Jürgen H. Ruhr

Personen - Schutz


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betrat ich frisch geduscht die ‚Bibliothek‘. Dies war der zentrale Raum im Gebäude, ausgestattet mit mehreren Tischen und den dazugehörigen Stühlen. Neben zahlreichen Fachbüchern befanden sich an den Wänden kleine Schrankfächer, in denen jeder seine persönlichen Habseligkeiten verstauen konnte. Ebenso wie die Fächer in der Umkleide oder dem Schießstand ließen sie sich mit einer Codekarte öffnen. Jedes Mitglied im Krav Maga Sportstudio erhielt jeweils einen eigenen Spind in den Räumen. Ich fragte mich, was Bernd machen würde, wenn mehr Mitglieder als diese kleinen Fächer vorhanden waren.

      „Jonathan. Nach deinem Gesichtsausdruck zu schließen, trägst du schwerwiegende Gedanken mit dir herum. Worum geht‘s?“

      Bernd und Christine machten es sich an unserem ‚Stammplatz‘ derweil bequem. Außer uns befand sich niemand in der Bibliothek.

      „Ach, nichts Wichtiges.“ Ich machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ich habe mich nur gerade gefragt, was passiert, wenn du mehr Mitglieder als Schränke hast ...“

      Bernd lachte. „Ja, wahrlich. Das sind weltbewegende Gedanken.“ Er wies auf einen freien Stuhl am Tisch. „Die Sache ist aber ganz einfach: Es gibt nicht mehr Mitglieder als Schränke. Richtige Mitglieder - so wie Christine, Monika, Sam, du, und so weiter - bekommen natürlich entsprechende Schränke. Mitglieder, die hier mehr oder weniger nur trainieren, nutzen die Schränke, die frei zugänglich sind. Stell dir das so wie im Schwimmbad vor. Du musst eine Münze einwerfen.“

      „Ach.“ Das war mir noch gar nicht aufgefallen. „Naja, dann ...“

      Christine und Bernd lachten.

      „Ja, manchmal sind die kleinsten Dinge die kompliziertesten ... Aber lasst uns zum Thema kommen. Ich bin froh, dass ihr beide wieder hier seid, denn es kommt einiges an Arbeit auf uns zu. Nicht nur, dass uns ja dieses Jahr wieder einmal ein Wahlkampf ins Haus steht, auch von anderer Seite haben wir Anfragen in Bezug auf Personenschutz erhalten. Erinnert ihr euch noch daran, welchen Auftrag ich vergangenes Jahr hatte?“

      Ich musste überlegen. Dass es damals um Personenschutz ging, war klar; aber wen zu ...

      „Rihanna“, platzte es aus Christine hervor.

      Bernd nickte. „Ja, das war eine ziemlich anstrengende Sache. Wenn ihr‘s keinem weitersagt: die Dame kann ganz schön nervig sein. Aber offensichtlich haben wir unsere Aufgabe so gut erledigt, dass wir weiterempfohlen wurden. Es kommt also dieses Jahr nicht nur der Wahlkampf auf uns zu, zu dem wir auch schon einige Anfragen von Politikern bezüglich Personenschutz bekommen haben, sondern einige Musiker wollen sich ebenfalls dieses Jahr bei Konzerten von uns schützen lassen.“

      „Wow, super“, entfuhr es mir.

      „Dass du so reagieren würdest, dachte ich mir Jonathan. Und es ist auch genau der richtige Einsteigerjob, in dem ihr eure erste praktische Erfahrung sammeln könnt. Sam ist“, Bernd schaute auf die Uhr an der Wand, „jetzt dabei die ersten Verträge abzuschließen.“

      „Wann geht‘s los?“, fragte ich. Endlich ein richtiger Auftrag als Personenschützer. Ich konnte es kaum fassen.

      „Langsam, Jonathan, langsam. Ihr habt jetzt noch fast genau einen Monat Zeit, euch vorzubereiten. Sam wird euch für diesen ersten Auftrag die notwendigen Dinge beibringen.“

      „Aber wir haben doch gerade erst den Lehrg...“, wollte ich protestieren, jedoch unterbrach mich Bernd: „Jonathan. Langsam. Nach eurem Lehrgang in Rendsburg verfügt ihr zwar über allgemeine Grundlagen; ja auch die rechtlichen Seiten werdet ihr in- und auswendig kennen, trotzdem gibt es bei der ‚Betreuung‘ von Stars und Sternchen viele Besonderheiten zu beachten.“

      Christine nickte. „Das wurde im Seminar kurz angesprochen. Man meinte, unsere Erfahrungen kämen aber schon von alleine.“

      „Ja und nein. Meistens ist es nämlich leider zu spät, wenn ihr auf diese Art und Weise eure Erfahrungen macht. Ist der Star erst einmal sauer, dann gibt es auch keine Folgeaufträge mehr. Andererseits, wenn er zufrieden ist - nun, ihr seht es ja am Beispiel von Rihanna.“

      „Also, müssen wir auf der Hut sein, müssen den ‚Star‘ wie ein rohes Ei behandeln?“, fragte ich. Den Job stellte ich mir anders vor, als vorsichtig und diplomatisch auf alles und jedes achtzugeben was man sagte oder tat.

      „So ähnlich, Jonathan. Jeder Star, Musiker oder Musikgruppe hat so seine Eigenarten. Damit müsst ihr euch im Vorfeld vertraut machen. Denkt einmal an diverse Auftritte und Aktivitäten von sogenannten Stars in Hotels. Da wurden auch schon einmal ganze Zimmereinrichtungen in Kleinholz verwandelt. Diese ‚Stars‘ haben das Geld und bezahlen alles großzügig. Also wird solch ein Verhalten allgemein toleriert - solange es nicht allzu sehr über die Stränge schlägt.“

      „Uje, das hört sich aber nicht prickelnd an.“ Mein Bild vom Schutz eines Musikers mit Backstageparty und Musikgenuss wandelte sich schlagartig.

      „Keine Sorge, Jonathan. Für euch beide habe ich einen netten, kleinen Sänger. Genau die richtige Aufgabe für den Start. Er gilt als unproblematisch, also keine großen Extravaganzen. Auch kein außergewöhnliches Gefährdungspotenzial. Also alles recht harmlos.“ Nachdenklich blickte Bernd Christine an: „Und Frauen gegenüber soll er sich auch ganz manierlich verhalten. Also auch in dieser Hinsicht keine Sorge, Chrissi.“

      Christine winkte ab. „Da mache ich mir die wenigsten Gedanken drum. Um welchen großen Künstler handelt es sich denn?“

      „Winnibald Schlensbow, besser bekannt auch als Wim Schlensbow.“

      Wie aus einem Mund entfuhr es Chrissi und mir: „Wim Schlensbow? Oh nein, nicht ausgerechnet der!“

      Bernd konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Was habt ihr gegen den Mann?“

      Chrissi hatte sich noch nicht ganz gefasst: „Hast du jemals diese grottenschlechte Musik gehört? Dieses Gejammer“, und Chrissi stimmte einen jammernden, heulenden Singsang an: „Warum gibt es keine Fische mehr? Ich will mehr Fische mehr ...“

      Bernd lachte. Mir war so gar nicht zum Lachen zumute. Immer wenn solche Lieder im Radio kamen, drückte ich schleunigst den Ausschaltknopf.

      „Die Kids lieben es. Aber im Ernst: Natürlich können wir einen Auftrag nicht einfach ablehnen, nur weil uns der Auftraggeber nicht passt. Das machen wir nur, wenn die Person oder ihr Verhalten wirklich nicht mit unseren Vorstellungen von Moral und Anstand vereinbar sind. Und die Art der Musik ist nun einmal kein Grund für eine Absage. Aber noch eines ist wichtig: Dieser Wim Schlensbow gilt als unproblematisch, wie ich schon sagte, und für euch beide als Anfänger ist dies genau der richtige Auftrag. Musikgeschmack hin oder her!“

      „Wenigstens singt er zeitgemäße Lieder: Warum gibt es keine Fische mehr?“, sinnierte ich. „Na, das dürfte doch klar sein: wegen der Überfischung. Könnt ihr euch vorstellen, wie gerne ich einmal wieder eine Schillerlocke essen würde?“ Mir lief das Wasser im Mund zusammen.

      „Typisch Jonathan“, meinte Chrissi, „denkt wieder einmal nur ans Essen. Jedenfalls wirst du ja so genügend Gelegenheit erhalten, dir die schönen Reime dieses Sängerknaben aus nächster Nähe anzuhören.“

      Mir schauderte. Wie lange dauerte so ein Konzert? Zwei Stunden, drei Stunden? Und dann vielleicht noch eine Zugabe? Eine Frage schoss mir durch den Kopf: „Bekommen wir Ohrstöpsel?“

      Nach dieser Hiobsbotschaft ließ Bernd uns mit unseren Gedanken und Ängsten alleine. „Ich bekomme immer Ekelpickel von dieser Musik“, bemerkte ich scherzend zu Chrissi, die ernst nickte: „Ich verstehe nicht, was die Kinder und Jugendlichen daran finden.“ Langsam erhob sie sich von ihrem Stuhl. „Gut, ich mag auch Popmusik und es gibt ja eine Reihe von guten deutschen Liedern, aber ...“

      „Nenne mir nur ein einziges gutes deutsches Lied“, unterbrach ich sie, „der neueren Zeit. Ich meine nicht so Klassiker wie ‚Über den Wolken‘ oder so.“

      Christine überlegte nicht lange. „Kennst du ‚Gibt‘s das auch in groß‘ von Barbara Schöneberger?“ Ich schüttelte den Kopf.

      „Oder