Yvonne Bauer

Nr. 983


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ließ sich von ihr mitziehen.

       »Ich öffne die Haustür. Lauft schon, ich komme gleich!«

       Die beiden polterten die Kellertreppe hinunter und warteten darauf, dass Luises Mutter zu ihnen stieß und vielleicht noch einige Passanten von der Straße, die sich nicht schnell genug in ihren eigenen Häusern in Sicherheit bringen konnten.

       Zu dritt saßen sie in den Kellerräumen zwischen den wenig verbliebenen Kohlen und Kartoffeln und warteten auf das erlösende Signal, das ihnen anzeigte, dass die Gefahr des Fliegeralarms vorüber war.

       Luises Mutter war auch im schummrigen Licht des Kerzenstummels nicht entgangen, dass die beiden sich nach wie vor bei den Händen hielten. »So, nun mal heraus mit der Sprache! Was geht hier vor?«

       Ernst sah Luise in stummen Einverständnis in die Augen. Er schluckte kurz und räusperte sich, sodass sein Adamsapfel zu tanzen schien, bevor er auf die Frage antwortete. »Ich möchte sie um die Erlaubnis bitten, ihre Tochter heiraten zu dürfen, Frau Seidenstücker. Freilich hätte ich das gern unter anderen Umständen ...«

       Luises Mutter erhob sich. Sie stemmte die Hände in die Hüften und baute sich vor den beiden auf. Ihre Gesichtszüge waren an Strenge kaum zu überbieten, der Mund zu einer schmalen Linie zusammengepresst. »Bist du schwanger?«

       Nun war es Luise, die sich wutschnaubend erhob und sich vor ihre Mutter postierte. »Wofür hältst du mich? Für ein leichtes Mädchen?«

       Zornig funkelten die beiden Frauen sich an. Verblüfft über diese Tatsache überlegte Ernst, ob er dazwischengehen und den Streit schlichten sollte, hielt es jedoch für vernünftiger, sich nicht einzumischen. Er staunte über die Facette an Luise, die er noch nicht hatte kennenlernen dürfen. Sie hatte auf ihn so schüchtern gewirkt. Umso mehr überraschte und fesselte ihn diese bisher unentdeckte Seite an ihr. Die Luft knisterte förmlich, als die Sirene das Ende des Fliegeralarms signalisierte und die zum Zerreißen gespannte Atmosphäre auflockerte.

       »Sollten wir nicht nach oben gehen und dort alles Weitere besprechen? Ich bin mir sicher, dass wir dieses ... Missverständnis schnell aufklären können.« Ernst sah erst zu Luise, dann mit bittendem Blick zu deren Mutter.

       »In Ordnung. Ich hoffe, ihr habt eine gute Erklärung parat.« Sie wandte sich um und stapfte die Kellertreppe hinauf, zurück in die Küche, wo der frisch aufgebrühte Kaffee in der Zwischenzeit kalt geworden war.

      Kapitel 2 - Mühlhausen, 8. April 1941

       »Was ist denn heute mit dir los? Du bist so schweigsam.« Besorgt versuchte Luise, das Verhalten ihres Verlobten zu deuten. In den vier Wochen seit seinem Antrag war er stets humorvoll und unterhaltsam gewesen. Dass ihn irgendetwas beschäftigte, war unübersehbar.

       »Es hat mit der Arbeit zu tun. Ich möchte dich aber nicht damit belasten.« Ernst sah sie nur kurz an und dann gleich wieder in die Ferne. Eine steile Falte zerfurchte seine Stirn oberhalb der Nasenwurzel.

       »Heißt es nicht, in guten wie in schlechten Zeiten? Wenn wir erst verheiratet sind, werden wir uns doch auch alles anvertrauen.«

       Der junge Mann schnaubte. Seine Miene wechselte von Selbstironie über Ärger zu ... ja, was war das für ein Ausdruck? Luise meinte Furcht in den Gesichtszügen zu erkennen. »Komm, setzen wir uns und reden!« Sie führte ihn zu einer Bank in der kleinen Parkanlage am Pfortenteich, wo sie täglich nach der Arbeit spazieren gingen, bevor Ernst sie heimbrachte.

       Erfreulicherweise war nun endlich der Frühling eingekehrt. Nur noch wenige schmutzige Schneeflecken in schattigen Ecken zeugten davon, dass der Winter gerade erst vorüber war.

       Auch nachdem sie sich hingesetzt hatten, schwieg Ernst weiterhin. Er schien nach Worten zu suchen.

       Allmählich beängstigte Luise die Situation. »Es wird doch kaum so schlimm sein, dass du mir nicht sagen kannst, was dich bedrückt?« Für einen Moment hatte sie das Gefühl, dass ihr Herzschlag aussetzte, um kurz darauf in solch einem rasenden Tempo weiterzuschlagen, dass ihr schwindlig wurde.

       Luise griff sich mit zitternden Händen an den Hals, der wie ausgedörrt zu sein schien.

       Endlich löste sich Ernst aus seiner Starre. »Luise, was ist? Geht es dir nicht gut? Du bist ja ganz blass!« Er sprang auf, ging vor ihr in die Hocke und sah zu ihr auf. »Luise, du machst mir Angst! Leg dich hin, bevor du mir noch umkippst!« Hastig schälte sich Ernst aus dem Mantel und legte ihn ausgebreitet auf die Bank.

       Nachdem sie sich hingelegt hatte, kehrte Farbe in ihre Lippen und Wangen zurück, was ihn ein wenig beruhigte. »Geht es dir jetzt besser?«

       Luise nickte peinlich berührt und wollte sich wieder aufrichten, als Ernst sie daran hinderte. »Bleib lieber noch einen Moment liegen!«

       Sie zog die Beine heran und rutschte weiter in Richtung ihrer Füße, sodass er neben ihrem Kopf genügend Platz fand, um sich zu setzen.

       Für einen Augenblick überlegte er, wo er anfangen sollte, damit sie auch verstand, was in ihm vorging, kam jedoch zu dem Ergebnis, dass wohl niemand sich in ihn hineinversetzen konnte, selbst Luise nicht. Seufzend begann er zu erzählen. »Nach dem Tod meines Vaters war es an mir, mich um Großmutter zu kümmern. Es lag in meiner Verantwortung, dass es ihr an nichts fehlt. Ich war nun der Mann im Haus und froh über die Anstellung als Pfleger in Pfafferode. Es gibt genügend Männer meines Alters, die entweder in einer der Rüstungsfabriken in der Stadt schuften oder an der Front, um für Volk und Vaterland kämpfen.« Er zögerte einen Moment, bevor er weiterredete. »Ich lehne jede Form der Gewalt ab. Ich würde niemals eine Waffe gegen einen Menschen richten, geschweige denn, ihn damit töten. Das tue ich aus tiefster Überzeugung. Umso schlimmer ist es für mich, dass ich indirekt dabei helfe, Menschen in den Tod zu schicken.«

       Hastig richtete sich Luise auf. Erneut wurde ihr für einen Moment schwindlig. Ihre Besorgnis über das, was Ernst ihr zu erzählen versuchte, überwog jedoch, sodass sie das Schwindelgefühl ignorierte und nach seiner Hand griff. Sie hätte ihm gern tausend Fragen gestellt, ahnte aber, dass sie ihn nicht unterbrechen durfte.

       »Morgen ist es wieder soweit. Gleich in der Frühe wird ein Bus vor dem Haus halten, in dem ich arbeite, und neunundzwanzig meiner Patienten abholen. Zusammen mit weiteren vierzehn aus anderen Abteilungen werden sie nach Altscherbitz gebracht.« Ernst holte tief Luft, bevor er weitersprach. »Von da aus werden sie weiterverlegt ... nach Bernburg, um dort getötet zu werden. Das ist, soweit mir bekannt ist, nun schon der sechste Transport dieser Art und ich weiß nicht, wie ich das mit meinem Gewissen ausmachen soll. Im Grunde mache ich mich doch genauso schuldig, als würde ich sie selbst töten.« Aufgebracht raufte er sich die Haare, sodass sie wild in alle Himmelsrichtungen von seinem Kopf abstanden. »Aber ich brauche diese Arbeit. Was soll ich denn sonst tun? Wie soll ich mich weiter um meine Oma kümmern und um dich, wenn ich kein Geld verdiene?«

       Luise schwieg. Sie hatte schon von den schlimmen Dingen gehört, die in Pfafferode zugingen, sie jedoch als ein Gerücht abgetan. Nun erfuhr sie aus erster Quelle, dass all das Gerede hinter vorgehaltener Hand wahr war.

       »Ich habe schon überlegt, Gustav um die Versetzung in eine andere Abteilung zu bitten, weiß aber, dass er die Betriebszelle der Nationalsozialisten in Pfafferode leitet. Ich fürchte, er würde meinen Wunsch als Widerstand gegen die Politik des Hauses und somit gegen die Partei und unseren Führer verstehen. Du weißt, was mit den Leuten passiert, die nicht die Linie halten?«

       Nickend sah Luise in seine Augen. Sie konnte all die Qualen, die er durchlitt, darin ablesen. Aber er hatte Recht. Wie sollte er sich dagegen wehren? Die Tatsache, dass Ernst mit Gustav befreundet war, durfte ihn nicht in Sicherheit wiegen. »Warum hast du mir nicht schon eher davon erzählt?«

       »Ich hatte Angst, dass du dann nichts von mir wissen willst. Ehrlich gesagt fürchte ich mich auch jetzt davor, dass du die Hochzeit absagst.«

       Sein flehender Blick erreichte ohne Umwege ihr Herz. »Wie könnte ich? Du tust deine Pflicht. Du sorgst dich um deine Familie.«

       »Aber es sind kranke Menschen, die unter meiner Obhut stehen. Sie haben auch Familien ...«

       »Ja, Verwandte,