Yvonne Bauer

Nr. 983


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Tatsache, dass sie krank sind und meine Hilfe brauchen.«

       »Du hast Recht. Wer legt denn fest, welche Patienten in die anderen Anstalten verlegt werden?«

       »Erinnerst du dich an den Brief, den du mir vor vier Wochen gebracht hast?«

       Luise versuchte, ihre Erinnerungen zu sortieren. »Den aus Berlin, auf den du so ... eigenartig reagiert hast?«

       Ernst nickte. »Genau der. Darin war sorgfältig aufgelistet, welcher der Patienten für den morgigen Transport vorgesehen ist. Ich habe heute die wenigen Habseligkeit der Menschen gepackt, die morgen abgeholt werden.« Erneut wanderte sein Blick in die Ferne.

       Luise verstärkte den Druck ihrer Hand auf seiner. »Du darfst dich nicht so quälen! Du warst es doch nicht, der bestimmt hat, wer verlegt wird und wer nicht.«

       »Trotzdem fühle ich mich wie ein Erfüllungsgehilfe des Teufels.«

       Sie war sicher, dass es keine Worte gab, die ihn trösten konnten. »Glaubst du, dass ich aufhöre, dich zu lieben, weil du diese Arbeit tust?«

       »Ehrlich gesagt, war es das, was ich am meisten gefürchtet habe.«

       »Du tust, was du musst, wie jeder in diesen furchtbaren Zeiten. Dennoch kann ich deine Gewissensbisse verstehen. Es wird langsam dunkel, lass uns heimgehen. Mutter wartet gewiss schon mit dem Abendessen.« Luise erhob sich und griff nach dem Mantel, auf dem sie gelegen hatte, um ihn glatt zu streichen, bevor sie ihn Ernst reichte.

       »Lasst es euch schmecken!« Minna Seidenstücker füllte die Teller mit einer Schöpfkelle.

       »Es duftet köstlich.« Ernst wedelte den aufsteigenden Dampf in Richtung seiner Nase. »Ich liebe Graupensuppe.«

       Mit einem Lächeln nahm Luises Mutter das zur Kenntnis. »Heute konnte ich sogar etwas Rindfleisch hineintun. Zwei Stunden habe ich beim Fleischer angestanden. Ich habe die Fleischmarke eingelöst, die sie mir vorige Woche gegeben haben. Hier ist ein wenig Mostrich. Damit schmeckt die Suppe noch besser.« Sie stellte einen Bottich mit feinem Senf vor ihn hin.

       »Wollen sie mich nicht endlich duzen? Schließlich werde ich in drei Wochen ihre Tochter heiraten.« Ernst sah sie eindringlich an.

       »Sicher. Ich werde mich schon daran gewöhnen. Es ging nur alles so schrecklich schnell.« Unsicher tastete sie nach ihrem Haarknoten, um vermeintliche Strähnchen, die sich daraus hätten gelöst haben können, wieder hineinzuschieben.

       »Mama, hat Vati denn schon auf meinen Brief geantwortet?« Luises erwartungsvoller Blick wurde jedoch durch das Kopfschütteln ihrer Mutter enttäuscht.

       »Lass mal Kind, ich bin mir sicher, dass er nichts dagegen hätte, dass du so einen netten und fleißigen jungen Mann heiratest. Wahrscheinlich ist dein Brief irgendwo auf dem Weg zur Front verloren gegangen.«

       »Vielleicht schreibe ich ihm einfach noch einen. Ich wünsche mir so sehr, dass Papa an meinem Glück teilhaben kann, auch, wenn er nicht hier ist.« Gedankenverloren löffelte Luise ihre Suppe, als sie erneut Zeugin davon wurde, wie ihre Mutter ihre Neugier befriedigte.

       »Sagt mal, seid ihr eigentlich auf dem Amt gewesen?«

       »Letzte Woche. Die Dame im Rathaus war sehr zuvorkommend. Sie wird den Antrag bearbeiten, sobald sie unsere Deutschblütigkeit geprüft hat. Mein Ehetauglichkeitszeugnis vom Gesundheitsamt habe ich schon eingereicht.« Stirnrunzelnd sah Ernst zu seiner zukünftigen Schwiegermutter. »Es ist heutzutage nicht so einfach, eine Heiratsgenehmigung zu erhalten.«

       Sie nickte. »Das glaube ich gern. Nun, bei Luise wird das kaum ein Problem sein. Ihre Vorfahren sind seit mindestens acht Generationen alle hier in Mühlhausen geboren und deutschstämmig. Auch Erbkrankheiten sind in unserer Familie nie aufgetreten.«

       »Auch meine Ahnen sind arischen Blutes und körperlich sowie geistig gesund. Deswegen glaube ich, dass die Standesbeamtin keine Schwierigkeiten haben wird, uns den Antrag zu genehmigen.« Der Löffel klapperte auf dem Porzellan, als Ernst versuchte, selbst die letzten Graupen vom Teller zu schöpfen.

       Als Minna Seidenstücker das sah, bot sie ihm noch eine Kelle voll Suppe an.

       Kopfschüttelnd lehnte der Verlobte ihrer Tochter jedoch ab. »Es ist spät geworden. Morgen wird auf Arbeit ein anstrengender Tag.« Mit einem vielsagenden Seitenblick zu Luise erhob er sich. »Ich wünsche den Damen noch einen schönen Abend.«

       »Warte einen Moment! Ich bringe dich zur Tür.« Luise sprang auf.

       Verständnisvoll sah Frau Seidenstücker die beiden Verliebten an. »Macht nur, ich räume noch schnell den Tisch ab.« Lächelnd, aber auch ein wenig wehmütig, schickte sie sich an, die Teller aufeinanderzustapeln. In den letzten Wochen dachte sie, das Bild der unübersehbar ineinander vernarrten Kinder vor Augen, ständig daran, wie sie und ihr Mann sich kennengelernt hatten. In diesen Momenten fehlte ihr Friedrich so sehr, dass es sie beinahe körperlich schmerzte. Jeden Tag lief Minna zum Briefkasten, in der Hoffnung, endlich Nachricht von ihm zu erhalten. Die Enttäuschung war groß, wenn sie abermals ohne Post mit leeren Händen ins Haus zurückkehrte.

       Minna setze einen Flötenkessel auf den Herd, um heißes Wasser für den Abwasch zu kochen. Dann schaltete sie, wie jeden Abend, das Radio ein. Nach kurzem Rauschen ertönte die liebliche Stimme von Marika Rökk »So schön wie heut`, so müsst` es bleiben ...«, einem ihrer Lieblingsschlager. Mit jedem Takt der Musik besserte sich Minnas Stimmung. Während sie sich die Schürze umband, summte sie die Melodie vor sich hin. Sie zog das schwere Gestell mit den beiden großen Emailleschüsseln unter dem Tisch hervor und stapelte das schmutzige Geschirr in der einen, bevor sie das heiße Wasser aus dem Kessel darübergoss. Nach und nach verschwanden die sehnsuchtsvollen Gedanken. In ihrem Kopf war nur noch die Musik, sodass sie erschrak, als Luise in die Küche kam, nach dem Geschirrtuch griff und sich ans Abtrocknen machte. Die Suppenkelle glitt ihr aus der Hand und versank spritzend in dem heißen Aufwaschwasser. »Meine Güte, du hast mich erschreckt!«

       »Kein Wunder, die Musik ist so laut, dass du wahrscheinlich nicht einmal einen Elefanten durchs Haus hättest trampeln hören können.« Die junge Frau betrachtete ihre Mutter von der Seite. Sie sah müde aus. »Soll ich den Abwasch fertig machen und du ruhst dich ein wenig aus?«

       »Ach was, zu zweit geht es schneller. Was hältst du davon, noch einen Tee zu trinken, wenn wir nachher die Abendnachrichten hören?«

       »Gute Idee!« Während Willi Forst im Äther von der Liebe sang, rieb Luise einen Löffel trocken. Es war schön, wieder einmal einen unbeschwerten Abend zu genießen. Die Musik im Radio trug das ihre dazu bei. In letzter Zeit wurden kaum noch Lieder gespielt, vielmehr wurden immer häufiger Ansprachen des Führers und seiner Generäle verlesen und die Bevölkerung über die Erfolge der Wehrmacht informiert. Auf dem Leipziger Reichssender war fast ausschließlich das zentrale Reichsprogramm zu hören.

       Klappernd verschwand auch der letzte Löffel im Besteckkasten, als Minna die Schüssel mit dem Abwaschwasser nach draußen trug, um sie im Hinterhof in den Abguss zu schütten.

       Luise platzierte erneut den Pfeifkessel auf dem Herd und schüttete getrocknete Blätter ihrer Lieblingsteemischung in ein Teesieb, während sie auf die Rückkehr ihrer Mutter wartete. Sie wunderte sich, wofür sie so lange brauchte. Wahrscheinlich hatte sie die Gelegenheit genutzt und war noch kurz auf der Toilette verschwunden.

       Wenig später, als Luise gerade dabei war, die Teetassen auf den Tisch zu stellen, raschelte es an der Tür. Als sie sich umdrehte, sah die junge Frau, dass ihre Mutter Schwierigkeiten hatten, die Tür hinter sich zu schließen, weil sie in der einen Hand die große Emailleschüssel und in der anderen einen riesigen Kleidersack trug. Sie eilte Minna entgegen, um ihr die Schüssel abzunehmen. »Was hast du denn damit vor?« Fragend zeigte Luise auf die raschelnde Hülle.

       »Ich dachte, wir ändern mein Hochzeitskleid für dich ab.«

       Vor lauter Aufregung brachte Luise kein Wort hervor.

       »Oder wolltest du dir Eines nähen lassen? Ich dachte, die Zeit wäre zu knapp dafür.«

       Die junge Frau schüttelte den Kopf und schluckte ihre Tränen herunter, bevor sie antwortete. »Dein Kleid ist wunderschön. Ich würde es wirklich