Yvonne Bauer

Nr. 983


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Noch immer hatte Luise ihrer Enkelin nicht verraten, worum es eigentlich bei diesem Ausflug ging. »Hab etwas Geduld, meine Kleine. Lass uns noch ein Stück gehen.« Die alte Frau orientierte sich nach rechts und hielt auf ein Gebäude mit gläserner Front zu. Eine breite Treppe mit unzähligen Stufen führte dort hinauf. »Das ist ebenfalls neu. Dieser Bau hat zu meiner Zeit noch nicht hier gestanden. Aber das Haus ...« Sie deutete auf ein villenähnliches Bauwerk zur Linken der Fensterfront. »... und jenes ...« Sie zeigte auf eine weitere Villa zur Rechten. »... die hat es schon gegeben. Wie es scheint, hat man die beiden Villen durch diesen Anbau miteinander verbunden. Lass uns hinaufgehen.«

       »Meinst du nicht, wir sollten die Auffahrt hinauf laufen? Es sind sehr viele Stufen und du bist nicht mehr ...«

       »Vierzig? Sechzig? Achtzig?«

       Das Lachen ihrer Großmutter war ansteckend. Johanna warf den Kopf in den Nacken und kicherte. »Ich wollte eigentlich sagen: ... nicht mehr ... ganz so gut zu Fuß.« Fragend sah die junge Frau zu ihrer Oma herunter, die einen Kopf kleiner war, als sie selbst.

       »Wir laufen einfach langsam, dann schaffen wir schon die paar Stufen. Dort oben steht eine Bank. Da können wir uns ausruhen.« Luise stieg auf die erste Treppenstufe, sah sich kurz um, ob Johanna ihr folgte, und nahm eine weitere. Am Absatz vor dem Eingang zu dem Gebäude angekommen, setzten sich die beiden auf die Holzbank neben einem Blumencontainer. Die alte Dame heftete ihren Blick auf die Villa Linkerhand, an die sich nahtlos die Fensterfront des Neubaus anschloss.

       »Das Haus ... da hat alles angefangen. Ich bin deinem Großvater dort das erste Mal begegnet. Das ist nun schon ... lass mich nachdenken ... beinahe fünfundsiebzig Jahre her, eine halbe Ewigkeit ...«

       Am entrückten Blick ihrer Großmutter erkannte Johanna, dass diese ein gänzlich anderes Bild vor Augen haben musste, als sie selbst ...

       Teil 1

      Kapitel 1 - Pfafferode, 12. März 1941

       Mit bis zum Hals hinauf klopfendem Herzen lief Luise die Allee entlang. Ihr linkes Strumpfband hatte sich gelöst, sodass der daran fixierte Wollstrumpf das Bein hinunter rutschte und oberhalb des braunen Schnürschuhs Falten schlug. Ein klirrender Windhauch kroch an der nackten Haut ihres Oberschenkels unaufhaltsam nach oben.

       Es war sehr kalt für Mitte März. Der Winter krallte seine eisigen Klauen noch immer in das Erdreich der großzügig angelegten Parkanlage und hinderte die aufkeimende Natur daran, endlich zu erwachen.

       Die junge Frau zog den Mantel enger um ihren Körper und hielt, die Strumpfkatastrophe ignorierend, auf die Tür der Jugendstilvilla zu. Dort angekommen strich sie sich eine rote Locke hinter das Ohr. Die üppige Haarpracht sorgte, wie sie wusste, des Öfteren für neidvolle Blicke unter den Damen ihres Alters, die mit Brenneisen ihre Haare traktierten, und kaum vergleichbare Ergebnisse erzielten.

       Bevor sie eintrat, zog sie den verirrten Wollstrumpf wieder an Ort und Stelle. Während Luise sich fragte, ob sie Ernst wohl heute begegnen würde, griff sie mit ziegenlederbehandschuhter Hand nach der Türklinke. Seit sie am Tag nach Neujahr ihren Dienst in der Schreibstube des Klinikdirektors angetreten hatte und dem gutaussehenden Pfleger vor der Apotheke vor die Füße gestolpert war, führte ihr Herz wahre Freudentänze auf, wenn sie nur an ihn dachte. Mit seinem weißblonden Bürstenhaarschnitt, den breiten Wangenknochen und den blauen Augen war er der Inbegriff eines arischen Mannsbildes.

       Seit ihrer ersten Begegnung war sie Ernst immer wieder über den Weg gelaufen. Luise glaubte nicht an Zufall, schon gar nicht, seit Elsbeth, eines der Mädchen aus der Schreibstube, ihr erzählt hat, dass er neuerdings freiwillig Botengänge in die Apotheke unternahm und das exakt zu der Zeit, zu der die Frauen ihre Arbeit begannen.

       Elsbeths Verlobter versorgte sie mit derlei Informationen. Als Oberpfleger wusste er genau darüber Bescheid, was in den Häusern vorging, die ihm unterstanden. In den mehr als zwanzig Villen, die in der Parkanlage vor beinahe drei Jahrzehnten gebaut worden waren, wurden hunderte Geisteskranke behandelt, viele von ihnen schon seit Jahren.

       Luise schloss die Tür hinter sich und stieg die Treppen hinauf. Am Rand eines großen Krankensaals blieb sie stehen und blickte sich suchend um. Ihr Herzschlag setzte für einen Moment aus, als sie Ernst unter den Anwesenden entdeckte. Als er sich umdrehte, winkte sie ihm zu. Sogleich hielt er freudestrahlend auf sie zu. »Fräulein Luise, wie schön, sie zu sehen.«

       Die junge Frau genoss die anerkennenden Blicke ihres Gegenübers und bleckte ihre wohlgeformten Lippen mit der Zunge, bevor sie antwortete. »Ich bringe die Post.«

       »Aber das wäre doch nicht nötig gewesen.« Lächelnd nahm er die Umschläge entgegen.

       »Das oberste Kuvert ist mit einem Eilt-Aufdruck versehen.« Verlegen sah Luise auf ihre zitternde Hand, mit der sie nach wie vor die Schriftstücke hielt.

       Das Lächeln erstarb, als Ernst der jungen Frau die Post abnahm. Mit einem Blick auf den Absender ahnte er, was der Umschlag enthielt. Es war nicht das erste Mal, dass ein Brief aus der Berliner Tiergartenstraße eintraf. Dennoch zog sich ihm der Magen schmerzhaft zusammen, wenn er darüber nachdachte, welche Folgen der Inhalt des Schreibens nach sich zog.

       Irritiert verabschiedete sich Luise. Sie wusste nicht, was sie falsch gemacht hatte. In dem einen Moment wurde sie von dem Mann ihrer Träume mit einem Lächeln begrüßt, das jedes Frauenherz zum Schmelzen bringen konnte, und im nächsten war sein Blick völlig versteinert. Sie war schon drauf und dran, aus dem Krankensaal zu stürmen, als Ernst, der ihren inneren Aufruhr erkannt haben musste, nach ihrem Arm griff. »Fräulein Luise, bitte entschuldigen sie mein unhöfliches Verhalten!«

       »Ist schon ...«

       »Nein, ist es nicht!« Mit glühendem Blick sah er auf sie herunter. »Würden sie heute Nachmittag mit mir spazieren gehen?«

       Völlig aus der Fassung gebracht, klappte der jungen Frau die Kinnlade nach unten.

       Als sie nicht antwortete, unternahm Ernst einen erneuten Vorstoß. »Ich könnte sie nach der Arbeit abholen, wenn sie keine anderen Verpflichtungen haben?«

       Ein durchdringender Schrei erklang aus einer Ecke des Krankensaals. Mit einem Blick erfasste Ernst die Situation. Im Gehen wandte er sich noch einmal um. »Um vier?«

       »Einverstanden.« Luise sah dem Pfleger nach, der zu einem seiner Schützlinge eilte, um ihm zu helfen. Sie zwang sich, den Blick von ihm abzuwenden und murmelte zum Abschied ein »Sieg heil!«

       Wie verabredet wartete Ernst bereits am Treppenabsatz des Verwaltungsgebäudes auf sie. Ohne den Pflegerkittel, adrett gekleidet mit Hut und Mantel, sah er ganz verändert aus. Er zog genüsslich an seiner Zigarette, als Luise langsam die Stufen zu ihm hinabstieg. Sie beobachtete den jungen Mann, der lässig an einer Steinsäule lehnte.

       Als zwei weitere Mädchen aus dem Schreibdienst das Gebäude verließen und kichernd versuchten, auf sich aufmerksam zu machen, drehte sich Ernst um. Er hatte jedoch nur Augen für Luise, was sie mit einer gewissen Genugtuung registrierte.

       Hastig beugte sich der junge Mann nach vorn, um seine Zigarette auf der Treppenstufe vor sich auszudrücken, steckte den übriggebliebenen Stummel zurück in ein Etui, bevor er eiligen Schrittes auf die rothaarige Schönheit zueilte. »Fräulein Luise! Ich bin so froh, dass sie es einrichten konnten. Darf ich?«

       Luise legte ihre Hand auf den angebotenen Arm. »Vielen Dank, Herr Schramm. Wohin gehen wir?«

       »Nun, meine Teure, in Anbetracht der Tatsache denke ich, dass ich ihrer Familie meine Aufwartung mache.« Ernst schmunzelte, als er den Gesichtsausdruck Luises sah.

       Es dauerte einen Moment, bis sie die Sprache wiedergefunden hatte. »Was meinen sie ... in Anbetracht welcher Tatsache?«

       »Ich gedenke, sie zu heiraten, so bald als möglich.«

       »Heiraten? ... Sind sie von allen guten Geistern verlassen? Sie kennen mich doch gar nicht!«

       »Liebes Fräulein Luise, ich weiß alles, was ich wissen muss, um mir sicher zu