Martin Schlobies

Täubchen alla Boscaiola


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Stirn, doch geduldig, an.

      „Sie wollen also die Bedingungen erfahren, unter denen eine Wiederaufnahme des Erzabbaus gestattet werden könnte . . . “ Raphael nickte.

      „Das ist alles?“

      „Ja, das ist alles!“, sagte Raphael. Der Beamte ging an das Regal und entnahm ihm ein dickes, handgeschriebenes Buch, als er darin nicht das Passende fand, ging er zu seinem Schreibtisch, tippte etwas in seinen Computer, den Raphael noch gar nicht bemerkt hatte, so versteckt stand er zwischen den Stapeln von Ordnern und Mappen.

      „Nein, noch etwas!“, fiel es Raphael ein. Wer denn der Besitzer sei, und wer der letzte Betreiber der Erz-Grube gewesen sei? Der Beamte zögerte, tippte wieder etwas in den Computer, hob endlich den Kopf, sah Raphael ernst und bedenklich an, beinahe mitleidig, - als habe Raphael vor, einen Lindwurm aufzusuchen und zu besiegen,

      „Signor Gustavo Botello. - Haben Sie es sich denn gut überlegt?"

      „Signor Gustavo Botello?“ Das war doch der Name, den der Alte genannt hatte, an der Grube, Botello. - Es stimmte also!

      „Ja, Signor Botello. - Kennen Sie ihn denn nicht?“ So, als müsse ihn jeder kennen, diesen ominösen Signore.

      „Wieso um alles in der Welt sollte ich ihn kennen?“ Der Beamte zuckte mit den Schultern. Offenbar hielt er Raphael jetzt für verrückt.

      „Reden Sie mit dem Direttore!“ Er führte Raphael auf den Flur zurück, und zeigte mit der Hand auf eine große zweiflügelige Tür am Ende des langen Flurs, und wies auf eine der Bänke, die davor standen, „Warten Sie dort!“

      Doch Raphael hatte keine Lust, sich zu setzen, erging lieber langsam den Flur auf und ab. An den staubigen fleckigen Wänden hingen alte Schwarzweiß-Fotografien von riesigen Kränen, Fördertürmen, unterirdischen Bergwerks-Stollen und -Gängen, Fotografien von Arbeitern, die mit den Händen alte Industrieloren voller Erz schoben, oder die mit großen Hämmern etwas aus der Wand eines Stollens herausschlugen, schwitzend, verstaubt, mit kleinen entzündeten Augen, wie menschliche Maulwürfe.

      Ab und zu ging Raphael zu der zweiflügeligen Tür, klopfte daran, versuchte sie zu öffnen, doch sie war abgeschlossen. Endlich, beim dritten Versuch, waren Schritte zu hören. Ein Schlüssel drehte sich im Schloß. Die Tür wurde einen Spalt weit geöffnet. Der rundliche Kopf eines untersetzten Mannes erschien, der unfreundlich sagte: „Warten Sie!“, und wieder verschwand.

      So stand Raphael wieder im Flur und wartete. Ab und zu kamen Männer an ihm vorbei, Beamte offenbar, die aus irgendwelchen Zimmern kamen und in irgendwelchen anderen Zimmern wieder verschwanden, und dabei Stöße von Akten auf ihren Händen trugen, wie Opfergaben; ein bestimmter Typ war besonders häufig vertreten, schmächtig, mit einem verschlossenen, alten Puppengesicht, umgeben von einer Gloriole staubiger Wichtigkeit.

      Sie sahen sich alle so ähnlich, sie wirkten alle so mechanisch, wie ein eintöniges Ballett hölzerner Marionetten, das anzusehen Raphael durch irgendeinen Fluch nun verdammt war. - Oder wie bei einer modernen Theateraufführung, wo die Schauspieler wie irrsinnig gewordene Schachfiguren durcheinander laufen oder rennen, an Fäden gezogen, die ein ebenfalls irrsinnig gewordener Regisseur in der Hand hält, nach einem vergessenen, eintönigen Plan, den er selbst nicht mehr entwirren kann.

      Und die ganze Zeit lief Raphael den Korridor auf und ab, wie ein gefangener Leopard, dachte an die Erzgrube, an Castellina, die unerwartete Begegnung mit Pauline und natürlich an diese selbst. Wenn er an Pauline dachte, fielen ihm zuerst ihre lebhaften braunen Augen ein, - immer wieder ihre Augen, - diese Augen, die alles zu sehen schienen. - 'Sie ist wirklich ein Augentier,' dachte er, 'und immer ist etwas an ihr in Bewegung.' Dann wanderten seine Gedanken wieder zurück in diesen alten Palazzo, an die Doppeltür, hinter der der Direttore residierte wie der Fürst eines kleinen, fast unbekannten Reiches.

      Ab und zu klopfte er an die Tür zum Vorzimmer des Direttore. Eine Schlüssel drehte sich im Schloß, die Tür öffnete sich einen Spalt, ein Beamter erschien und herrschte ihn an: „Warten Sie!“

      Die Stunden vergingen, aus den Büros kamen in kleinen Gruppen die Beamten, mit ganz anderen Gesichtern jetzt, erleichtert, befreit, sie schwatzten miteinander, - so, als hätten sie gerade eine Kerkerstrafe abgesessen und seien nun begnadigt worden, - und strebten dem Ausgang zu, bis schließlich der Pförtner die Treppe hochkeuchte und Raphael entdeckte,

      „Was suchen Sie denn immer noch hier?“

      „Den Direttore!“, erwiderte Raphael.

      „Der Direttore,“, eröffnete ihm der Pförtner, „kommt immer nur mittags zwischen zwölf und ein Uhr, um Unterschriften zu leisten. Verlassen Sie endlich das Haus!“

      „Warum hat mir das niemand gesagt?“

      „Was gesagt? - Was sollte man Ihnen sagen?“

      „Daß der Direttore nur mittags kurz im Hause ist!“

      „Jeder weiß das! Verlassen Sie endlich das Haus, ich muß absperren! Beeilen Sie sich!“

      Wieder auf der Straße mußte Raphael seine Augen zusammenkneifen. Er hatte in diesem alten, verschlafenen Gemäuer das Licht vergesssen, das blendende Licht des Südens. Er sah auf die Uhr, es war bereits vier Uhr nachmittags. Was sollte er noch hier? In diesem Catania? Etwa das alte Stauferkastell Ursino besichtigen, diese riesige drohende Zwingburg? Dafür war es viel zu spät!

      10. Kapitel

      Pauline kam mit dem Bus aus Cefalú zurück, wo sie sich, um sich zu abzulenken, ein neues leichtes Sommerkleid hatte kaufen wollen. Doch es gab nichts, was ihr gefiel. Dafür wurde es einer der heißesten Tage dieses Spätsommers. Die gleißende Sonne hatte die Dächer und Straßen von Cefalú mit barbarischer Hitze überschwemmt.

      Auch hier oben stach das Sonnenlicht mit giftigen Nadeln. Antonio, der Hauswart, klopfte gerade auf das Barometer, als er Pauline vorbeilaufen sah. „Immer weiter steigend!“, verkündete er erfreut und so triumphierend, als hätte er selbst diese Temperaturen hervorgebracht, studierte dann sorgfältig, wie ein kompliziertes wissenschaftliches Instrument, das Thermometer, „Trentadue gradi! Die Hitzewelle ist da!“, rief er ihr nach, „Heiß! Zu heiß zum Malen.“

      Pauline flüchtete geschwitzt und verärgert an ihm vorbei in ihr Zimmer. Der Boiler im Bad knisterte, als sie das warme Wasser laufen ließ. Sie duschte danach kalt und bemerkte erst beim Abtrocknen, daß sie in ihrer Verwirrtheit das Badezimmerfenster offen gelassen hatte. Sie hörte, wie jemand pfiff, eine ihr inzwischen bekannte, stumpfsinnige Melodie aus sechs Tönen. Es war also Antonio, der vorbeiging. Er sah hinein zu ihr, lächelte erfreut. Ärgerlich hielt sie sich mit der Rechten ein Handtuch vor und schloß mit der Linken die Vorhänge.

      Im Spiegel sah sie all die Falten und Fältchen, dieses ihr von Jahr zu Jahr fremder werdende Gesicht, - dahinter tauchten sogar schon die Züge ihrer eigenen Mutter auf. „Du werde erst einmal ein schöner Mensch!“, sagte sie zu sich selbst, doch es half nichts.

      Sie wollte sich noch die Fingernägel lackieren; setzte sich dazu in ihrem Zimmer auf einen Stuhl vor dem Fenster, in einer stillen, fast feierlichen Resignation. Behutsam trug sie den Lack auf, so behutsam, als fürchtete sie, mit einer heftigen Bewegung etwas zu zerstören, - doch was?

      Aber diese Farbe! - Es war eine, die sie noch nie ausprobiert hatte, ein etwas grelles Erdbeerrot, war das nicht zu auffallend? - als sie, durch die dünnen Vorhänge hindurch, auf einmal Raphael vor ihrem Fenster vorbeilaufen sah. - Das versetzte ihr einen freudigen Schock. Sie sprang auf, die Hitze und Röte stiegen ihr in das Gesicht. - Im Auf- und Abgehen fächelte sie ihre Hände hin und her, um den Lack zu trocknen; in dieser seltsamen, etwas lächerlichen und gleichzeitig weihevollen Bewegung, als wäre sie eine Priesterin.

      Endlich war der Lack trocken. Pauline hielt es in dem schwülen Zimmer kaum noch aus! - Zur Begutachtung hielt sie ihre Finger gestreckt vor sich hin, um den neuen Nagellack zu begutachten und erschrak: Nein!, die Farbe war zu rot, zu grell! Sie verlieh ihren Händen etwas Wildes, als sei frisches Blut darauf getropft.