i.A. - H.T.K.

Die Köchmüller-Papiere


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der Endhaltestelle.

      Hier endete auch die Bebauung. Die Straße verlief, nach diesem Manövrierplatz, ganz schmal, in schnurgerader Verlängerung als geteerter Feldweg weiter. Nach einem guten halben Kilometer verschwand der Weg dann, in dem dort beginnenden Dickicht der Auwälder. Gefolgt von dem Wendemanöver des leeren Busses, wurde dessen Motor abgestellt. Pause! Für einen kurzen Augenblick herrschte Ruhe.

      In Heinrichs Ohren rauschte die Anspannung des Tages.

      Am Morgen wähnte er sich noch auf dem Weg zur millionsten Flugmeile. Und nun…? Es war mittlerweile kurz vor Einbruch der Dämmerung. Gegenüber, halb verdeckt von dem Omnibus, bot ein kleiner Kiosk, offenbar ein umgestricktes Gartenhäuschen, seine Waren feil. Heinrich bestellte eine hausgemachte Frikadelle, eine Cola und peppte diese „…ja, die Kleine bitte…“ mit dem Inhalt eines Weinbrandfläschchens auf. Als er die kleine Mahlzeit fast beendet hatte, dröhnte der Bus wieder los. Er blickte dem Gefährt unbeteiligt nach, warf das Kunststoffgeschirr in den Abfalleimer und spazierte, dem Landwirtschaftsweg folgend, in die andere Richtung. Er kannte diese Gegend genau, war er doch schon mehrfach mit dem Familienhund hier entlang spaziert. Nur, dass er diesmal keine Tennisbälle oder Gummiknochen werfen musste.

      Es war schon nach 20 Uhr, stockdunkel, als er endlich zu Hause ankam. Bereits durch die geschlossene Haustür konnte er das aufgeregte Bellen des Hundes hören. Seine Kinder kamen ihm aus dem Wohnzimmer entgegen. „Mensch Papi, wo warst du?“, rief die Große. „Das werd' ich euch gleich erzählen. Lasst mich nur erst mal herein kommen.“ Er hängte sowohl Ledertasche als auch Jacke an die Garderobe, und steuerte den Wohnraum an. „Wo ist denn eure Mutter?“ „Noch nicht da!“, meldete der Kleine, „Machst du uns was zum Essen?“ Heinrich fuhr herum: „Wieso? Habt ihr die letzten zwei Tage nichts bekommen? Ist der Kühlschrank leer?“ Er sah seine Tochter an. „Wir haben Pizza gemacht.“ Der Trupp ging in die Küche. Heinrich stellte eine Vermutung auf: „Ach ja. Pizza. Und das gestern und heute. Am besten morgens, mittags und abends. Und jetzt hängt euch der Mikrowellenmüll zum Halse raus.“ „Morgens hatten wir mit der Mutti gefrühstückt.“, verteidigte sich Michelle, „Und sonst, nach der Schule, geht Pizza am schnellsten.“ „Und heute Abend?“ „Brot ging nicht!“ Seine Tochter guckte angewidert. „Das war ganz trocken! Ich will Schnitzel!“, rief Michael dazwischen. „Ja, hart wie ein Stein.“ Michelle klopfte auf die Arbeitsplatte. „Schnitzel müssen wir erst auftauen. Das dauert zu lange.“, entschied der Vater und wandte sich an seinen Sohn, „Tja, dann lauf' mal runter, hol 'ne Flasche Milch aus dem Keller. Aber lass' sie bitte nicht fallen.“ Zur Tochter: „Du schneidest das olle Brot klein.“

      Eine gute halbe Stunde später stand ein dampfender Topf auf dem Korkuntersetzer, gefüllt mit Brotpudding sowie reichlich Rosinen, Apfelstückchen und den, vom lang zurückliegenden Weihnachtsfest, übrig gebliebenen, geraspelten Mandeln und Haselnüssen. Während Vater und Tochter in aller Eile, um den Topf herum den Tisch in der Küche deckten, versorgte der Sohn den Hund. Das Tier stand die ganze Zeit tapsig an der Küchentür. Es wusste, dass es diesen Raum nur auf Anweisung betreten durfte.

      Seit der Vierbeiner es geschafft hatte, noch als halber Welpe, einen Topf vom Herd zu reißen und sich daraufhin der heiße Inhalt über ihn ergoss, war ihm der Ort nicht mehr geheuer. Diese liebenswert-debile Retriever-Promenaden-Mischung. Vor etwa vier Jahren, von den Kindern, aus dem Tierheim „befreit“, und da er alles in seinem neuen Heim gründlich beschnupperte, von ihnen einstimmig „Schnuffi“ getauft. Kaum dass er drei Wochen im Hause war, passierte dieses Malheur mit dem Suppentopf an jenem Samstagmittag. Das Poltern des Gefäßes, der heiße Suppenrest auf dem Hunderücken, das Gejaule der Töle, dazu das Gekreische der Kinder. Heinrich hatte sich das jammervolle Bündel geschnappt, in die Spüle gestopft und mit kaltem Wasser abgespült. Elke stand derweil mit einem Geschirrtuch dabei, um das nasse Tier einzuwickeln. Er grabschte im Flur nach den Autoschlüsseln und zehn Minuten später stand die ganze zerzauste Familie, Heinrich in Pantoffeln, Michael gar barfuß in der Tier-Praxis. Der Veterinär war ein alter Bekannter des Schonhoff-Clans, hatte er doch regelmäßig Kontakt zu dem „…Viehzeugs…“ von Elkes Verwandtschaft; vorneweg, deren edle Pferde, aber auch Hunde von blaublütigem Wert. Nach wenigen Minuten der Begutachtung, kam für die Kinder die Entwarnung: „Na ja, er hat sich verbrüht, aber nicht wirklich schlimm. Das Allermeiste hat wohl das dichte Fell abgehalten. Das solltet ihr übrigens mindestens zweimal die Woche gut durchbürsten.“ Der Doc zwinkerte den Erwachsenen zu, führte, bei dieser Gelegenheit, den bereits vereinbarten Impf-Termin durch: „So, jetzt kriegt der noch ein paar kleine Spritze gegen Aua und ihr“, er wandte sich erneut an die Kinder, „massiert einmal täglich diese ganz besondere weiße Salbe vorsichtig auf seinen Rücken. Bis das Tübchen leer ist. Nächste Woche ist das vergessen.“

      Dem war Offensichtlich nicht so. Zumindest für den Hund. Auch dieser Tage hielt er noch stets maximalen Abstand zwischen sich und dem Herd. So trottete Schnuffi, an diesem Abend, wie immer seit dem Unfall, hinter dem Esstisch entlang zu seinem Napf. Heinrich schaute abwechselnd auf seine Kinder und den Hund. Er ging mit sich eine Wette ein, wer wohl schneller sein Futter herunter geschlungen haben würde.

      Gegen Ende der Mahlzeit klapperte ein Schlüsselbund an der Haustür. Die Frau des Hauses erschien auf der Bildfläche. Elke zeigte sich ausgesprochen abgekämpft. Nach dem Unterricht, am Nachmittag, hatte sie sich wieder ihrer Parteiarbeit zugewandt. Wie sie berichtete, war das neue Betreiber-Konzept für das Stadtbad in Arbeit. Sie und ihre Kollegen erarbeiteten eine Perspektive für den Verkauf des Bades an einen Investor. „Möchtest du noch einen Teller von dem Brotpudding?“, unterbrach Heinrich den Redefluss. „Nein, um die Zeit esse ich nichts mehr. Seit zwei Jahren nichts, nach 18 Uhr. Das weißt du doch.“ Die Kinder kicherten: „Die Linie, die schlanke Linie...!“ „So ist es. Ab einem bestimmten Alter muss man auf die Ernährung achten. Zumal die Kameras immer zehn, fünfzehn Pfund hinzuzaubern. Aber, das sage ich ja nicht das erste Mal.“ Heinrich bot den Kindern den Rest im Topf an, sie verneinten. Demonstrativ füllte er sich den Teller: „Och ja, mir schmeckt's. Und ich mache ja gleich noch eine Runde mit dem Hund. Ja, und wenn ihr beiden fertig seid, könnt ihr abzischen.“ Lucky Lukes Schatten wäre stolz auf die Geschwindigkeit der Kinder gewesen. Ab mit ihnen, zu ihrem „Elektronik-Schrott“ im Dachgeschoss.

      „Nun“, begann Heinrich, „dann will ich dir mal ein paar schlechte Nachrichten verkünden.“ „Wie? Klappt das mit deinem Job jetzt doch nicht?“ „Wenn's nur das wäre. Die haben mein Handy beschlagnahmt.“ „Wer, `Die´? Dein neuer Boss? Das darf der gar nicht!“ Heinrich holte seine Ledertasche von der Garderobe. Wieder am Küchentisch, schob er das Geschirr beiseite, breitete die Kopien seiner Unterlagen, samt der hinzugekommenen Polizeiformularen, aus, sah seine Frau an: „Es gibt überhaupt keinen Chef!“ Mit der Sachlichkeit eines Bankbeamten berichtete er nun von den vergangenen 48 Stunden, ohne abschließend die katastrophalen, finanziellen Folgen zu verschweigen. „Und die wollen jetzt 50.000 Euronen von uns, weil du dich von denen hast übertölpeln lassen?“ „So sieht es vorläufig aus. Das können auch 5- oder 10.000 mehr sein, je nach Ausstattung. Ich hatte nämlich das zweifelhafte Privileg, der absolut erste Mieter dieses Wagens gewesen zu sein. Da waren gerade 50 Kilometer auf der Uhr, als ich losfuhr. Das Ding war flamm neu, roch noch nach Fabrik.“ Für einen kurzen Moment blickte er schwärmerisch zur Decke, zuckte aber sofort wieder in die teure Realität. „Ich soll mir schnellstens einen Anwalt nehmen, haben die Beamten angeraten.“ Elke sprang auf: „Also, die ermitteln auch noch gegen dich? Und dann die Knipserei, während Du ins Polizei-Auto steigst. Das kann ich jetzt überhaupt nicht gebrauchen, dass deine Dummheit als Autoschieberei in der Presse landet!“ „Nein. So, wie es im Moment aussieht, ermitteln die in alle Richtungen. Ich brauch' den Anwalt, wegen der Autovermietung und deren Versicherung!“ „Ja, glaubst du, dass die Boulevard-Schmierer da einen Unterschied machen?“ „Ich weiß nicht, was du immer mit der Presse hast. Es ist doch keine Meldung, wenn irgendwo ein Auto gestohlen wurde.“ „Es ist eine Meldung, wenn der Name Köchmüller durch einen Bindestrich mit dem Namen Schonhoff verbunden ist! Wo lebst du eigentlich? Die Kampfpresse unserer Gegner wird das mit Genuss aufnehmen. Jetzt, wo das Krankenhaus