Martin Schlobies

Täubchen alla Boscaiola


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fort war, legte sie sich flach auf die kantigen Steine, lag knapp unter dem niedrigen Himmel, atmete mit dem Rücken etwas Festigkeit, auf diesem trügerischen, vom ständigen Wegrutschen bedrohten Steinhaufen, atmen, ja das ging noch!

      Dieser Wahnsinnige war nicht mit ihr in den Abgrund gefahren! Sie waren nicht abgestürzt! Der Haufen Steine war nicht mit ihr in die Tiefe gerast! Sie hatte noch einmal Glück gehabt. - Nie wieder! schwor sie.

      Endlich gelang es ihr, sich ein wenig aufzurichten, - unten in der Tiefe bis hoch zum Horizont stand das Meer, darauf trieben einzelne Schaumkronen wie Möwen, - oder Möwen wie Schaumkronen, was kam es darauf an? - Die Böen, die die Oberfläche des Meeres fegten und kräuselten, zogen und zerrten an ihr, - sie verlor sich in diesen in die Ferne jagenden Böen. - Wie gefährlich das an ihr zog! - Und da kamen auch schon die Piratenschiffe, diese Korsaren, - sie würden sie natürlich finden, alle Verfolger fanden sie immer! - Sie mußte sich noch einmal zurücklegen, die schmerzenden spitzen Steine trösteten sie, so rieb sie ihren Rücken hin und her und hoffte auf kleine blutenden Wunden, einen kleinen Aderlaß, doch vergeblich! - nur ihre Bluse war in Gefahr.

      Als sie die Augen zum Himmel hob und sah, wie die Wolken darin eine rosige Fleischfarbe annahmen, sich in Fetzen auflösten und zerstreuten, da mußte sie an den Kindesmord zu Bethlehem denken; - und wie sie so auf den scharfen Steinen lag, an einen gynäkologischen Stuhl; - ihre Abtreibung fiel ihr ein, zwei Jahre vor der Geburt ihres Kindes, - die also eingerahmt war von einer Abtreibung und einer Fehlgeburt zwei Jahre danach, - auch das hatte sie durchmachen müssen; wie fast jede erwachsene Frau ja ein totes Kind mit sich herumtrug, ein Kind noch im Werden, ohne Namen, ein kleines namenloses, noch unbenanntes Wesen. Mädchen waren es beide Male gewesen, sie hatte es wissen wollen, unbedingt, sie konnte nicht etwas ungeschlechtlichem Wesenlosen nachtrauern.

      Vielleicht war es aber nicht gut gewesen, daß der Arzt ihrem Drängen nachgegeben hatte. Denn sie hatte damals sogar überlegt, den kleinen zerstückten Embryo sich geben zu lassen, konserviert, in einem Gläschen, um ihn richtig zu begraben. - Diese Abtreibung, die ihre Ehe ganz langsam zerstört hatte, wie sie dachte, langsam ihre Liebe in einen schleichenden Verfall verwandelt hatte.

      Wie gut, daß Raphael, als Mann diese Seligkeiten einer Geburt und die Höllen einer Abtreibung oder Fehlgeburt, das alles, - nicht kannte, - oder kannte er es doch, wenigstens vom Hörensagen, von seiner Frau? - Denn verheiratet mußte er doch sein, das hatte sie sofort gemerkt.

      Jetzt spürte Pauline einen Hauch frischen Windes, der vom Meer hochstieg, wahrscheinlich war es der Schirocco. Raphael tauchte am Rand ihres Blickfeldes auf, verzerrt, riesig, wie eine Statue von der Osterinsel, doch lebendig, - jetzt trat er vor die Sonne, blendete die Sonne aus, - jetzt trug er in seinen Haaren einen Heiligenschein, wie dieses groteske Mosaik im Dom, unten, im Normannendom, alles war dort grotesk, weil sie es nicht mehr verstehen konnten, und endlich fiel es ihr wieder ein, wie die Stadt da unten hieß, Cefalú.

      In der Hand hielt Raphael einen Gesteinsbrocken, der silbrig schimmerte, - auch der aus den Wunden der Erde gerissen, in der anderen Hand eine weiße Rispe, - eine Totenblume hatte er ihr gepflückt, der Ahnungslose!

      Sie sah, daß er den Mund bewegte, doch die Töne blieben bei ihm, dort oben. Sie lag unten in ihrer Gruft aus Geröll, aus Erzbrocken, aus Steinen, spitz wie Rosendornen, und wartete im Rosenhaag, wartete nun schon tausend Jahre, - und warum küßte er sie nicht wach? Küßte sie nicht lebendig? Hatten die Männer in den letzten siebenhundert Jahren denn alle Umgangsformen vergessen?

      Er beugte sich jetzt über sie, - Nein, nein, nicht küssen!, - reichte ihr die Hand und zog sie hoch. Sie ließ sich gern helfen, mit einer vorsichtigen Langsamkeit stellte sie sich auf ihre eigenen Beine. Diese hielten noch stand, versagten ihr nicht den Dienst. - Mechanisch klopfte sie ihren Rock ab, kämpfte immer noch gegen die Übelkeit, gegen die Blendung aus dieser Sonne, die nun hinter seinem linken Ohr stand und es verkleinerte und verkrüppelte.

      Er redete und einzelne Worte gelangten jetzt bis in ihr Bewußtsein.

      „Zufrieden, so befriedigt - vielversprechend - sieh her!“

      „Asphodelos,“, sagte sie, und meinte die Blume, die er ihr jetzt überreichte, „Der Proserpina geweiht.“

      „Proserpina?“

      „Die Schutzgöttin der Totengräber.“

      „Und der Schatzgräber!“, ergänzte Raphael.

      Aus dem Wagen holte er seine Thermosflasche, bot sie ihr an, gehorsam trank sie einige Schlucke. Heißer Kaffee war darin, so heiß, daß sie sich die Zunge verbrannte. „Ich möchte mich noch etwas ausruhen hier. Geh nur. Du kannst mich ruhig allein lassen.“

      Raphael drang wieder auf dieser Felsen-Plattform vor, die, wie sie jetzt bemerkte, doch Spuren menschlichen Verkehrs trug, verrostete Blechdosen lagen verstreut herum, Nägel, Schrauben, der Stiel einer Hacke, leere Flaschen, verblichene, gelbe, fettige Papierbogen, hellere Zeitungsseiten anscheinend jüngeren Datums. - Alles Bewegliche und Leichte flatterte keck oder auch trostlos im Winde hin- und her, - rollte umher, aufblätternd, zuschlagend.

      Irgend jemand mußte doch hier leben, zumindest ein Hund, denn ein düsteres Bellen hallte vom Echo vervielfältigt wider; dann aber schien es ihr, als ob dieses Gebell aus den Eingeweiden des Berges käme, aus einem jener niedrigen, schwarzen und bogenartigen Schachtmünder, die an die Eingänge antiker Gräber erinnerten. Ein Hund war also dort drinnen und bewachte den verborgenen Schatz. Ein Höllenhund!

      Auf einmal beschlich Raphael das Gefühl, daß er beobachtet wurde. Er suchte mit den Augen die Umgebung ab, und entdeckte schließlich, daß er aus der Ferne von einer jungen Frau beobachtet wurde war; die ihn lange Zeit nicht aus den Augen ließ, und endlich aufstand und verschwand. Er entdeckte sie sogar noch einmal, während er fotografierte und maß; diesmal an einer anderen Stelle, hinter einer Pinie, an einen Felsen gelehnt, - aber wieder war sie so weit entfernt, daß er ihr Gesicht nicht erkennen konnte.

      Raphael war etwas verwundert über diese Beobachtung, doch er maß ihr keine weitere Bedeutung zu und ging wieder zu Pauline,

      „Ist dir nicht besser?“

      „Doch!“, sagte Pauline, „Viel besser. Es war nur eine Kleinigkeit. Kein Grund zur Besorgnis.“ Hoffentlich hatte er nicht gemerkt, wie schlecht es ihr wirklich gegangen war!

      „Na also!“, sagte er. - Gut!, sie ging also mit ihm. Da stand sogar ein Haus. Und Pauline mußte an den Witwer und an die Tochter, denken, von denen er gesprochen hatte, und als sie auf die Haustür blickte, war es ihr, als müßten sie dort sitzen, schwarz und traurig der Witwer, das Mädchen blaß vor Einsamkeit, mit dunklen, leuchtenden Augen, dahinter stehend der Sohn. Aber die Tür war verschlossen. Keine Menschenseele erschien.

      Vorsichtig gingen sie um das Haus herum und als sie hinter das Haus gelangten, sahen sie einen großen Fleischerhund an einem roten Rolladen angebunden, der vor einem der Schachteingänge heruntergelassen war. Der Hund erhob sich beim Näherkommen der beiden Fremden mit wutenbrannten Augen auf die Hinterbeine empor, und fing an zu bellen, daraufhin trat ein alter Mann aus dem Haus und besänftigte das Tier mit leisen Worten und Streicheln.

      „Sind Sie der Wächter der Grube?“, fragte Raphael. Anstatt einer Anwort machte der Alte eine zweideutige Gebärde mit der Hand. Was bedeutete das? Ja? - Nein? - Der Hund wedelte mit dem Schwanz und sah Raphael fest ins Gesicht, als ob er dessen Worte verstanden hätte. Raphael las ein Stück Schiefer auf und betrachtete es zerstreut, dann wandte er wieder seine Augen zum Wächter,

      „Ist außer Ihnen niemand da?“ Der Alte sah sie mißtrauisch an, er murmelte grollend etwas Unverständliches, endlich hob er den Kopf und bequemte sich zu sagen,

      „Man muß in die Ortschaft gehen, da hinten, und mit der Tochter des Besitzers reden.“ Da schien Raphael jedes weiteres Gespräch überflüssig, als aber der Alte sah, wie sie Anstalten machten, wegzugehen, hielt er ihn an,

      „Sie hätten die Absicht, wegen der Grube zu verhandeln? Aber wissen Sie auch, was die Besitzer verlangen?“

      „Das eben will ich gerade feststellen - und möchte