Markus Vieten

Freeland


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nicht wegwischen, weil er ja bis in die Tiefe führt.“

      Tom erklärte es so, als wäre Sven nicht dabei gewesen. Er musste zeigen, dass er es genau verstanden hatte.

      „Das hatten wir doch schon tausendmal. Ich seh`s ja ein,“ sagte Sven und nahm sich noch einen Keks, obwohl er eigentlich gar keinen Appetit mehr hatte. Aber wenn Tom und Fred gegen ihn anredeten, musste er sich schon ein wenig zurückziehen, zumal er wusste, dass sie Recht hatten. So waren sie also ohne Dope losgefahren, was aber den Fahrrädern auf dem Weg nach Amsterdam Flügel verleihen sollte.

      Als sie endlich auf ihren Rädern saßen, war es gerade noch eine halbe Stunde bis zur Grenze. Obwohl ihre Taschen völlig sauber waren, machte vor allem Fred sich ein wenig Sorgen darüber, ob an der Grenze auch alles glatt laufen würde. Sie sprachen kein Wort, während die Grenze, schon von Weitem sichtbar, immer näher rückte. In Höhe der Schlagbäume hielten sie an, es wurde ein wenig gemurmelt und jeder kramte in seinem Brustbeutel nach dem Personalausweis. Der Radweg lag in einer irritierend großen Entfernung von dem Grenzhäuschen. Mehrere Fahrbahnspuren führten dazwischen über die Grenze und zunächst war weit und breit kein Zollbeamter zu sehen, ganz zu schweigen von einem Drogenspürhund. Unsicher hielten sie ihre Ausweise in den Händen, während die vollbepackten Fahrräder an einem Laternenmast lehnten.

      „Da hat einer gewunken“, sagte Sven und machte eine Kopfbewegung in Richtung Zollhäuschen.

      „Ich kann nichts sehen…!“

      „Wo denn?“, fragte Fred und schaute in Richtung Zollhaus, wobei er seine Augen mit der Hand vor der Sonne schützte.

      „Jetzt seh´ ich auch was“, sagte Tom und als er endlich das richtige Fenster in dem flachen Backsteinbau im Blick hatte, erkannte er einen wild fuchtelnden Arm, der immer in die gleiche Richtung winkte, nach Holland.

      „Ich glaube, der meint uns“, sagte Fred.

      „Sieht aus, als könnten wir los.“

      „Der fuchtelt immer noch“, sagte Tom, der seinen Blick nicht abwenden konnte.

      „Nun komm“, forderte Sven ihn auf. Fred saß schon wieder auf dem Rad. „Die winken uns durch.“ Das hatte Tom sich irgendwie anders vorgestellt… In Seife verstecken!? In Glas einschweißen!!? Die Satteltaschen könnten randvoll mit dem Zeug sein, es interessierte kein Schwein!

      Die Anspannung ließ schlagartig nach, als sie wieder auf ihren Rädern saßen, und mit einem Mal sprudelte es aus ihnen heraus, gegen den Wind.

      „So ein Quatsch!“, befand Sven.

      „Die Taschen voll! Wir könnten die Taschen voll haben!“

      „Wir Idioten!“

      „Amsterdam, wir kommen!“

      Wer kam schon auf die Idee, Dope nach Holland zu schmuggeln, um dann noch anzunehmen, dass irgendjemand das kontrollieren würde.

      Tom beschlich ein erster Verdacht, dass sie vielleicht zu jung für diese Tour waren. Wie konnte man nur so blöd sein!? Aber die Laune war bestens und alle traten mächtig in die Pedale. Endlich eine Grenzerfahrung – Amsterdam und Freeland boten sicher noch mehr.

      Am späten Nachmittag hatten sie schon ein gutes Stück des Weges geschafft, knapp die Hälfte und entsprechend ausgelaugt, weil wenig trainiert, gelangten sie zu dem Zeltplatz, den sie sich auf der Landkarte ausgesucht hatten. Kleine rote Zelte als Markierungen an irgendeiner Straße waren alles, was sie an Informationen hatten. Entsprechend groß war die Spannung, was sie dort antreffen würden. Ein Bauernhof mit einer Wiese und ein paar Zelten, Waschen an der Tränke und Kühe, die in der Nacht an den Zeltschnüren leckten, ein Campingplatz aus dem Führer, ADAC-getestet mit Zaun um den Wohnwagen und Tonhund neben der Fußmatte oder irgendetwas dazwischen.

      Was sie dann an ihrem ersten Abend vorfanden, machte sie weder besonders glücklich, noch verhieß es Ungemach. Die Wiese war schön, grün und flach, die Straße nah und das Haus und die Rezeption privat bewohnt, so als habe jemand den großen Garten nicht mehr anders nutzen können. Nachdem sie das Zelt aufgebaut hatten, war es eigentlich ganz urig, zumal die Abendsonne den Platz in ein angenehmes, warmes Licht tauchte.

      „Jetzt `ne Tüte“, sagte Tom, nachdem die Taschen in den Zelten verstaut und die Matratzen aufgeblasen waren. Er konnte auch gut ohne, aber es wäre der normale Zeitpunkt gewesen, um den Abend einzuläuten und außerdem wollte er nicht in den Verdacht geraten, nicht so scharf darauf zu sein. Klar, er würde schon mitrauchen, aber später gab es bestimmt irgendwo ein paar Bier, die waren auch nicht zu verachten. Zumal hatten sie viel Flüssigkeit beim Radfahren verloren und sollten lieber trinken als rauchen.

      „Wir werden uns wohl mit legalen Drogen begnügen müssen“, sagte Fred und schwang sich bereits auf sein Fahrrad. „Bevor wir hierhin abgebogen sind, hab ich einen kleinen Laden gesehen. Ich hol uns was zu trinken. Brauchen wir sonst noch was? Vielleicht Käse fürs Frühstück? Ich schlage vor, heute Abend besorgen wir uns erst einmal Fritten und Frikandel spezial.“

      „Gute Idee“, sagte Sven, „mir knurrt auch schon der Magen. Aber Käse fürs Frühstück hab ich eingepackt.“

      „Zum Glück haben die uns an der Grenze nicht gefilzt, sonst hätten die mit ihren Hunden noch festgestellt, dass wir Käse nach Holland schmuggeln“, sagte Tom in einem, wie so oft übertrieben ironischen Ton. Die beiden fanden es trotzdem witzig.

      Freds Onkel Lothar war Teppichhändler – in Amsterdam. Er war der Liebe wegen 1970 nach Amsterdam gegangen. Als die Liebe fort war, gab es die Stadt immer noch. Zunächst schlug er sich irgendwie durch, lebte in WGs, schlief in versifften Betten und oft genug einfach auf dem Boden, wobei er versuchte mit zahlreichen Drogen seiner Verlassenheit einen Sinn zu geben. Das gelang dann auch insofern, als er bemerkte, dass viele Häuser in Amsterdam wegen des allgegenwärtigen Wassers sehr feucht waren und viele Teppiche, auf denen er schlafen musste, schimmelten. Bei der nächsten Gelegenheit hörte er sich ein wenig um und eröffnete dann in einer alten Garage an einer Gracht einen Schimmelbeseitigungsservice für Teppiche. Die Sache lief recht gut an. Bald wurden Teppichhändler auf ihn aufmerksam und baten ihn gelegentlich um Hilfe. Dann war es nicht mehr weit, bis er sich die ersten alten Teppiche aus Haushaltsauflösungen zulegte. Sein inzwischen geschulter Blick für die Qualität eines Teppichs ermöglichte es ihm, das eine oder andere Schnäppchen zu machen und einen erheblichen Verkaufserlös zu erzielen. Die Garage wurde schnell zu klein, er brauchte ein Ladenlokal, er brauchte Öffnungszeiten, einen geregelten Arbeitstag – zumindest so geregelt, dass er zur Ladenöffnung und zum Ladenschluss zugegen war –, während er in der anderen Zeit versuchte, sein Party- und Drogenbedürfnis auf ein Maß zu bringen, das mit irdischen Leben vereinbar war.

      Und er brauchte einen Kredit. Den bekam er leicht, denn sein Geschäftsplan war gut, ebenso wie seine Kontakte, die inzwischen auch in den Nahen Osten und nach Vorderasien reichten, wo es, wie er alsbald feststellte, neben gutem Dope auch noch andere gute Dinge gab, die er kaufen konnte. Nach einem Jahr musste er sich wieder vergrößern und legte sich Privateigentum in Form einer Eigentumswohnung in einer umgebauten, alten Lagerhalle zu, was aufgrund seiner zentralen Lage Aussicht auf eine gute Wertsteigerung hatte. Jetzt wohnte er immer noch dort, ohne Ambitionen, sich weiter zu vergrößern. Stattdessen vergrößerte er den Reichtum innerhalb seiner Wohnung, legte sich selbst ein paar edle Teppiche aus und hing sich kostbare Bilder an die Wände.

      Seine Wohnung war jetzt angefüllt mit den neuesten Hifi- und TV-Anlagen, einer gigantischen Plattensammlung sowie Büchern und Zeitschriften, die sich in der ganzen Wohnung türmten. Und er entdeckte seinen Spaß an Reisen. Er stellte Personal ein und deckte halb Amsterdam mit seinen Teppichen zu. Doch weil all dieser Reichtum Leute anlockte, die etwas davon abhaben wollten, ließ er seine Wohnung nur ungern alleine, wenn er wieder einmal in die heißen Wüstenstaaten flog. Sein Neffe war ihm da sehr willkommen, um ein paar Tage auf seine Wohnung aufzupassen, und das Mitbringen von Freunden war kein Thema, wenn sich dadurch der Zustand der Wohnung nicht nennenswert veränderte.

      Während sich also ein großer Teil der rotäugigen Jugend Europas auf den stadtnahen Zeltplätzen tummelte, konnten Fred, Tom und Sven den Luxus einer