Markus Vieten

Freeland


Скачать книгу

wenn sie sich nur für Dope, Mädchen und Abenteuer interessierten. Sie hatten sich eben gleich auf die Essenz konzentriert ohne den ganzen Chichi, bei dem langhaarige Typen in endlos verschachtelten Sätzen, die ohne Anfang und Ende schienen, das, was ohnehin jedem klar war, erklärten, nämlich dass es besser wäre, wenn die Armen reicher wären und nicht hungern müssten, zur Not eben auch auf Kosten des Reichtums weniger, und dass es wirklich toll wäre, wenn alle gut zueinander wären und man sich nicht mehr streiten müsste. Aber das hatte 2000 Jahre zuvor schon jemand gut gefunden und damit nur mäßigen Erfolg gehabt. Und dass jeder mit jedem Sex haben sollte, war auch nur solange interessant, bis doch einige Mädchen lieber mit jenem Kerl schliefen als mit diesem und einige Kerle lieber mit einem bestimmten Mädchen. Natürlich fand er Strauß gefährlich, mindestens so gefährlich, wie den NATO-Doppelbeschluss, aber Ho-Tschi Minh war ihm egal. Die Reichen sollten mehr abgeben, fertig.

      Freds Idee mit dem Urlaub war super. Er hatte schon seit Tagen Reisefieber. Das Melkweg in Amsterdam war ein einziges Versprechen.

      Als seine Eltern ins Bett gegangen waren – „Aber bleib nicht mehr zu lange auf!“– schaute er noch ein wenig fern, bis er sich sicher war, dass sie schliefen. Dann machte er sich ebenfalls bettfertig. Aus den Tiefen seiner Schublade holte er seine kleine Holzpfeife und brach sich einen reiskorngroßen Krümel Dope ab. Ein Feuerzeug hatte er immer in der Tasche, eigentlich ein sinnloses Risiko, denn offiziell rauchte er ja nicht einmal Zigaretten („Wofür brauchst Du denn das Feuerzeug, Tom?“ – „Um rauchenden Mädels, die mich um Feuer bitten, einen Gefallen tun zu können, Mama.“ – „Aber Junge, da muss es doch andere Wege geben. Vielleicht könntest Du dem Mädchen sagen, dass Rauchen ungesund…“ – „Ja, Mama!“). Dann schloss er sich im Gästeklo ein. Er öffnete das Fenster einen Spalt und erwärmte den winzigen Krümel mit dem Feuerzeug auf der Fensterbank. Jetzt ein Windstoß und er war weg! Er bröselte den winzigen Krümel in mehrere Unterkrümel in die Pfeife. Das ergab drei oder vier kleine Züge, deren Rauch er mehrere Sekunden lang in der Lunge festhielt, bevor er ihn dann äußerst zentriert aus dem Fenste blies. Sehr schnell setzte die Wirkung ein und nachdem er noch einmal die Spülung betätigt hatte – damit es sich echt anhörte –, ging er rasch ins Bett. Der Kopfhörer und der U-Comix lagen schon bereit. Für diesen Zweck kamen nicht alle Platten infrage, am besten war etwas leichtere Reggae-Kost. Er setzte sich den Hörer auf. Die Musik hatte bereits eingesetzt, als er wieder lag. Blöd, dass es keine Fernbedienungen für Plattenspieler gab. Als die Musik in Stereo über beide Ohren den Weg in sein halluzinogen verändertes Bewusstsein fand, öffnete sich eine Welt, in die er völlig versank. Die Figuren in dem Comic schienen sich plötzlich zu bewegen, wurden ganz plastisch. Manche Witze zerrissen ihn fast. Es war wie waches Träumen, aber die Bilder liefen nicht in Sekundenbruchteilen davon, sondern ließen sich anhalten, betrachten und nach Belieben weiter bewegen, und wenn er genau hinsah, bewegten sich sogar die Brüste der Blondine.

      Als die Platte nach weniger als einer halben Stunde zu Ende war, legte er das Heft beiseite und stand noch ein letztes Mal auf, um eine andere aufzulegen. Jetzt sollte es etwas sein , bei dem er von Anna träumen konnte, die er seit zwei Wochen im Kopf hatte, obwohl sie scheinbar hauptsächlich Augen für den dicken Klaus hatte, der als Sitzenbleiber schon etwas älter war und ein Auto fuhr. Er hatten sich ein paar Mal unterhalten, in den Pausen und nach der Schule. Sie hatte große Augen, einen Strubbelkopf und drehte immer eine Haarsträhne um den Finger, und wenn sie lächelte, ging die Sonne auf. Aber so nervös, wie er sich in ihrem Beisein fühlte, so wirkte sie auch, wenn er sie mit Klaus sah. Mit ihm hingegen schien sie völlig entspannt. Tom wertete das als kein gutes Zeichen, wie immer. Viele Mädchen fanden ihn mit seinen schwarzen Locken süß und er war sportlich, aber auch ein wenig klein. Darauf führte er es auch zurück, dass er immer noch Jungfrau war.

      Aber jetzt wollte nicht daran denken, sondern stellte sich Anna vor und mit einigen halbverstandenen Textfetzen träumte er sich eine gemeinsame Liebe herbei und schlief dabei ein. Der Plattenspieler lief irgendwann aus. Meist wurde er dann mitten in der Nacht wach, weil der „superleichte und supergünstige“ Kopfhörer ihm die Ohren ins Hirn gedrückt hatte.

      Eine Woche später stand die Party bei Mike an. Sven und Fred kamen mit und ein großer Teil der Stufe war auch zu erwarten. Ein Wochenabschluss ganz nach Toms Geschmack, der die Zeit bis zur Abreise etwas verkürzte. Zudem waren bei Mike auch immer Leute und vor allem Mädchen aus anderen Dunstkreisen zu erwarten, weil Mike viel Zeit in einem Tennisclub verbrachte, der hauptsächlich Schüler eines anderen Gymnasiums anzog. Also durften sie sich Hoffnung auf ein paar nette Kontakte machen, späteres Knutschen nicht ausgeschlossen. Sven war da etwas zurückhaltender. Er hatte gerade etwas mit Beate laufen, war sich aber nicht sicher, wie lange noch. Hing wohl davon ab, ob und was sich am Abend ergeben würde. Tom war da viel offener. Seinen Fantasien um Anna ging so langsam die Luft aus. Von ihrer Seite kam zu wenig. Das brachte nichts. Seine letzte Knutscherei lag auch schon länger zurück und er wollte endlich eine feste Freundin. Es musste sich dringend was ändern. Man konnte es überall beobachten: Hatte man erst einmal eine Freundin gehabt, auch nur kurz, lief es danach wie von selbst viel besser.

      Er legte sich den ganzen Abend über mächtig ins Zeug, redete, witzelte, tanzte, und nach und nach zeichnete sich ab, dass mit Ina was gehen könnte. Sie war sehr hübsch, trug langes blondes Haar mit Pony und einem hinreißenden Lachen. Er hatte sie bisher nie auf dem Radar gehabt, weil sie eher der Popper-Fraktion angehörte und auf jeden Fall ziemlich langweilige Hitparaden-Musik hörte. Aber jetzt hatten sie zusammen getrunken und viel Spaß dabei. Man berührte sich hier und da, stupste sich an, noch mal tanzen und zusammen eine Rauchen. Sven hatte er inzwischen aus den Augen verloren, vielleicht hatte er sich schon schlafen gelegt. Er machte das manchmal. Legte sich während einer Party für zwei Stunden irgendwo ab und gab danach bis zum Morgengrauen den Partylöwen. Fred diskutierte wieder angeregt in einer Ecke mit einem Mädchen, das ihm unbekannt war. Er war zwar auch wieder solo, hatte aber ein paar Monate mit Petra hinter sich. Wahrscheinlich würde da für ihn heute was gehen.

      Die Party war mit Übernachtung und Ina würde zum Frühstück bleiben, soviel war klar. Doch in der letzten halben Stunde hatte sich Mark aus der B zu ihnen gesellt und bezirzte Ina bildlich und auch ganz wörtlich von der anderen Seite, und plötzlich saßen, tanzten, lachten sie zu Dritt. Das ging so eine ganze Weile, bis Fred allmählich seine Felle davonschwimmen sah. Die ganze Aufmerksamkeit, die Ina ihm hatte zukommen lassen, verteilte sich jetzt auf ihn und Mark. Eine Vorliebe ihrerseits war nicht zu erkennen, und als sie schließlich meinte, jetzt doch ziemlich groggy zu sein und eindeutig Tom und Mark fragte, ob sie sich nicht zusammen einen Schlafplatz suchen wollten, stimmten beide zu und Tom war plötzlich auch sehr, sehr müde. Und so landeten sie mit ihren Schlafsäcken zu Dritt auf dem Boden irgendeines Bürozimmers in der oberen Etage des Hauses, das Mikes Eltern offenbar vollständig freigegeben hatten – oder auch nicht, aber das war nicht sein Problem.

      Man machte es sich nebeneinander bequem, Ina in der Mitte und sehr schnell ging das Geschmuse los und schließlich knutschte sie mit Tom und Mark. Die Hitze stieg, es war beinahe stockfinster, die Schlafsäcke waren längst zu Unterlagen geworden, und Ina genoss spürbar das Stöhnen in Stereo, bis sie plötzlich inne hielt:

      „Moment mal, ihr beiden“, doch es war nicht ganz leicht, so unvermittelt Hände und Münder still zu halten, sodass sie sich im Dunkeln aufsetzen musste. „Ist das hier nur Spaß oder will einer von euch mehr?“

      Eine Fangfrage…! Mark wusste seine Antwort schon schnell und sagte „Nur Spaß!“. Toms Gehirnzellen rauchten. In Windeseile entschied er sich für „Da ist auch ein bisschen mehr.“ und wusste im gleichen Moment, dass es die falsche Antwort war. Dabei stimmte es noch nicht einmal, er wollte nur etwas erleben. Aber traf das tatsächlich auch auf Ina zu!? Anscheinend ja, denn sie küsste Tom noch einmal und fuhr ihm durchs Haar, bevor sie sagte, dass es dann aber mit ihm leider nicht weitergehen könne. Er hätte also zugeben müssen, dass er nur kleine Sexspielchen wollte. Aber hätte sie nicht genau das zum Objekt herabgewürdigt? Es war ganz schön kompliziert, den richtigen Code zu finden. Da hatten es die 68er viel leichter gehabt...

      Noch etwas durcheinander von dem begonnenen Rausch, seinem abruptem Ende und den verschiedenen Alkoholika nahm er seinen Schlafsack und legte sich etwas unschlüssig in eine andere Ecke des Zimmers, um sich noch eine Weile das schreiend stille