Markus Vieten

Freeland


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Art gewesen. Sven würde nicht mit Tom alleine in Urlaub gefahren, aber gerade diese Tour war ohne ihn undenkbar und nicht mal halb so spaßig.

      9 Sommer 1983

      Nach einigen Minuten auf dem Fahrrad waren sie wieder ganz schnell in der belebten Innenstadt. Nur mit einer Wäscheklammer auf der Nase und verbundenen Augen hätten sie eine Chance gehabt, eine Frittenbude zu übersehen. Fred bestellte sich rasch eine Portion Pommes mit Ketchup, Sven eine mit Mayonnaise und Tom eine „Fritten spezial“. Weder Fred und Sven hatten je davon gehört und waren mächtig gespannt auf das, was Tom mit kleiner Verspätung an den gemeinsamen Sitzplatz transportierte. Er hatte Ketchup und Mayonnaise! Und obendrauf klein gehackte, frische Zwiebeln.

      „Du schläfst heute im Gästezimmer“, sagte Sven. Fred musste beinahe würgen. Ketchup und Mayonnaise zusammen waren ein Unding! Das waren unvereinbare Pole wie Geha oder Pelikan, Bayern oder Gladbach, Popper oder Punk, Stones oder Beatles. Tom war total verzückt, während Fred sich noch nicht richtig traute hinzusehen. Sven hatte schon zugegriffen und fand es lecker.

      Dann fasste auch Fred sich ein Herz und versuchte seine erste Fritten spezial, die sein Leben für immer verändern sollte. Er war hingerissen und schon bald zogen alle ihre Fritten kreuz und quer durch die verschiedenen Soßen und Zwiebeln.

      Zufrieden und satt fuhren sie danach durch die milde Abendluft. Fred atmete tief ein. Dieser hauchzarte Duft nach asiatischen Gewürzen, diese leichte Andeutung von fischigem Wasser diese Ahnung von Tabak und Hasch … das war der Amsterdamgeruch, den Fred so liebte.

      Nachdem sie noch zweimal andere Jugendliche nach dem Weg gefragt hatten, standen sie plötzlich vor dem Melkweg.

      Es war in einer ganz kleinen Gasse versteckt, ein altes Fabrikgebäude. Der Zugang verlief über eine breite Stahlbrücke, die über einen Seitenarm einer Gracht führte, die auch dort endete. Nach allem, was sie wussten, konnte man hier nicht nur – wie auch zuhause – bei den richtigen Leuten auf der Straße Dope kaufen, sondern dort drinnen wie in einem Geschäft. Auf der Straße hatten sie bereits Gestalten gesehen, die dealten. Doch erst als sie über die kleine Brücke gingen, erkannten sie, dass es geschlossen war. Etwas ratlos standen sie vor dem Eingang und lasen die Ankündigungen für verschiedene Aufführungen und Konzerte. Herman Brood & His Wild Romance, Ian Dury und The Greatful Dead wurden angekündigt. Doch offenbar hatten sie den Ruhetag erwischt.

      „Na toll!“

      „So ein Scheiß!“

      „Ausgerechnet.“

      „Und wo bekommen wir jetzt was zu rauchen her?“, sprach Sven aus, was alle dachten.

      „Das kann ja wohl in Amsterdam nicht so schwer sein“, sagte Tom, „hier stehen sich doch überall die Dealer die Beine in den Bauch.“

      „Kees hat mich davor gewarnt, auf der Straße zu kaufen.“

      Langsam gingen sie wieder zu ihren Rädern. Plötzlich näherte sich ein zischendes Geräusch. Gleichzeitig blickten sie sich um. Vor ihnen stand eine halbwegs abgefuckte Gestalt, die mit geschürzten Lippen die Luft scharf einzog, was wohl soviel heißen sollte wie: „Ich hab was zu rauchen, darf das aber nicht so öffentlich zeigen. Wollt ihr was davon kaufen?“. Fred sah den Typen an und blickte zu Sven und Tom, um in ihren Gesichtern zu lesen, ob sie der Versuchung nachgeben sollten oder es besser vertagten.

      „Was soll schon sein“, sagte Sven, „ist auch nicht anders als zuhause.“

      „Also schön“, sagte Fred und nickte der ungepflegten Erscheinung zu, deren permanent konspirierende Körperhaltung offenbar schon zu einem kleinen Buckel mit hochgezogenen Schultern und einem seltsam eingezogenen Kopf geführt hatte.

      Sie gingen in einen dunklen Hauseingang. Warum eigentlich, fragte sich Fred, wenn man es im Melkweg doch wohl ganz offiziell würde erstehen können? Polizei war weit und breit nicht zu sehen. Trotzdem spielten sie das Spiel mit.

      „Wie viel?“, fragte die Gestalt.

      „Für 10“, sagte Fred. Das hielt das Risiko in Grenzen, wenn sie schlechtes Zeug kauften, und dann konnten sie am nächsten Tag noch mal richtig im Melkweg einkaufen.

      Sven reichte ihm einen 25-Gulden-Schein in den dunklen Eingang. Der Typ nestelte direkt vor seinem Gesicht wuselig in einem kleinen Beutelchen herum, aus dem Fred der angenehm süßliche Duft des gepressten Harzes entgegenströmte. Dann zog der Dealer ein kleines Stück heraus und mit einem Feuerzeug, das er blitzschnell wie ein Taschenspieler aus irgendeinem seiner offenbar zahllosen kleinen Verstecke seiner Jacken- und Hosentaschen zauberte, machte er eine Ecke des kleinen Stücks warm, um den aufsteigenden Rauch Fred unter die Nase zu halten. Damit wollte er die Qualität des Stücks Haschisch beweisen, was ihm in Freds Augen eindrucksvoll gelungen war. Er nickte knapp, und der Geldschein und das Piece wechselten die Besitzer.

      Der Typ huschte mit einer Heimlichkeit um die Ecke, als hätte er in Ostberlin Fred gerade gefälschte Ausreisepapiere zugesteckt. So stellten sie sich noch nicht einmal zuhause an. Vielleicht gehörte das zum Touristenprogramm oder… sie hatten irgendetwas überhaupt nicht verstanden.

      Jedenfalls waren sie froh, endlich Beute gemacht zu haben. Schnell war man sich einig, an diesem Abend zu müde für weitere Abenteuer zu sein und beschloss, in der Wohnung einen durchzuziehen. Voller Vorfreude schwangen sie sich wieder auf ihre Räder und düsten durch die Gässchen in ihr Domizil. Nur einmal mussten sie noch kurz anhalten, um sich zu orientieren, aber wenn man es einmal verstanden hatte, war das Zentrum der Stadt trotz der vielen Brückchen und Grachten eigentlich sehr einfach aufgebaut.

      Wieder zurück, machten sie es sich richtig bequem. Nachdem sie die Sessel und das Sofa ein wenig zurückgeschoben hatten, breitete Tom seinen Schlafsack als Decke über dem wohl unbezahlbaren Wohnzimmerteppich aus. Dann packten sie ihre Pfeifchen, Tabak und das erstandene Stück Haschisch aus und legten es alles auf die Mitte des Schlafsacks. Ihre Schuhe hatten sie ohnehin am Eingang ausgezogen. Es war offensichtlich, dass im Rest der Wohnung allenfalls Hausschuhe getragen wurden. Ein weiterer Beweis für die Spießigkeit, die mit dem Geld über seinen ehemals so coolen Onkel gekommen war. Aber sie wollten sich keinen Ärger einhandeln und schon gar nicht jetzt die bevorstehende himmlische Gemütlichkeit gefährden. Was die Rituale eines solchen Abends betraf , waren sie inzwischen ein eingespieltes Team. Und so war es auch kein Zufall, dass sie sich zeitgleich mit einem lang gezogenen „Soooo!“ niederließen, um darüber gleich darauf in einen nicht enden wollenden Lachkoller zu verfallen. Das konnte ja lustig werden. Dabei hatten sie noch nicht einen Zug gemacht…!

      Wenig später hatten sie ein paar Krümel in ihren Holzpfeifchen geraucht. Das Zeug entfaltete rasch die erwünschte Wirkung. Sie alberten herum, bekamen im Wechsel Lachanfälle und begannen tiefsinnige Diskussionen, deren Essenzen euphorisch im Reisetagebuch festgehalten wurden. Doch nach und nach forderten die vielen Kilometer auf dem Rad, die Eindrücke aus der großen Stadt und natürlich die THC-Moleküle an den Cannabinoid-Rezeptoren ihren Tribut und es machte sich eine behagliche Schwere breit.

      „Habt ihr euch eigentlich mal dieses Gerät angesehen?“, sagte Tom und wandte sich dem Fernseher zu, „Vielleicht könnten wir noch einen Film gucken. Fänd´ ich super jetzt!“

      Breite Zustimmung von Fred und Sven.

      Plötzlich raffte sich Sven auf und näherte sich dem Gerät derart getragen, als habe er gerade eine Madonnenerscheinung gehabt.

      „Habt ihr eigentlich eine Ahnung, was das für ein Gerät ist!?“, fragte, nein, rief er, wobei er nach jedem Wort eine viel sagende Pause einlegte. Dann zeigte er auf den Namen des Gerätes, der unten in dem mit dem silbergrauen Gerät verbundenen Gestell angebracht war. „Den dürfte es eigentlich noch gar nicht geben! Das ist ein Stereo-Fernseher! Der erste überhaupt! Ich hab erst vor ein paar Wochen davon gelesen!“ Sven war aus dem Häuschen. Die Droge verstärkte seine Begeisterung, aber seine Vorliebe für technische Neuerungen war kein Geheimnis. Er nahm das Gerät genauer in Augenschein, verfolgte die Kabel an der Rückseite, die zu einem kleinen Schrank daneben führten, in dem sich zwei Schubladen befanden. Als