i.A. - H.T.K.

Die Köchmüller-Papiere


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meiner bezahlten Tätigkeit nachgehe. So vergeht immerhin der Vormittag, bis, nach dem Mittagessen, meine wohl eingehegte Neugier über den Zaun springt, ich einige Kartons öffne und mir erste Einblicke verschaffe: Dem Zufall folgend fischte ich heraus: Bilder, die Gesichter akribisch unkenntlich gemacht, die Dokumenten-Mappe einer geschlossenen Anstalt, Urkunden über Shopping-Center-Schiebereien, sowie Berichtsschnipsel über den Einsatz von Tränengas in (s)einer Stadt, dazu ein Diktiergerät etc… Ein Großteil der Unterlagen befasst sich jedoch mit den Erkenntnissen während seiner familiären und beruflichen Entwicklung, mit seiner Anverwandtschaft, deren Familien-Konzern und reichlich krummen Finanzgeschäften. Abends liegt ein Riesenwust ausgebreitet vor mir, teils in Form von Ordnern, teils lose Papiere, teils geschwärzt, manche Angabe inhaltlich verschlüsselt, einiges nur grob schematisiert dargestellt. Und doch scheinen dem Absender manche Ereignisse und Aussagen wohl derart essentiell, dass sie sogar im Originalton nachvollziehbar sind. Dazu finde ich ein altes Diktaphon, nebst mehrerer Kassetten. ( Kapitel 4: „200 Minuten…“ )

      [Das Wortbild dieser Aufnahmen – seine Aussagen und Schlussfolgerungen – bildet für mich das Grundgerüst für die Ausarbeitung der Persönlichkeitsstruktur des Protagonisten]

       Diese und weitere detaillierte Inhalte – so lege ich später fest – werden von mir, so weit möglich, eins zu eins wiedergegeben. Natürlich nur in adäquaten, Quellenschutz gewährenden Modifikationen.

       Im Verlaufe meiner ersten summarischen Aktendurchsicht, komme ich zu dem Schluss, dass selbige von einer Person zusammengestellt wurden, die reichlich wohlsituiert lebt, jedoch ein weitgehend durchschnittlich-unauffälliger Mensch sein will. Sie wirkt und macht sich klein, in ihrer selbstgewählten, behaglichen Machtlosigkeit; und doch ist sie – unbewusst? – ein extrem störendes Sandkorn im Getriebe ihres direkten Umfelds. Und schließlich, – Wochen später – nach genauer Durchsicht der Unterlagen, scheint mir die Begründung der ausdrücklich gewünschten Anonymität des Protagonisten nachvollziehbar. Mir wird nämlich, mittels dieser Papiere, in nicht für möglich gehaltenem Umfang, ein Einblick gewährt, auf Durchstechereien, Egoismen, Kälte, Provinzialität, Raff- und Rachsucht, Sachzwänge. Kurz: Das kalte Räderwerk hinter einer krampfhaft aufrecht erhaltenen Fassade des, sich wichtig dünkenden, Geldes.

      Unter der Prämisse: „Maximale Annäherung an die dokumentierten Inhalte, bei bestmöglicher Maskierung der Betroffenen und deren Umfeld.“, beschreibe ich, die in den Aktenbergen feststellbaren Ereignisse, und das unter dem Vorsatz, statt einer fragmentierten Darstellung, eine weitgehend gebundene Erzählung zu erstellen. Eine Erzählung, deren Ereignisse dem Protagonisten, aus seiner passiv-subjektiven Frosch-Perspektive, nur mit einiger Verzögerung begreiflich werden. Sie widersprechen, diametral, seinem bisherigen, geordneten, beschaulichen, reichlich ignoranten – und bis dahin – offensichtlich privilegierten Leben. Veränderungen seines Lebens, so glaube ich zu erkennen, die ihm in einer derart grotesken Radikalität widerfahren, wie er sie, zuvor, für sich, als vollkommen undenkbar gehalten haben mag.

      Verfasst i. A. von „Heinrich T. Köchmüller“

      Maskierte Figuren oder abstrahierte Standpunkte?

      Wie sehr ist es einer Groteske - oder deren Verfasser - vorzuwerfen,

      dass der Inhalt nur rein fiktiver Natur sein soll?

      Wie sehr ist sperrige Einseitigkeit vorwerfbar,

      wenn die gegebene Datenlage nur diese hergibt?

      So lange manch ein Schützenverein, in verbissenem Stechschritt, paradiert

      und die todernsten Mienen der Uniformierten,

      und deren Kasernenhofton, beim Aufmarsch,

      als Parodie auf den Militarismus bezeichnet,

      solange darf ich das nun Folgende, als rein erdachte Satire bezeichnen…

       ( Quelle unbekannt )

      K1 - Fachmann a.D.

      Datum: Montag, 24. Januar.

      Wetter: Matschiger, nasskalter Winter-Schmuddel.

      Lage: Nördliches Stadtgebiet. Malocherviertel.

      Innerstädtische Nebenstraße. Schlaglöcher. Asphalt-Flicken.

      Hier: Der Abzweig zur buckeligen Sackgasse.

      Links und rechts des Abzweigs: Zwei reichlich übermannshohe, rußrote Ziegelmauern. Vielfach be- und überklebt. Blickschutz, gegen „...die `Einbahnstraße´ der Entbehrlichen...“ Die Gasse: Fast einen halben Kilometer lang, schmal, merklich abschüssig. Die Gasse hinab: Beiderseits 60er-Jahre-Flachdach-Wohnblocks, vier links, vier rechts. Jeder knapp 100 Meter lang, sechs Etagen, fünf Eingänge. Je Eingang zwölf Wohneinheiten. Rötlich-beigefarbene Fassade. Brüchiger Putz. Graffiti-Schmierereien. Unter den Fenstern: Dunkle Streifen aus Staub, Ruß und den Korrosions-Partikeln der metallenen Fensterbänke, das Ergebnis jahrzehntelanger Verwitterung. Zwischen Bröckel-Fassade und Kippel-Bürgersteig: Kaum fünf Meter schmale, räudige Grünstreifen, teils noch bedeckt mit schwarzen Schneefetzen. Zwischen den Bauten: Fleckige winterliche Grasflächen. Darauf überleben verrostete Teppichklopfstangen die nagenden Jahrzehnte, mitten im Matsch großer, kahlgetretener Stellen. In den hintersten Winkeln: Ein wenig Unrat. Nicht so viel, dass es - zur heimeligen Abendbrotzeit - für die Darstellung eines fernsehgerechten Slums ausreicht, aber es ist doch gerade genug, dass das Auge - welches nicht durch Betriebsblindheit abgestumpft - unwillkürlich daran hängen bleibt. Das Ende: Ein großflächiger, dicht zugeparkter Wendekreis. Um den Kreisel: Vier weitere „Karnickelställe“, strahlenförmige Anordnung. Äußerlich in Ausmaß, Machart und Zustand mit den anderen Gebäuden vergleichbar, jedoch als `Kleinwohnungs-Blocks´ ausgelegt, folglich sogar vierundzwanzig Klingelknöpfe pro Eingang. Diese maroden Gemäuer vervollständigen, das Ensemble des Niedergangs. Der Eindruck dieser „…Sackgasse der Gestrandeten…“, wie sie auch genannt wird, vermittelt ein bedrückendes Bild von Armut - auch über die Grenzen der Stadt hinaus. Weggemauerte Armut, die man zwar schamhaft, aber doch allzu offensichtlich, zu verbergen sucht.

      Hier unten, ganz unten, direkt an der runden Matsch-Parkfläche, im Block 6, stehen ihm etwas mehr als vierzig Quadratmeter zur Verfügung. Seine „Schlichtwohnung“ befindet sich im obersten Stockwerk dieses abrissbedürftigen Bimsquaders, ohne Balkone und ohne Aufzug. Wohnküche. Schlafzimmer. Minidiele. Winzigbad. Schimmelflecken. Die festverbaute Kompaktküche hat schon viele Vormieter erduldet. Sie offenbart weit mehr als ein Vierteljahrhundert auf dem abgegriffenen, ehemals weißen Furnier. Der Boden in der Diele und vor dieser Andeutung einer Küchenzeile: Schachbrettmuster, Plastikfliesen, hellgrau-schwarz. Kratzer und Abplatzungen offenbaren dem Betrachter die bald 50jährige Dienstzeit. In Wohn- und Schlafbereich, stets klebriger PVC-Boden, ebenfalls grau. Scheinbar im gleichen Jahrzehnt installiert, wie dieser Anflug von Küche. Das Bad ist, bis auf den Spiegelschrank, noch im verwohnten „Original-Badeofen“-Zustand der beginnenden 1960er. Der Rest: Spärliche Einrichtung, aus einem Gebrauchtmöbelladen. Hier haust er nun seit knapp zwei Kalenderleben. Ein so genannter „Gestattungsvertrag“ bildet die dürftige Rechtsbasis.

      Seine beiden Sprösslinge - nach der Scheidung, in ein nobles Internat verpflanzt - verbringen zumeist die Ferien in der Firmenvilla seiner Ex-Frau. Dort umfasst jedes einzelne Kinderzimmer nahezu die Größe seiner jetzigen Wohnung. Die Villa: Seine damalige ruhige Nische des Daseins. Ehedem sowohl von ihm entscheidend mitgestaltet, als Ruhepol und friedliche Wallstatt geplant, als auch nachher – ohne ihn – weiterhin als solche existent und wahrlich zu keiner Zeit geprägt, vom erbittert geführten, steten Kampf der Subalternen; deren Überlebenskampf um Alles und Jedes, jenseits dieser hohen, schützenden Hecke um den übergroßen Garten. Eine gesicherte und zufriedene Existenz, die er sich kaum noch vorstellen kann, nach den zurückliegenden zwei Jahren. Insgesamt sind diese, seine verflossenen Lebensumstände erheblich anders, wesentlich unbeschwerter als das aktuelle Dasein. Doch das ist Vergangenheit! In jenes untergegangene Leben gehört