Yvonne Bauer

Nr. 983


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beinahe gestürzt sind, war es um mich geschehen. Sie sind sprichwörtlich in mein Leben gestolpert und haben es auf den Kopf gestellt. Jeden Morgen nach dem Aufwachen gilt mein erster Gedanke ihnen, abends vor dem Schlafen der letzte. Wollen sie wenigstens über den Antrag nachdenken?« Mit flehendem Blick sah Ernst in unergründliche grüne Augen und verlor sich darin.

       Luise verstärkte den Griff um seinen Arm und lächelte zaghaft. »Vielleicht bringst du mich nach Hause, damit ich dir meine Mutter vorstellen kann. Vater ist an der Front. Wir warten jeden Tag auf Nachricht von ihm.«

       Ernst drehte sich zu ihr um, griff nach ihren Schultern und strahlte förmlich. »Du? ... Heißt das, du sagst ja?«

       »Ja, ... Ja!!!« Noch ehe Luise die Tragweite ihrer Worte begreifen konnte, wurde sie von starken Armen umschlungen. Sie juchzte vor Freude, als Ernst sie emporhob und sich mit ihr einmal um die eigene Achse drehte.

       »Du machst mich zum glücklichsten Mann der Welt!« Vorsichtig stellte er seine Braut wieder auf ihre Füße.

       »Vielleicht erzählst du mir auf dem Weg nach Hause etwas von dir? Dass du Pfleger bist, weiß ich ja bereits. Wie alt bist du? Wo wurdest du geboren? Hast du Geschwister?«

       Erneut hob Ernst den Ellenbogen, damit Luise sich unterhaken konnte. »Nun, wenn du mir sagst, wo du wohnst, beantworte ich dir auf dem Weg dorthin alle deine Fragen.«

       »In der Schaffentorstraße ...«

       »Nehmen wir die Straßenbahn?«

       »Wir können bis zum Blobach fahren und den restlichen Weg laufen.«

       »Einverstanden.« Er zog eine Uhr aus der Tasche. »Es ist gleich halb fünf. Wenn wir uns beeilen, schaffen wir die nächste Bahn.«

       Gemeinsam schlenderten sie in Richtung Haltestelle, als die vollbesetzte Bahn vor ihren Augen davonfuhr.

       »Dann also die Nächste ....« Seufzend griff Luise nach ihrem Schal. Sie zog ihn sich enger um den Hals. »Hoffentlich wird es bald wärmer. Ich kann diese furchtbare Kälte nicht mehr ertragen. Die Kohlen sind auch fast alle. Wir heizen nur noch jeden zweiten Abend.«

       »Ich weiß, was du meinst. Dieser verdammte Krieg verlangt uns allen einiges ab. Mein Vater ist im letzten Mai vor Sedan gefallen.«

       »Das tut mir leid. Und deine Mutter?«

       »Sie ist schon lange tot. Ich kann mich kaum mehr an sie erinnern. Meine Oma hat mich praktisch großgezogen. Sie ist eine tolle Frau.« Mit einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen fuhr er fort. »Ich bin überzeugt davon, dass du ihr gefallen wirst.«

       Das Läuten der Straßenbahnglocke unterbrach das Gespräch der beiden. Mit einem metallischen Quietschen und dem Zischen der Bremsen hielt der Linienwagen vor dem Paar. Aufsteigender Wasserdampf hüllte die Wartenden in einen feinen Nebel. Die Türen wurden aufgerissen und eine Menschentraube quetschte sich durch die schmalen Öffnungen nach draußen. Ernst und Luise schoben sich durch das Gedränge der Fahrgäste in den Wagen. Die Menschen standen so dicht beieinander, dass auch das Rucken beim Anfahren der Bahn niemanden zum Stürzen hätte bringen können.

       Die Fahrt verlief weitgehend schweigend, die Straßenbahn hielt hinter der Feldweiche, am Schwanenteich und an der Aue, wobei an jeder Haltestelle weitere Leute ein- und ausstiegen und das Geschubse ungeahnte Ausmaße annahm.

       Nachdem die beiden am Blobach den Linienwagen endlich verlassen konnten, wandten sie sich in Richtung Petristeinweg.

       »Hier wurde ich getauft.« Luise zeigte auf eine Kirche mit einem wunderschönen bunten Dach.

       Interessiert sah Ernst zu dem alten Gemäuer, bevor ein Lächeln sein Gesicht erhellte. »Sankt Petri. Ich kenne das Gotteshaus nur von außen. Was hältst du davon, wenn wir hier heiraten? Würde dir das gefallen?«

       »Findest du nicht, dass das alles viel zu schnell geht?«

       »Wenn mich die letzten Jahre eines gelehrt haben, dann, dass man keine Zeit verlieren sollte, wenn man sich einer Sache sicher ist. Im Moment diene ich unserem Volk und Vaterland, indem ich mich um die Kranken kümmere. Wer sagt mir denn, dass ich nicht morgen oder nächste Woche einberufen werde, um die tapferen Soldaten im Kampf an der Front zu unterstützen? Hör in dich hinein, Luise! Du musst es doch ebenso fühlen wie ich, dass wir beide füreinander bestimmt sind.« Die Heftigkeit seines Ausbruchs erschrak den jungen Mann selbst, sodass er einen Schritt zurücktrat, um die Frau seiner Träume nicht einzuschüchtern. Als er jedoch das Funkeln in ihren Augen und das Schmunzeln wahrnahm, fühlte er, dass alles gut werden würde.

       »Erzähl mir von deiner Arbeit! Wir haben noch ein Stück Weg vor uns.«

       »Mutter?« Luise steckte den Kopf durch die Tür zum Wohnzimmer. »Bist du hier?«

       Als keine Antwort kam, lief sie in Richtung Treppe. »Mutter?«

       Aus der oberen Etage tönte eine Frauenstimme. »Luise, bist du das?«

       »Ja, Mutter. Ich habe Besuch mitgebracht.«

       »Besuch? Mitten in der Woche?«

       Luise bedachte ihr Gegenüber mit einem entschuldigenden Lächeln und einem Schulterzucken, bevor sie antwortete. »Kannst du bitte herunterkommen? Ich würde dir gern jemanden vorstellen.«

       »Augenblick, geht doch schon mal in die Küche! Ich komme gleich.«

       Abrupt drehte sich Luise zu Ernst um. »Du hast es gehört. Gehen wir! Ich koche uns eine Kanne Kaffee.« Sie wandte sich einer beigebraun gestrichenen Holztür zu, die der Treppe genau gegenüber lag und trat vor ihm in den Raum, aus dem ihr behagliche Wärme entgegenschlug. Der Ofenherd war angefeuert, wie jeden Tag, wenn Luise nach Hause kam. Auf der dicken Eisenplatte stand ein Wasserkessel.

       »Wie es aussieht, hat meine Mutter bereits mit mir gerechnet. Wir trinken nach Feierabend immer zusammen Kaffee, allerdings keinen Bohnenkaffee. Den haben wir schon seit Monaten nicht mehr getrunken. Aber wir haben Zichorienkaffee.« Geschäftig schepperte Luise mit dem Geschirr. »Setz dich doch!« Sie deutete auf einen der Küchenstühle, die zu jeder Seite des quadratischen Holztisches in der Nähe des Fensters platziert waren und stellte, nachdem er sich hingesetzt hatte, eine Tasse vor ihn hin und zwei weitere daneben.

       Wenig später war das Klappern von Absätzen auf der Treppe zu hören, bevor die Tür zur Küche geöffnet wurde. Ernst sprang auf, als Luises Mutter den Raum betrat. »Guten Tag!«

       Überrascht sah sie von dem Besucher zu ihrer Tochter. »Mein Schatz, möchtest du uns nicht vorstellen?«

       Röte stieg der jungen Frau ins Gesicht. »Verzeih, Mutter! Das ist Herr Schramm.«

       »Ernst.« Er trat einen Schritt auf die adrett gekleidete Mittvierzigerin zu, die ihre kastanienbraunen Haare zu einem Knoten im Nacken zusammengebunden hatte und eine wenig ältere Ausgabe ihrer Tochter zu sein schien. »Es freut mich, sie kennenzulernen.«

       »Nun, die Freude ist ganz meinerseits. Wie ich sehe, hat Luise den Kaffeetisch bereits gedeckt. Wollen wir uns nicht setzen und sie erzählen mir, was sie zu uns führt?«

       »Mutter!«

       »Schon in Ordnung, Luise. Ich schätze es, wenn jemand unumwunden ausspricht, was er denkt.« Er zog einladend einen der Stühle zurück. »Der Kaffee duftet köstlich.«

       »Ich wünschte, dem wäre so. Wenigstens schmeckt er nicht einmal halb so schlecht, wie er riecht.« Lächelnd sah sie zu Luise, die ihr gegenüber kopfschüttelnd Platz genommen hatte. »Ich hoffe, dass dieser verdammte Krieg bald ein Ende findet, sei es nur, um wieder eine Tasse frischen Bohnenkaffee trinken zu können.«

       »Mutter!«

       »Lass nur, Luise, sie hat ja Recht. Freilich würden mir noch einige Dinge einfallen, die ich nicht mehr missen möchte.«

       »Sie sprechen mir aus der Seele, Herr Schramm.«

       »Ernst ... bitte!«

       Bevor sie etwas erwidern konnte, schwoll der ohrenbetäubende Lärm von Sirenen zu einem Crescendo an, wurde wieder leise, sodass das Läuten der Kirchenglocken von Sankt Petri zu hören war, nur um kurze Zeit später erneut jedes Geräusch zu übertönen.