Martin Schlobies

Täubchen alla Boscaiola


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Raphael nicht in die Augen sehen, sah auf das Meer und bemerkte mit einem Teil ihrer Aufmerksamkeit, wie die Sonne ganz bleich und matt irgendwo unterging, ohne den Himmel zu verbrennen. Er hatte vielleicht, dachte sie, hinter seiner Maske des offenen, unkomplizierten Mannes, Jahre gebraucht, um zu dieser Ernsthaftigkeit in ein paar einfachen Worten zu gelangen.

      „Schau mich nicht so an!“, sagte sie, um nur irgendetwas zu sagen.

      „Ich weiß nicht, wie ich dich anschaue. - Ich bin traurig. - Ich kann mich selbst manchmal nicht anschauen und mag mich an manchen Tagen nicht einmal rasieren, - weil ich mich erschießen könnte, wenn ich mich im Spiegel erblicke, so traurig bin ich!“

      Er erzählte dann von Catania vom Castello Ursino, dieser mächtigen mittelalterlichen Burg; die riesigen Mauern fünf, sechs, sieben Stockwerke hoch . . . - Da fiel Pauline ein, mitten in seiner Erzählung, sie mußte das Deutschheft einer Schülerin, das sie unsinnigerweise mitgenommen hatte, um es zu korrigieren, nach den Ferien dem Mädchen zurückgeben. Bei diesem Gedanken lächelte sie blöde. Raphael bemerkte es und war einen Moment verunsichert, stockte beim Reden, mußte einen Schluck Wein trinken, dann fuhr er fort,

      „Etwas Verrücktes,“, sagte er, „sind diese Stauferburgen, es gibt sie überall in Süditalien und Sizilien. Wie riesige steinerne Spinnen lauern sie an den schönsten Plätzen und bedrohen und beherrschen das Land.

      Vor Jahren habe ich eine dieser Burgen besichtigt, eng und hochgebaute Mauern, düster und doch dem Lichte zugereckt. - Eine kleine Stadt, eine eigene Welt für sich sind diese Burgen, aber eine bedrückende. - Hinterher mußte ich mich tagelang von dem Besuch erholen. - Wie eine derartige Umgebung das Leben beeinflußt haben mußte, - wie alles in hohe steinerne Formen gepreßt war, - auch das Denken, auch die Umgangsformen, auch die Bewegungen, auch der Herzschlag, alles! - auch die Liebe!“

      Pauline hatte ein wenig gelangweilt zugehört und war gerade dabei, die Lichter der Boote auf dem inzwischen dunklen Meer zu zählen und blickte erschrocken hoch, aber sie mußte an ihm vorbeisehen, sie konnte Raphael jetzt nicht ansehen. - Und da erst begriff sie. Er hatte 'Liebe' gesagt!

      „Ja!“ ,wiederholte er, „Auch die Liebe. Denn auch diese Menschen damals haben natürlich geliebt.“

      Es schien, als sei irgendetwas Unfaßbares, Ungreifbares geschehen. Vielleicht war ein Wort zu früh gefallen, das magische Wort 'Liebe'. - Vielleicht aber handelte es sich gar nicht um Liebe zwischen ihnen?

       Pauline wurde plötzlich unruhig, „Wollen wir gehen?“, sagte sie. Er nickte, sie standen auf, standen noch eine Minute am Fenster und sahen hinaus in diese dunkle Weite des Meeres, die beim Schauen immer weiter wurde, immer endloser, wie ein endloses Verlangen und Sehnen.

       Ganz leise schüttelte Pauline den Kopf. Beide lösten sich gleichzeitig, wie in geheimer Verabredung, von diesem Blick auf das dunkel lockende Meer. Raphael zahlte im Vorbeigehen an der Kasse. Der Kellner bedankte sich höflich, hielt Pauline die Tür auf beim Gehen.

       Oben, im Bauernhof war sie dann doch enttäuscht, als er sie vor ihrer Tür einfach ablieferte, - wie sollte sie es sonst nennen? - ihr einen Kuß auf die Wange gab und sagte: „Ich bin müde; ich bin heute fast den ganzen Tag mit dem Auto gefahren. Jetzt muß ich ins Bett. Gute Nacht!"

      „Gute Nacht!“ Ruhig stieg er seine Treppe hinauf, zu seinem Schwalbennest. Die Treppe knarrte und endlich schloß er auch die Tür. Sie lauschte noch ein paar Sekunden in die Nacht, in die schwarze, abweisende Stille. Kein Vogel, nichts war zu hören, nur das ewige Gezirpe der Grillen, auf die sie wütend wurde.

       Mein Gott! Wie ungenutzt vergingen diese Nächte! Keine Seufzer, kein Liebesgeflüster!

      12. Kapitel

      Signor Botello war so früh wie immer aufgestanden, weil er endlich wieder seinen gewohnten Gang zur Erzgrube machen wollte, zusammen mit seinem Hund, doch hielt ihn ein dichter Nebel zuhause fest.

      Alle Viertelstunde lief er zum Fenster, doch der Nebel hing fest zwischen den Bergen, und man konnte nicht fünf Schritte weit sehen. Mißmutig las Signor Botello die Tageszeitung noch einmal durch, ärgerte sich - ebenfalls noch einmal - über die Unsinnigkeiten der Politik und die Instinktlosigkeit und das Ungeschick der Politiker, und beschloß, bei den nächsten Wahlen eine andere Partei zu wählen - doch welche? - Nach zwei Stunden hatte er sich müde geärgert, aber der Nebel war geblieben.

      Schließlich brummte er einen Gruß in Richtung der Küche, wo seine Frau schon angefangen hatte zu kochen, verließ das Haus, pfiff seinen Hund herbei und machte sich mit ihm auf den Weg.

      In der Nähe des Ortes, auf dem ehemaligen Militärweg neben dem Eichenwäldchen konnte Signor Botello die Umgebung wenigstens ungefähr erkennen, doch je näher er dem alten Schießplatz kam, desto undurchdringlicher wurde der weiße und graue Dunst, durch den er tappte. Schließlich konnte er nicht einmal den steinigen, mit kargen Grasbüscheln bewachsenen Weg vor sich sehen, sondern mußte sich jeden Schritt mit den Füßen ertasten.

      Er gelangte auch endlich an das verfallene Häuschen mit der Schleuder-Maschine, das Palottolaio, an das Tor in seinem eigenen Drahtzaun, das er aufschloß und stieg Schritt für Schritt die steile Anhöhe empor, zur großen Lichtung des eigentlichen Schießplatzes, der Hund immer vorneweg. Dort oben angelangt, war das Licht ein wenig heller, als neben dem Eichenwäldchen, aber sehen konnte Signor Botello auch hier wenig.

      Trotzdem tastete er sich weiter, langsam Fuß vor Fuß setzend, in den für die Augen undurchdringlichen Dunst hinein, immer Fuß vor Fuß, Schritt für Schritt, - das Bellen des Hundes, der im Nebel verschwunden war, hallte hohl und dumpf wie in einem riesigen Gewölbe, und während Signor Botello vorwärtstappte, direkt in den dichtesten Nebel hinein, sah er auf einmal soetwas wie einen Schatten, einige zwanzig Schritt vor ihm, der vor ihm zu gehen schien. Signor Botello ging etwas langsamer, der Schatten verdichtete sich zu einer Gestalt, der Hund begann freudig zu winseln, da wurde die Gestalt von einem Nebelschleier verschluckt und war verschwunden. -

      Einen Moment später lichtete sich der Dunst ein wenig, - und Signor Botello erkannte, daß es die Gestalt einer Frau oder eines Mädchens war. - Ja, die da vor ihm her ging, war ein Mädchen, - so groß wie seine Tochter! - Sollte Agustina hier allein im Nebel herumschleichen? Sollte sie vielleicht einen heimlichen Freund haben? - Auch der Gang der Gestalt vor ihm erschien jetzt ganz sicher Agustinas Gang zu sein. - Der Zorn packte Signor Botello und das heiße Blut stieg ihm in den Kopf. Er ergriff seinen Stock fester. Er würde sie schon lehren, was sie tun durfte und was nicht!

      Jetzt war das Mädchen nur noch einige Schritte entfernt. - Immer noch war nichts zu hören, denn der Nebel verschluckte jedes Geräusch, und so schwebte das Mädchen geisterhaft vor ihm her - einmal faßbarer werdend - dann wieder nur ein zerfließendes Schemen.

      Da blieb die Gestalt stehen, drehte sich um, blickte suchend durch die dunstigen Schleier.

      „Agustina!“, rief Signor Botello zornig, „Was hast du hier zu suchen!?“ Ein befreites weibliches Lachen erklang,

      „Ach, Sie sind es, Signor Botello! - Wie erleichtert bin ich, Sie hier zu treffen. - Wie unheimlich ist dieser Nebel. Ganz plötzlich wurde er so dicht, man sieht ja nicht die Hand vor Augen. - Sie gehen zu Ihrer Grube, nicht wahr?“, und da stand die Frau, zu der die Stimme gehörte, auch schon vor ihm.

      „Anna-Maria!“, rief Signor Botello erstaunt, „Was treiben Sie denn hier im Nebel?“ Der Hund kam jetzt angesprungen, umkreiste sie beide freudig und schon war er wieder fort.

      „Oh,“, sagte Anna-Maria lächelnd, „Es ist ein Wunder, daß wir uns nicht schon öfter begegnet sind. Dieser Weg ist mein täglicher Spaziergang.“

      „Und Sie gehen allein im Nebel spazieren? Wie mutig - und wie seltsam!“

      „Hier bin ich immer allein,", erwiderte Anna-Maria, „ - ab und zu treffe ich ein paar Schweine, - sonst geht hier niemand entlang. Und das liebe ich!“

      „Haben Sie keine Angst?“ Signor Botello hörte nicht auf, sich zu wundern.

      „Nein!