den vergrabenen Schatz. Ob sie den Platz wohl wiederfinden konnte?

      Sie verließ den Campingplatz über den asphaltierten Weg und bog dann rechts in den Waldweg ein, auf den auch die drei mit dem Rad gefahren waren, dann weiter zu der Abzweigung über Sand und Nadeln. Manchmal rutschten einige der Nadeln zwischen Fußsohle und Sandalen. Sie hielt das Bändchen fest in der Hand und betrachtete es immer wieder. Sie verbannte jeden Gedanken daran, wo sie es gefunden hatte und warum ebenso aus ihrem Gehirn, wie die Gedanken an ihre Schwester.

      Viel interessanter war jetzt der Schatz. Einen Schatz vergrub man, um etwas sicher zu verstecken und es später einmal wiederzuholen. Also musste sie das Bändchen nur zu dem Schatz legen, und derjenige, der es verloren hatte, würde es dort irgendwann vorfinden. Sie folgte dem Weg, den die drei genommen hatten, und im Gegensatz zu ihnen, musste sie sich nicht die Zahl der Pflöcke rechts und links und der Bäume am Wegesrand merken, um die Stelle zu finden. Jeder Meter war ihr vertraut. Ein heimlicher Blick zwischen den Bäumen hindurch hatte genügt, um sich die Stelle einzuprägen. Eigentlich hatte sie sowieso sofort nachsehen wollen, was sie dort vergraben hatten, aber das durfte sie bestimmt nicht. Wenn sie allerdings etwas dazu legen wollte und zwar mit den allerbesten Absichten, dann wäre es unvermeidlich nachzuschauen, was eigentlich dort versteckt war.

      Als sie an der Stelle angelangt war, schaute sie sich nach etwas zum Graben um und fand einen kleinen Ast, der geeignet schien. Sie wusste nicht genau, welche Stelle die Jungs zwischen den Bäumen gewählt hatte und entschied sich einfach für die Mitte.

      Also fing sie an, mit ihrem Stück Rinde den weichen und sandigen Boden aufzugraben. Schon bald wurde er etwas feuchter und schwerer, gerade so, als buddele man am Strand. Dann stieß sie auf das Päckchen und holte es heraus. Es war in ein Plastiktütchen eingewickelt und darin in silbriges Schokoladenpapier. Sie drückte darauf. Es fühlte sich ein wenig wie Knetgummi an. Vielleicht etwas zu Essen? Oder etwas Giftiges? Warum sollte man hier so etwas vergraben? Aber die Vorstellung nach etwas zu Essen gefiel ihr gar nicht. Sie hatte sowieso genug Ärger zuhause, weil sie nie das mochte, was Mama kochte. Eigentlich mochte sie nur Fritten.

      Sie würde das Band einfach dazulegen und das Ganze wieder zuschütten. Sie konnte das Bändchen auch wie ein zusätzliches Band darum wickeln. Knoten konnte sie schon sehr gut, hatte auch Els immer gesagt. Dann fiel ihr alles wieder ein.

      3 Sommer 1983

      Nur noch wenige Tage bis zur Abfahrt. Fred hockte wieder über der Landkarte gebeugt auf dem Boden. Er, Tom und Sven planten einen gemeinsamen Urlaub: eine Radtour durch Holland, über Amsterdam nach Vlieland. Kein Jugendlager, keine Betreuer, keine Eltern. Nach langen Diskussionen zwischen Bier, Gyros und Billardtisch hatten sie sich dazu entschieden, kein Dope mit über die Grenze zu nehmen. Zu Gefährlich. Die Grenzen waren noch richtige Grenzen, und beim Thema Haschisch verstanden nur die Kiffer Spaß. „Eigenbedarf“ war allenfalls ein Thema beim Mieterschutzbund.

      Aber jetzt war für drei Wochen Schluss mit Grenzen. Schließlich ging es ins Land der unbegrenzten Coffeeshops, wo Tag und Nacht lustige, blondgezopfte Käseverkäuferinnen in Holzschuhen an Grachten saßen und aus kleinen Tonpfeifen Haschisch rauchten.

      Bis es so weit war, mussten aber noch einige Kilometer bis Amsterdam zurückgelegt werden. Und bis dahin ohne Dope? Oder schmuggeln? Die Drei hatten das Thema ausgiebig diskutiert. Im Fahrrad verstecken? Da gab es diese Hunde, die Haschischreste noch an Fingernägeln rochen, die schon zweimal abgeknabbert waren. In kleine Glasröhrchen einschweißen? Könnte funktionieren, die wären wohl geruchsdicht. Nur wusste niemand, wie das gehen sollte. Wurde denn überhaupt bei der Einreise nach Holland aus Deutschland kontrolliert? Eulen nach Athen? Man konnte nie wissen.

      Tom machte einen Vorschlag, der zunächst wie eine Lösung aussah.

      „Wir nehmen ein Stück Seife. Da stecken wir es hinein. Das riechen auch die Hunde nicht!“

      „Geil“, sagte Sven.

      „Geil“, sagte Fred.

      „Aber wie kriegen wir es hinein?“

      „Mit so einem Gerät, mit dem man Äpfel entkernt. Haben wir zu Hause.“

      „Und dann?“

      „Dann holt man einen Seifenstab von etwa sechs oder sieben Zentimetern Länge und einem Zentimeter Durchmesser heraus....“

      „... schneidet ihn ab....“

      „... und füllt