i.A. - H.T.K.

Die Köchmüller-Papiere


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die Karten neu gemischt: Er war nun „Leistungsempfänger“. Nun lief die Uhr, für ihn deutlich hörbar, rückwärts. Noch ein Jahr bis die Zahlung des Amtes auslief. Eventuell etwas mehr, wenn er in irgendwelche „Weiterbildungsmaßnahmen“ gesteckt werden würde.

      Und so war es dann auch.

      Statt eines Termins für ein Gespräch mit seiner Vermittlerin, flatterte, als Nächstes, einer jener graublauen Recycling-Umschläge ins Haus: Vom 20.April, ein Montag, bis zum 4.Mai, ebenfalls ein Montag, wurde er zu einem, ihm bis dahin völlig unbekannten, Bildungsträger vorgeladen. Der Inhalt dieses 10 Tage-Lehrganges nannte sich höchst sportlich: „Motivations- und Bewerbungs-Training“. Köchmüller gestand sich ein, dass er sich sogar ein wenig auf diese Abwechslung freute.

      Montagmorgen, kurz vor acht. In positiver Grundstimmung stieg er aus der Straßenbahn. Es war ein typischer nass-kalter Apriltag. Routinemäßig war er in seiner bisher gewohnten Arbeitskleidung unterwegs: Übergangsjacke, dunkelblauer Anzug, weißes Oberhemd, Krawatte und frisch geputzte Lederschuhe, sowie ein Regenschirm. In seiner Aktentasche hatte er alle Unterlagen samt Termos-Kanne und den „…lebenswichtigen…“ Wurststullen. Er befand sich am nördlichen Rand des Stadt-Zentrums, einer merklich sanierungsbedürftigen Gegend, in der An- und Verkaufsläden, einschlägige Gemüsehändler mit halbblinden Fenstern und Hinterhof-KFZ-Bastelbuden den Grundton angaben. Ein Stadtteil, den er niemals mit einer privaten Bildungseinrichtung, im Sold der Arbeitsverwaltung, in Verbindung gebracht hätte. Kurz hinter der Haltestelle bog er ab, in eine enge Schlagloch und Teerflicken übersäte Einbahnstraße, mit beidseitiger, vierstöckiger Bebauung. Rund 150 Meter voraus ein Pulk rauchender Personen vor einer Eingangstür. Er erriet zu Recht, dass diese Menschenansammlung zur ihm vorgegebenen Adresse gehörte. Dort angekommen, faltete er seinen Schirm, wünschte einen „Guten Morgen“, fand aber keinerlei Beachtung. Heinrich bahnte sich den Weg zum aluminiumgefassten Drahtglaseinlass und betrat das dahinter befindliche Treppenhaus.

      „Hier muss mal gelüftet, gespachtelt und gestrichen werden“, dachte er, während sein Blick ins Hochparterre zur ersten Tür wanderte, darauf angebracht, ein eselsohriges DIN-A4-Blatt: „Anmeldung“.

      Köchmüller drückte sie auf und trat, an der Schmalseite, in den sich nun darbietenden schlauchartigen Raum. Im Normalfall hätte dieser fensterlose Bereich wohl als zu breit geratene Diele in einer Wohnung gedient. Zudem wurde der Schlauchraum auch noch durch einen geradezu grotesk langen Tresen geteilt und von einer brummenden Leuchtstoff-Lampe dürftig erhellt. Ungefähr ein Duzend Personen staute sich vor dem Neuankömmling. Diese dicht gedrängte, ungeduldige Warte-Schlange zog sich entlang, der gesamten Ausdehnung der Abtrennung. Auf der anderen Seite des Tresens, ganz hinten, am gegenüberliegenden Ende des Raumes, führte eine späterblondete Mitarbeiterin ihre, ans Monomanische reichende, Routine durch:

      „Name??? Vorname??? Straße??? Wohnort???“

      Am Kopf der Kolonne wurden die geforderten Daten genannt. Es dauerte, bis die richtige Listenzeile gefunden war. „Einladung!“ Das Anschreiben wurde übergeben. “Ausweis!“ Das Amts-Dokument wurde gesucht, gefunden und herübergereicht. Ein knapper, vergleichender Blick wanderte zwischen Passfoto und Originalgesicht. Dann wurde die ID-Karte zurückgegeben und in der Liste die abschließenden Häkchen gesetzt. Am Schluss der Prozedur wurde von ihr die tonlos-mechanisch ausgesprochene Aufforderung erteilt, sich von einem Papierstapel zwei zusammengeheftete Formulare zu nehmen und eine Etagen- und Raum-Nummer genannt. Es erfolgte noch der monotone Hinweis: „Abgabe der Blätter, komplett ausgefüllt, bis um zwölf Uhr, in diesen Kasten. - Der Nächste!“

      Heinrich suchte vorzeitig die verlangten Dokumente zusammen und erfuhr eine gute Viertelstunde später, dass sein Ziel „…zweite Etage, Raum 3…“ lag.

      Nach Zielerreichung konnte er feststellen, dass der Raum zwar klein, aber dafür mit sechs Tischreihen vollgepackt war. Von den dazugehörenden sechsunddreißig Stühlen, waren noch fünf frei – natürlich alle in der ersten Reihe. Dem hohen Kommunikationspegel entsprechend, waren vermutlich recht viele Teilnehmer bereits miteinander bekannt.

      Von irgendwo her schallte ein: „Oh, schaut mal! Der Herr Direktor ist auch auf der Suche!“ Gelächter aus der gleichen Ecke. Heinrich begriff, trotz des Stimmengewirrs, dass der Spott gegen ihn gerichtet war. „Na, setzen Sie sich mal erster Klasse, nach ganz vorne!“ Wieder Gelächter. Heinrich deutete ein Grinsen an: „Wer nicht kommt zur rechten Zeit...“ Er zog seine Jacke aus und blickte sich nach einem Garderobenhaken um. „Nee, nee Herr Direktor, ihre teure Jacke müssen Sie schon über die Lehne hängen, das ist beim Fußvolk so üblich.“ Erneutes Gelächter auf den hinteren Rängen. Heinrich ignorierte die Provokationen und setzte sich, auf der Tür-Seite, neben einen etwas älteren Herren. Dieser grinste ihn an: „Na, da ist aber wieder eine Stimmung auf den billigen Plätzen. Ich bin der Fritz und mach' das lächerliche Spiel zum neunten Mal mit.“ „Ja, guten Morgen. Ich bin der Heinrich und weiß echt nicht, was ich hier soll.“ „Aha, also das erste Mal bei dieser `wissenschaftlichen Veranstaltung´. Ist kein Problem, beim ersten Mal, da tut noch weh, was hier veranstaltet wird. Und das hier keiner weiß, warum er hier ist. Diese Denke herrscht spätestens am dritten Tag bei allen. Nicht mal die Vortänzer wissen `wie´ und `warum´, bei diesen so genannten Bewerbungs-, oder auch: Motivations-Trainings. Besser wären regelmäßige Frage- und gut qualifizierte Betreuungsstunden, aber darum geht es nicht. Wir sind – auf billigste Weise – 'raus aus der Statistik, die am 30. eines jeden Monats, in den Abendnachrichten, bejubelt wird. Und `am billigsten´ heißt, so ein Dozent bekommt kaum 30, ehr 25 Euro Stundenhonorar. Und ich gehe davon aus, dass Sie… – äh … – dass du ahnst, was ein guter, ein richtiger Dozent normal pro Tag bekommt.“

      Heinrich öffnete seine Ledertasche, entnahm ihr die quer aufliegende Isolierkanne, um an seine darunter befindlichen Schreibutensilien zu gelangen: „Wir hatten mal bei uns in der Filiale einen Anwalt für eine Auffrischungs-Veranstaltung. Hmm… – ach ja, `Vertragsrecht im Bankgewerbe´ nannte sich der Zirkus. Da waren aber alle Kollegen aus der Region zusammen gerufen worden, die sich für drei Tage die Zeit nehmen konnten. Und die Rechnung habe ich gesehen. Inklusive Hotel und Reisekosten, waren exakt 36.000 Euro fällig, für diesen Herrn Doktor… – für die drei Tage.“

      Sein Nachbar lachte dröhnend: „Von dem Geld veranstalten die Volltrottel vom Amt drei bis vier Kurse á zwei Wochen. Der Effekt tendiert gegen Null. Naja, die Dozenten sind selber kaum in der Lage, ihre Wissenslücken zu überspielen. Sind, nicht selten, kaum dem beruflichen Windelalter entwachsen.“

      Während Heinrich die ihm notwendig erscheinenden Gegenstände aus seiner Tasche nahm, kam ein kaum fünfundzwanzigjährig wirkender Jüngling herein und ließ seine Tasche auf den Dozenten-Tisch fallen. Nun musste auch Köchmüller unwillkürlich lachen. „Siehst du, was ich meine.“, spottete der Nachbar über das Knäblein. „Nee näh, das ist doch jetzt nicht wahr!“, murmelte Heinrich. „Guten Morgen!“, grüßte der Picklige, versuchte den nur gering abebbenden Geräuschpegel zu übertönen. „Wie ich sehe, sind noch vier Plätze leer. Na, wir haben ja auch erst Viertel vor neun und unten stehen noch ein paar in der Anmeldung. Wir beginnen also erst mal mit einer Zigarettenpause.“

      Auf dieses Stichwort hin, einem Startschuss gleich, begann Stühlegerücke, darin ging Heinrichs erstauntes Prusten unter. Sein Nachbar hatte sich erhoben, schlug ihm auf die Schulter: „Du sagtest gerade `Bank´. Also, hier gehen die Uhren anders. Nicht `Zeit ist Geld´, sondern `Anwesenheit´ ist das Maß der Dinge – und das bedeutet für die Statistikfälscher der Arbeitsverwaltung Ruhm und Pöstchen-Erhalt.“ Sprach's und schlenderte zigarettendrehend zur Tür. „Um neun Uhr wieder hier!“, rief das Büblein in das Geschiebe.

      „Entschuldigung!“ Heinrich erhob sich und hielt dem Dozenten ein Schreiben entgegen. Der Schlechtbezahlte kam auf ihn zu. „Ich habe hier eine Einladung zu einem Vorstellungsgespräch im tiefen Süden der Republik.“ Heinrich wurde auf Abwesenheits-Formulare an der Info hingewiesen. „…Aber warten Sie bis nach zehn Uhr, dann ist das Montags-Chaos endgültig vorbei.“

      Zwischen neun und elf Uhr