Ulf Imwiehe

Gut Nass


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mich heute noch angesichts seiner stummen tiefen Verletztheit. Genau das war die Scheiße, unter der er sein Leben lang in der Schule zu leiden gehabt hatte, und ich tunkte ihn kopfüber in einen ganzen Kübel davon. Noch dazu in einem neuen Lebensabschnitt, einer Umgebung, die ihm Schutzraum bieten sollte und die Möglichkeit zu lernen und zu wachsen, den Mist von früher hinter sich zu lassen und neu oder zumindest mehr zu werden. Seitdem versuche ich alles, um Viktors Vertrauen zurückzugewinnen und ihn, wo immer es geht, zu schützen, vor gedankenlosen Arschlöchern wie mir. Dieser Urschmerz. Ich kenne ihn doch selbst, glaube ich, so ähnlich. Obwohl, nee...

      »Moin, Flex«, sagt Viktor leise in Holm-Rüdiger Andersens Richtung.

      »Herr Andersen«, mache ich auf jovial. »Darf ich ihnen unseren Auszubildenden vorstellen? Herr von Avenhoff.«

      Viktor erwidert Holm-Rüdiger Andersens munteren Gruß mit einem Zwischending aus Kopfnicken und Zusammenzucken und fummelt hilflos an der Gardenadüse seines Schlauches herum. Viehisch schmatzend saugt der Abfluss den letzten Rest Schmutzwassers aus dem Becken, eine Schaumkrone tanzt darauf von bräunlichen, früh verstorbenen Kiefernnadeln geziert.

      »Herr von Avenhoff...«, sage ich, trete näher an den Rand des Durchschreitebeckens und lege dem armenViktor meine ungeübte Chefhand auf die Schulter. Ich rutsche fast auf einer Seifenlache aus. Viktor stützt mich kraftvoll am Unterarm. Etwas Kaffee schwappt aus meinem Becher, tropft auf die Fliesen und vermengt sich mit Seife, Sand und Fettrückständen zu einem reigenden Bernsteinwirbel.

      »Herr von Avenhoff ist im dritten Lehrjahr«, fahre ich fort und lächle gönnerhaft in den unglücklichen Viktor hinein. »Kurz vor der Abschlussprüfung, also. Und, ganz ehrlich, eine echte Zierde des Berufsstandes. Genau solche Leute braucht man, um erfolgreich ein Schwimmbad zu betreiben und ich werde alles dafür tun, dass Herr von Avenhoff nach seiner Ausbildung übernommen wird.«

      Wenn es dann noch ein Schwimmbad in Schweigen gibt, das ihn übernehmen kann, füge ich in Gedanken hinzu. Holm-Rüdiger Andersen wechselt seinen Becher von einer Hand in die andere, trinkt einen knappen Schluck und mustert Viktor von oben bis unten.

      »Mensch, Herr von Avenhoff«, sagt er in bewunderndem Ton. »Sind Sie Turner? Geräteturner vielleicht?«

      Viktor schreit stumm um Hilfe. Ängstlich zerkaut er seine Unterlippe. Sein T-Shirt klebt ihm am Leib wie eine Plazenta.

      »Äh, nee«, näselt er. »Wieso?«

      »Na, weil Sie den Körperbau dafür haben«, weist Holm-Rüdiger Andersen mit seinem Kaffeebecher grob in Viktors Richtung. »Vor allem obenherum. Trizeps, Bizeps, Schultern und Brust. Mein lieber Scholli!«

      Er nimmt einen nachdenklichen Schluck und tritt mit schiefem Kopf einen halben Schritt zurück.

      »Obwohl, wenn ich es recht bedenke, eigentlich sind Sie ja viel zu groß für einen Turner.«

      »Herr von Avenhoff ist Schwimmer«, helfe ich dem völlig verunsicherten Viktor aus der Beutestarre. »Leistungsschwimmer, von Kindesbeinen an. Was in diesem Beruf ja nun nicht wirklich das Schlechteste ist.«

      »Na klar!« schauspielert Holm-Rüdiger Andersen und schlägt sich vor die Stirn. »Schwimmer! Hätte ich mir auch denken können...« Er fixiert Viktor über den Rand seines Bechers hinweg.

      »Waldarbeit ist wohl nicht so Ihr Ding, was Herr von Avenhoff?«

      »Äh«, macht Viktor. »Äh, was?«

      »Na, wo Sie doch, ich sag mal, familiär vorbelastet sind. Ihr Onkel ist doch der Förster hier in Schweigen, oder?«

      Ein eisiger Blitz flammt durch mich. Tante Heidi, du alte Plaudertasche! Verdammt, jetzt reicht's aber!

      »Wald, Wasser, Luft, Schokolade«, versuche ich die Situation zu retten und knuffe Viktor sanft in die Rippen. »Ist doch am Ende alles Eins hier in Schweigen.«

      Was absurderes hätte mir jetzt wohl nicht einfallen können. Melodramatisch beschatte ich mich mit gewölbter Faust und orte übers Forstbad, die schaukelnden Wipfel wiegen sich ums blaue Wasserrauschen.

      »Wo ist denn eigentlich Saskia?«

      »Die, äh, die wollte die Zählerstände aufschreiben und dann Wasserprobe machen«, fleht Viktor uns förmlich an, ihn endlich in Ruhe zu lassen.

      »Na dann«, proste ich Holm-Rüdiger Andersen mit meinem Becher zu. Und wir glitschen durch Viktors Durchschreitebecken und schlappen am Nichtschwimmerbecken entlang Richtung Aufsichtsturm, dem Zentrum des Freibadteils. Unsere kleine Festung aus Holz, Glas und Gestein, massig thronend auf einem Betonsockel zwischen den drei großen Becken, ein veritables Haus mit Fensterfronten in alle Richtungen, umlaufendem, fast schon an eine Veranda erinnernden Bohlenbalkon zum raschen Wechseln der Aufsichtsposition, gekrönt von einem soliden Walmdach. Der Neid aller umliegenden Bäderbetriebe. Na ja, fast.

      Saskia steigt gerade die Treppe hinauf, in jeder Hand ein Reagenzglas. Sie wendet sich uns flüchtig zu und ruft: »Moin, Flex! Guten Morgen, Herr Andersen.«

      Dann lässt sie sich auf einen der beiden Drehstühle an der die gesamte Wand Richtung Schwimmer- und Sprungbecken einnehmende Arbeitsfläche fallen, trocknet die Reagenzgläser von außen mit einem grünen Papiertuch ab und stellt eine der Proben in die Messzelle des Photometers.

      »Aaah«, macht Holm-Rüdiger Andersen und dreht sich langsam im Kreis, das wäldlich umstellte Panorama bewundernd. »Hier oben wird also Sicherheit produziert. Man hat aber auch einen tollen Überblick von hier. Da kann man ja wirklich jedes Becken beaufsichtigen, ohne sich großartig bewegen zu müssen.«

      Die Anzahl der Köpfe im Schwimmerbecken hat deutlich abgenommen, während sich die Laberbader im Nichtschwimmer bald wieder in die Quere kommen werden, unter dem üblichen Territorialgekeife. Saskia schnaubt ein knappes Lachen, während sie eine DPD-Tablette in die erste Wasserprobe fallen lässt, die sich augenblicklich rötlich verfärbt. Sieht gut aus. Ihr Parfüm duftet nach Orangen. Oder Zitrone? Auf jeden Fall was Fruchtiges. Mit viel Vitamin C. Kann aber auch ihr Kaugummi sein.

      »Sie sind ja wohl hoffentlich keiner von denen, die glauben, dass wir nichts anderes machen, als hier oben herumzusitzen und in der Sonne zu brutzeln«, sagt sie, während sie die Reagenz für die erste Messung in das Messgerät einführt. Sie wirbelt auf dem Stuhl herum und streckt Holm-Rüdiger Andersen die Hand entgegen.

      »Saskia Lux«, stellt sie sich in einem Ton vor, als würde sie nach jemandem diesen Namens rufen. Ihre violetten Kunstkrallen schlingen sich um Holm-Rüdiger Andersens lange Finger. Die beiden sehen aus wie zwei Varianten der selben genetischen Idee. Die hochgewachsene, durchtrainierte, schwarzhaarige Saskia, immer lässig flirrend nervös, tief gebräunt und flächendeckend tätowiert, oder subkutan auf Konsens-Proll-Püppi gepimpt, wie Maike es mal gehässig ausdrückte, und die, obwohl sie die mit Abstand erfolgreichsten Anfängerschwimmkurse im Forstbad anleitet, keine Kinder mag. Obwohl ich ja der Meinung bin, dass sie, so wie jeder vernünftige Mensch, eigentlich eher die Eltern der kleinen Ungeheuer verabscheut. Dagegen der nahezu gleich große Holm-Rüdiger Andersen mit den edlen engen Locken, ganz hanseatische Sommerfrische und merkantile Performance. Laserhirn. Beide sehen sich ins Gesicht, taxieren einander regungslos, Statuen, die sich auf einen Boxkampf vorbereiten. Ich bemerke, dass beide exakt die gleiche Augenfarbe haben. Grau-grün wässert es kühl zwischen ihnen. Und ich dachte immer Saskia hätte braune Augen. Die Zeitschaltuhr des Messgerätes fiept ihr panisches Signal. Ich nehme einen letzten Schluck meines mittlerweile kalten Kaffees, stelle meinen Becher ab und beuge mich über das Digitaldisplay.

      »Ist doch ganz ordentlich, hier«, sage ich, während ich die zweite Tablette in das Messwasser gebe. »Sprungbecken, oder?«

      »Jetzt dödel mir da nicht zwischen rum, Flex!« schimpft Saskia, drängt mich resolut beiseite und greift sich das Betriebstagebuch. »Sonst muss ich die ganze Messung gleich nochmal machen.«

      Sie tippt auf den Tastschaltern des Photometers herum und das Gerät piepst erneut.

      »Was messen Sie denn da eigentlich, Frau Lux?« fragt Holm-Rüdiger Andersen. »Ob einer Pipi ins Becken gemacht hat?«

      Saskia